Ein weiteres Mal nähert sich der jährliche Trauermarsch in Weimar. Wir haben uns entschlossen dieses Jahr einen anderen Weg zu gehen. Wir wollen mit einer entschlossenen Demonstration unseren Antagonismus gegen den Nazihaufen um Fischer vorantreiben und gleichzeitig eine eigene Kritik an den eingespielten Protestritualen Weimars üben und uns in einer gesellschaftlichen Analyse versuchen.
Ein Blick zurück auf die letzten Jahre.
In
den letzten Jahren wurde versucht, verschiedene Taktiken umzusetzen,
sie führten aber für Keine*n der Beteiligten zu einem
befriedigendem Ergebnis, denn die letzten Jahre verliefen ohne
nennenswerte Blockaden. Dies ist zum einem auf fehlende Struktur und
Vernetzung zurückzuführen. Zusätzlich schirmte die Polizei die
Route meist durch Hamburger Gitter und viele mobile Einheiten ab.
Auch Helikopter kamen dabei jedes Jahr zum Einsatz, was ein
unbeobachtetes Handeln erschwerte. Blockadeversuche wurden von vielen
Demoteilnehmer*innen von vornherein verworfen. Andernfalls kam es
durch die Cops zu massiven Eingriffen, so wurde unter anderem in
jedem Jahr massiv Pfefferspray eingesetzt.
…die Nazis
Aufgrund des Drangsalierens jeglichen
Gegenprotests konnte Michel Fischer in
„seiner Frontstadt“ Weimar sein Anliegen verstärkt
durchsetzen. Das äußerte sich in einer verstärkten Mobilisierung
durch Fischer, der schon im vorletzten Jahr mit einer größeren
Kampagne den Trauermarsch bewarb. Dazu gehörten unter anderem eine
Facebookseite und Flyer, die laut Eigenaussage deutschlandweit
verbreitet wurden. Doch auch die Forderungen seitens der Nazis nach
einer größeren Demoroute wurden lauter. Tatsächlich konnte Fischer
dieses Anliegen zwar erst in Zusammenhang einer Thügida-Demonstration
durchsetzen, erhielt hierbei aber auch eine Route im
Innenstadtbereich. Auch die Zunahme von Neo-Nazi-Nachwuchs aus Apolda
und Mellingen war beim letzten Trauermarsch zu beobachten. Darüber
hinaus wurde ihnen, mit den Thügida-Demonstrationen in Apolda, eine
Möglichkeit gegeben sich zu politisieren, ohne auf
gesellschaftlichen Widerstand zu stoßen. Bis zu 500 Teilnehmer*innen
folgten dem Aufruf von Jan Morgenroth, darunter unter anderem viele
Jugendliche. Doch auch regelmäßiges Auftreten der jungen Neo-Nazis
in der Weimarer Innenstadt häuften sich nach dem Naziaufmarsch.
Diese pöbelten immer wieder gegen People of Color oder griffen diese
gewaltsam an (TLZ-Artikel).
Deswegen bleibt es umso notwendiger alternative Perspektiven zu
schaffen und auf die Nazistrukturen in und um Weimar aufmerksam zu
machen.
…die Repression
Daneben ließen sich die Cops nicht
lumpen jeglichen antifaschistischen Gegenprotest mit Repressionen zu
überziehen, es wurden willkürlich Personen in Gewahrsam genommen,
so unter anderem geschehen am 26. März 2016, als hauptsächlich
junge Aktivist*innen für eine Stunde in Gewahrsam gehalten wurden
und einer Personenkontrolle unterzogen worden sind. Ein weiteres
Beispiel hierfür ist das Vorgehen der Polizei im Kontext einer
Spontandemonstration gegen den Thügida-Aufmarsch im Mai 2016.
Hierbei wird bewusst das Recht auf Demonstrationsfreiheit
eingeschränkt und mit Füßen getreten, Leute willkürlich mit
Anschuldigungen überzogen, frei nach dem Motto: „Es wird schon ein
Vorwurf durchkommen und die Person verurteilt werden.“ Die Polizei
versucht gezielt antifaschistisches Wirken einzuschränken
beziehungsweise sogar unmöglich zu machen. Im Gegenzug dazu können
die Nazis freimütig antisemitische Transparente durch die Kante
tragen oder sich, wie Thomas
H. vermummen ohne aktives Einschreiten erwarten zu müssen. Für
uns als Antifaschist*innen sind deshalb Solidarität und Vernetzung
eine notwendige Konsequenz. Es bleibt dennoch zu betonen, dass ein zentrales Problem in der
bürgerlichen Protestkultur das Agieren in einem
rechtsstaatlich-legitimierten Rahmen bleibt. Es ist notwendig sich
nicht auf ein „Wir sind friedlich, was seid ihr?“ einzulassen,
sondern darzulegen, dass gesellschaftskritisch argumentiert werden
muss und dabei vor allem die bürgerlich-kapitalistische
Gesellschaftsformation, mit der in ihr wohnenden strukturellen und
direkten Gewalt, wie zum Beispiel der Repression zu betrachten.
Kulturbürger*innen und Standortmarketing
Die Touristenstadt Weimar wird von Kulturbürger*innen, ansässigen Politiker*innen oder anderen Personen im Kontext der Imagepflege verstanden. Nazis sind in diesem Verständnis ein oberflächliches Problem, dass die Attraktivität Weimars als anständige Kulturstadt infrage stellt. Mit kritischer Betrachtung stehen dabei wirtschaftliche Interessen der Standortpolitik zunächst im Vordergrund. Wenn Nazis agieren, dann wird aus stadtpolitischer Perspektive vor allem der Raum im Stadtkern als wichtig betrachtet. Touristen sollen nicht die traurigen Bilder aus Weimar-West sehen, sondern sich im Nachhinein an Geschäfte und Goethes Wohnhaus erinnern. Der Tourismus ist im ersten Moment vor allem eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, die Weimar als kultiviert, sauber und sehenswert beschreibt. Ihr liegen aber zutiefst soziale Ausgrenzungs- und Desorientierungsmechanismen zugrunde. Sie zeigen sich offensichtlich an der Stadtplanung durch Stadtteiltrennung, wie zum Beispiel durch die effektive Nutzung vorhandener Bahnlinien zwischen Weimar-West und Nordvorstadt, aber auch unterschwellig an den Spannungslinien, wer, wie und in welchem Umfang an Kulturveranstaltungen teilnehmen kann. Dieser Kulturfrieden wirkt meistens wie das Schweben in einer eigenen Blase, die viele soziale Situationen ausblendet. Innerhalb des Kulturbürgertums kommt es deshalb immer wieder zu gegenseitigen Handlungsbestätigungen, die ein- und ausschließen sollen. Weimar liefert dafür ein nahezu 365-Tage-Programm. Darüber hinaus vollzieht sich ein Wandel in der Wahrnehmung sozialer Handlungen. Eine grundlegende Einstellung gegen Nazis wird dabei mit einbezogen. Diese verläuft aber nicht entlang gesellschaftskritischer Fragestellungen, sondern entlang eines Anständigkeitsverständnisses: „Flüchtlingsheime anzünden ist unanständig.“ Dabei kann dies als ein Abhängigkeitsverhältnis verstanden werden, bei dem sich das Kulturbürgertum über die Ablehnung zu Nazis definiert. Unabhängig der wiederholten Klischeeabstempelung des kahlrasierten Nazis sind auch die Handlungsmotive zutiefst kritikwürdig. Denn der Wunsch ist dahingehend ausgerichtet, dass Nazis einfach fünf Kilometer weiter weg handeln und dort können sie auch machen was sie wollen. Die kaum wahrgenommenen und marginalisierten Gegenproteste in Apolda sind hierfür das beste Beispiel.
Bürgerliche Haltungen sind darüber hinaus auch eng mit
realpolitischen Vorstellungen verknüpft. Diese sollen
Stadtentwicklung und kulturelle Einrichtungen stärken, weshalb dem
Wahlkampf aller Parteien in Weimar meistens eine kulturelle
Fokussierung innewohnte. Kulturpolitik in Weimar trennt immer
anständige Kultur und Unkultur, haben doch bürgerliche
Vorstellungen auch gewisse Handlungsdispositionen offen gelegt, die
sich konträr zu alternativen Lebensentwürfen verhalten. Arbeits-,
Lebens- und Partnerschaftsverhältnisse folgen dem bürgerlichen
Verständnis. Es handelt sich also um weit mehr als eine
in-sich-gekehrte Gesellschaftsformation, sondern um
Interaktionszusammenhänge, bei denen Lebensvorstellungen auch
offensiv nach außen getragen werden. Diese normorientierten
Handlungsweisen bürgerlicher Tendenzen vollziehen sich entlang eines
gesamtgesellschaftlichen Kontextes. Verhalten wird nicht nur anhand
rechtlicher Bestimmungen bewertet, sondern aus einer moralischen
Position, der ein stark-autoritäres Vorgehen zugrunde liegt.
Staatliche Legitimation und gesellschaftliche Reproduktion stellen
dabei einen sich gegenseitig verstärkenden Zusammenhang dar.
Bürgerliches Handeln ist somit weitestgehend eine staatliche
Wunschvorstellung, bei der Reproduktionsmechanismen Individuen stark
beeinflussen, da ein soziales Innen und Außen durch die bürgerliche
Gesellschaft definiert wird.
Die bürgerlich-kapitalistische
Gesellschaft ist aufgrund ihrer Ausgrenzungsmechanismen zu
kritisieren, aber auch für ihre viel zu oberflächliche Kritik an
Nazis, die kurzfristige, standortbezogene Lösungen sucht. In diesem
Zusammenhang ist eine starke, ausdifferenzierte Gesellschaftskritik
notwendig, die aufzeigt, dass Nazis in dieser Gesellschaft immer
präsent sein werden, solange Ausbeutungs-, Entfremdungs- und
Ausgrenzungsmechanismen bestehen. Nazis agieren genau dort, wo ihnen
die Handlungsmöglichkeiten gegeben sind. Die Passivität des
Bürgertums kann deshalb kaum eine Option im Handeln gegen Nazis
sein. Ihre Vorstellungen von Gewaltfreiheit und friedlichen Protest
verneinen meistens soziale Situationen. Deshalb ist eine
Orientierung an gesellschaftskritischen linksradikalen Forderungen
sinnvoll.
Dennoch kann die Kritik an den bestehenden bürgerlichen
Verhältnissen nicht an realpolitischen Forderungen stehenbleiben.
Sie sollte weniger auf zweckorientierte politische Konzepte setzen,
sondern vielmehr gesamtgesellschaftliche Prozesse, den Staatsapparat,
kapitalistische Verwertungslogik und zwischenmenschliche Beziehungen
in Frage stellen.
Organize!
Mittlerweile kritisieren wir die
gleichen Erscheinungsformen seit drei Jahren, mal mehr, mal weniger
ausdifferenziert vorgetragen. In diesem Jahr wollen wir unserer
Kritik eine Plattformen geben, mit der wir mehr Menschen erreichen
wollen. Wir wollen brechen mit dem Kult vom „bunten Weimar“,
wollen Probleme am „nur gegen Nazis“ sein benennen und unseren
eigenen Standpunkt offensiv darlegen. Wir wollen aufzeigen, dass
Nazis nicht im luftleeren Raum existieren, sondern ein Phänomen des
Kapitalismus sind, was nicht einfach aus dem Wahrnehmungsbereich
verdrängt werden kann, wenn Fischer gerade einmal keine
Demonstration angemeldet hat. Wir möchten unsere Perspektiven der
Lebensrealität in Weimar mit anderen Menschen teilen, unsere Kritik
an ihren formulieren und mit ihnen unsere Praxis von Antifa-Arbeit
ausweiten.
Die Möglichkeiten linksradikaler Theorie, Organisation und Praxis sind vielfältig. Selbstbildungsprozesse durch gemeinsames Erschließen von verschiedenen Themengebieten können dabei genutzt werden, um gesellschaftskritisches Argumentieren zu fokussieren. Gruppenbildung zur Etablierung von Strukturen und dem organisierten Schutz vor Repression sowie Aktionen effektiver zu planen. Kommunikationssicherheit, um dem Staat möglichst wenig Angriffsfläche auf die Persönlichkeit zu geben. Vernetzung, um über gelungene und nicht gelungene soziale und politische Konzepte in Austausch zu treten und regionale Erfahrungen auszutauschen. Veranstaltungsbeteiligung- und koordination, um politische Themen öffentlichkeitswirksam werden zu lassen und über die Grenzen der Szenepolitik hinaus Diskurse zu schaffen. Antirepressionsarbeit, die nicht zuletzt rechtlicher, sondern sozialer Natur sein kann. Aktive Recherchearbeit zu lokalen Nazistrukturen, um deren Zusammensetzung, Potential und Handlungsrahmen zu kennen. Darüber hinaus als Ausgangspunkt zur effektiven Bekämpfung dieser Zusammenhänge. Auch müssen Leerstellen der Provinzarbeit erschlossen und besetzt werden. Hier ist zuallererst eine fehlende feministische Theorie und Praxis zu nennen. Die Möglichkeiten sind groß, es liegt an uns sie zu nutzen. Kommt deswegen zur Organize! – Demonstration am 10.02.17 in Weimar.
Für die befreite Gesellschaft, für mehr Leben in der Provinz!
Weimar Hauptbahnhof, 10.02.2017, 17:30 Uhr.
Antifa
Koordination Weimar, Januar 2017.
Für weitere Infos: http://akweimar.blogsport.de/
endlich mal ein guter Aufruf!
freue mich über diesen Aufruf der in der Tradition des revolutionären Antifaschismus steht und nicht bei "Nazis raus!" stehen bleibt. Der Kapitalismus wird Zeit seines Bestehens immer und immer wieder reaktionäre Ideologien hervorbringen und/oder stärken, die das Leben erträglich(er) machen und Sinn inmitten totaler Sinnlosigkeit erzeugen. Deswegen reicht es auch nicht aus "nur" gegen Faschismus zu sein, sondern es ist ebenso notwendig religiösen Fundamentalismus, Neoliberalismus und co. zu kritisieren!