Aufruf zur „Organize! Demonstration“ , 10.02.17 Weimar Hauptbahnhof

10. Februar 2017 Plakat

Ein weiteres Mal nähert sich der jährliche Trauermarsch in Weimar. Wir haben uns entschlossen dieses Jahr einen anderen Weg zu gehen. Wir wollen mit einer entschlossenen Demonstration unseren Antagonismus gegen den Nazihaufen um Fischer vorantreiben und gleichzeitig eine eigene Kritik an den eingespielten Protestritualen Weimars üben und uns in einer gesellschaftlichen Analyse versuchen.

Ein Blick zurück auf die letzten Jahre.

 
In den letzten Jahren wurde versucht, verschiedene Taktiken umzusetzen, sie führten aber für Keine*n der Beteiligten zu einem befriedigendem Ergebnis, denn die letzten Jahre verliefen ohne nennenswerte Blockaden. Dies ist zum einem auf fehlende Struktur und Vernetzung zurückzuführen. Zusätzlich schirmte die Polizei die Route meist durch Hamburger Gitter und viele mobile Einheiten ab. Auch Helikopter kamen dabei jedes Jahr zum Einsatz, was ein unbeobachtetes Handeln erschwerte. Blockadeversuche wurden von vielen Demoteilnehmer*innen von vornherein verworfen. Andernfalls kam es durch die Cops zu massiven Eingriffen, so wurde unter anderem in jedem Jahr massiv Pfefferspray eingesetzt.

 

…die Nazis
Aufgrund des Drangsalierens jeglichen Gegenprotests konnte Michel Fischer in „seiner Frontstadt“ Weimar sein Anliegen verstärkt durchsetzen. Das äußerte sich in einer verstärkten Mobilisierung durch Fischer, der schon im vorletzten Jahr mit einer größeren Kampagne den Trauermarsch bewarb. Dazu gehörten unter anderem eine Facebookseite und Flyer, die laut Eigenaussage deutschlandweit verbreitet wurden. Doch auch die Forderungen seitens der Nazis nach einer größeren Demoroute wurden lauter. Tatsächlich konnte Fischer dieses Anliegen zwar erst in Zusammenhang einer Thügida-Demonstration durchsetzen, erhielt hierbei aber auch eine Route im Innenstadtbereich. Auch die Zunahme von Neo-Nazi-Nachwuchs aus Apolda und Mellingen war beim letzten Trauermarsch zu beobachten. Darüber hinaus wurde ihnen, mit den Thügida-Demonstrationen in Apolda, eine Möglichkeit gegeben sich zu politisieren, ohne auf gesellschaftlichen Widerstand zu stoßen. Bis zu 500 Teilnehmer*innen folgten dem Aufruf von Jan Morgenroth, darunter unter anderem viele Jugendliche. Doch auch regelmäßiges Auftreten der jungen Neo-Nazis in der Weimarer Innenstadt häuften sich nach dem Naziaufmarsch. Diese pöbelten immer wieder gegen People of Color oder griffen diese gewaltsam an (TLZ-Artikel). Deswegen bleibt es umso notwendiger alternative Perspektiven zu schaffen und auf die Nazistrukturen in und um Weimar aufmerksam zu machen.

 

…die Repression
Daneben ließen sich die Cops nicht lumpen jeglichen antifaschistischen Gegenprotest mit Repressionen zu überziehen, es wurden willkürlich Personen in Gewahrsam genommen, so unter anderem geschehen am 26. März 2016, als hauptsächlich junge Aktivist*innen für eine Stunde in Gewahrsam gehalten wurden und einer Personenkontrolle unterzogen worden sind. Ein weiteres Beispiel hierfür ist das Vorgehen der Polizei im Kontext einer Spontandemonstration gegen den Thügida-Aufmarsch im Mai 2016. Hierbei wird bewusst das Recht auf Demonstrationsfreiheit eingeschränkt und mit Füßen getreten, Leute willkürlich mit Anschuldigungen überzogen, frei nach dem Motto: „Es wird schon ein Vorwurf durchkommen und die Person verurteilt werden.“ Die Polizei versucht gezielt antifaschistisches Wirken einzuschränken beziehungsweise sogar unmöglich zu machen. Im Gegenzug dazu können die Nazis freimütig antisemitische Transparente durch die Kante tragen oder sich, wie Thomas H. vermummen ohne aktives Einschreiten erwarten zu müssen. Für uns als Antifaschist*innen sind deshalb Solidarität und Vernetzung eine notwendige Konsequenz. Es bleibt dennoch zu betonen, dass ein zentrales Problem in der bürgerlichen Protestkultur das Agieren in einem rechtsstaatlich-legitimierten Rahmen bleibt. Es ist notwendig sich nicht auf ein „Wir sind friedlich, was seid ihr?“ einzulassen, sondern darzulegen, dass gesellschaftskritisch argumentiert werden muss und dabei vor allem die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsformation, mit der in ihr wohnenden strukturellen und direkten Gewalt, wie zum Beispiel der Repression zu betrachten.

 

Kulturbürger*innen und Standortmarketing

 Die Touristenstadt Weimar wird von Kulturbürger*innen, ansässigen Politiker*innen oder anderen Personen im Kontext der Imagepflege verstanden. Nazis sind in diesem Verständnis ein oberflächliches Problem, dass die Attraktivität Weimars als anständige Kulturstadt infrage stellt. Mit kritischer Betrachtung stehen dabei wirtschaftliche Interessen der Standortpolitik zunächst im Vordergrund. Wenn Nazis agieren, dann wird aus stadtpolitischer Perspektive vor allem der Raum im Stadtkern als wichtig betrachtet. Touristen sollen nicht die traurigen Bilder aus Weimar-West sehen, sondern sich im Nachhinein an Geschäfte und Goethes Wohnhaus erinnern. Der Tourismus ist im ersten Moment vor allem eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, die Weimar als kultiviert, sauber und sehenswert beschreibt. Ihr liegen aber zutiefst soziale Ausgrenzungs- und Desorientierungsmechanismen zugrunde. Sie zeigen sich offensichtlich an der Stadtplanung durch Stadtteiltrennung, wie zum Beispiel durch die effektive Nutzung vorhandener Bahnlinien zwischen Weimar-West und Nordvorstadt, aber auch unterschwellig an den Spannungslinien, wer, wie und in welchem Umfang an Kulturveranstaltungen teilnehmen kann. Dieser Kulturfrieden wirkt meistens wie das Schweben in einer eigenen Blase, die viele soziale Situationen ausblendet. Innerhalb des Kulturbürgertums kommt es deshalb immer wieder zu gegenseitigen Handlungsbestätigungen, die ein- und ausschließen sollen. Weimar liefert dafür ein nahezu 365-Tage-Programm. Darüber hinaus vollzieht sich ein Wandel in der Wahrnehmung sozialer Handlungen. Eine grundlegende Einstellung gegen Nazis wird dabei mit einbezogen. Diese verläuft aber nicht entlang gesellschaftskritischer Fragestellungen, sondern entlang eines Anständigkeitsverständnisses: „Flüchtlingsheime anzünden ist unanständig.“ Dabei kann dies als ein Abhängigkeitsverhältnis verstanden werden, bei dem sich das Kulturbürgertum über die Ablehnung zu Nazis definiert. Unabhängig der wiederholten Klischeeabstempelung des kahlrasierten Nazis sind auch die Handlungsmotive zutiefst kritikwürdig. Denn der Wunsch ist dahingehend ausgerichtet, dass Nazis einfach fünf Kilometer weiter weg handeln und dort können sie auch machen was sie wollen. Die kaum wahrgenommenen und marginalisierten Gegenproteste in Apolda sind hierfür das beste Beispiel.

Bürgerliche Haltungen sind darüber hinaus auch eng mit realpolitischen Vorstellungen verknüpft. Diese sollen Stadtentwicklung und kulturelle Einrichtungen stärken, weshalb dem Wahlkampf aller Parteien in Weimar meistens eine kulturelle Fokussierung innewohnte. Kulturpolitik in Weimar trennt immer anständige Kultur und Unkultur, haben doch bürgerliche Vorstellungen auch gewisse Handlungsdispositionen offen gelegt, die sich konträr zu alternativen Lebensentwürfen verhalten. Arbeits-, Lebens- und Partnerschaftsverhältnisse folgen dem bürgerlichen Verständnis. Es handelt sich also um weit mehr als eine in-sich-gekehrte Gesellschaftsformation, sondern um Interaktionszusammenhänge, bei denen Lebensvorstellungen auch offensiv nach außen getragen werden. Diese normorientierten Handlungsweisen bürgerlicher Tendenzen vollziehen sich entlang eines gesamtgesellschaftlichen Kontextes. Verhalten wird nicht nur anhand rechtlicher Bestimmungen bewertet, sondern aus einer moralischen Position, der ein stark-autoritäres Vorgehen zugrunde liegt. Staatliche Legitimation und gesellschaftliche Reproduktion stellen dabei einen sich gegenseitig verstärkenden Zusammenhang dar. Bürgerliches Handeln ist somit weitestgehend eine staatliche Wunschvorstellung, bei der Reproduktionsmechanismen Individuen stark beeinflussen, da ein soziales Innen und Außen durch die bürgerliche Gesellschaft definiert wird.
Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft ist aufgrund ihrer Ausgrenzungsmechanismen zu kritisieren, aber auch für ihre viel zu oberflächliche Kritik an Nazis, die kurzfristige, standortbezogene Lösungen sucht. In diesem Zusammenhang ist eine starke, ausdifferenzierte Gesellschaftskritik notwendig, die aufzeigt, dass Nazis in dieser Gesellschaft immer präsent sein werden, solange Ausbeutungs-, Entfremdungs- und Ausgrenzungsmechanismen bestehen. Nazis agieren genau dort, wo ihnen die Handlungsmöglichkeiten gegeben sind. Die Passivität des Bürgertums kann deshalb kaum eine Option im Handeln gegen Nazis sein. Ihre Vorstellungen von Gewaltfreiheit und friedlichen Protest verneinen meistens soziale Situationen. Deshalb ist eine Orientierung an gesellschaftskritischen linksradikalen Forderungen sinnvoll.
Dennoch kann die Kritik an den bestehenden bürgerlichen Verhältnissen nicht an realpolitischen Forderungen stehenbleiben. Sie sollte weniger auf zweckorientierte politische Konzepte setzen, sondern vielmehr gesamtgesellschaftliche Prozesse, den Staatsapparat, kapitalistische Verwertungslogik und zwischenmenschliche Beziehungen in Frage stellen.

 

Organize!
Mittlerweile kritisieren wir die gleichen Erscheinungsformen seit drei Jahren, mal mehr, mal weniger ausdifferenziert vorgetragen. In diesem Jahr wollen wir unserer Kritik eine Plattformen geben, mit der wir mehr Menschen erreichen wollen. Wir wollen brechen mit dem Kult vom „bunten Weimar“, wollen Probleme am „nur gegen Nazis“ sein benennen und unseren eigenen Standpunkt offensiv darlegen. Wir wollen aufzeigen, dass Nazis nicht im luftleeren Raum existieren, sondern ein Phänomen des Kapitalismus sind, was nicht einfach aus dem Wahrnehmungsbereich verdrängt werden kann, wenn Fischer gerade einmal keine Demonstration angemeldet hat. Wir möchten unsere Perspektiven der Lebensrealität in Weimar mit anderen Menschen teilen, unsere Kritik an ihren formulieren und mit ihnen unsere Praxis von Antifa-Arbeit ausweiten.

Die Möglichkeiten linksradikaler Theorie, Organisation und Praxis sind vielfältig. Selbstbildungsprozesse durch gemeinsames Erschließen von verschiedenen Themengebieten können dabei genutzt werden, um gesellschaftskritisches Argumentieren zu fokussieren. Gruppenbildung zur Etablierung von Strukturen und dem organisierten Schutz vor Repression sowie Aktionen effektiver zu planen. Kommunikationssicherheit, um dem Staat möglichst wenig Angriffsfläche auf die Persönlichkeit zu geben. Vernetzung, um über gelungene und nicht gelungene soziale und politische Konzepte in Austausch zu treten und regionale Erfahrungen auszutauschen. Veranstaltungsbeteiligung- und koordination, um politische Themen öffentlichkeitswirksam werden zu lassen und über die Grenzen der Szenepolitik hinaus Diskurse zu schaffen. Antirepressionsarbeit, die nicht zuletzt rechtlicher, sondern sozialer Natur sein kann. Aktive Recherchearbeit zu lokalen Nazistrukturen, um deren Zusammensetzung, Potential und Handlungsrahmen zu kennen. Darüber hinaus als Ausgangspunkt zur effektiven Bekämpfung dieser Zusammenhänge. Auch müssen Leerstellen der Provinzarbeit erschlossen und besetzt werden. Hier ist zuallererst eine fehlende feministische Theorie und Praxis zu nennen. Die Möglichkeiten sind groß, es liegt an uns sie zu nutzen. Kommt deswegen zur Organize! – Demonstration am 10.02.17 in Weimar.

Für die befreite Gesellschaft, für mehr Leben in der Provinz!

 

Weimar Hauptbahnhof, 10.02.2017, 17:30 Uhr.
Antifa Koordination Weimar, Januar 2017.

Für weitere Infos: http://akweimar.blogsport.de/

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freue mich über diesen Aufruf der in der Tradition des revolutionären Antifaschismus steht und nicht bei "Nazis raus!" stehen bleibt. Der Kapitalismus wird Zeit seines Bestehens immer und immer wieder reaktionäre Ideologien hervorbringen und/oder stärken, die das Leben erträglich(er) machen und Sinn inmitten totaler Sinnlosigkeit erzeugen. Deswegen reicht es auch nicht aus "nur" gegen Faschismus zu sein, sondern es ist ebenso notwendig religiösen Fundamentalismus, Neoliberalismus und co. zu kritisieren!