Aus dem Inneren eines Überwachungsstaates

Erstveröffentlicht: 
07.09.2010

Radiofeature zu einem Fall von Überwachung in Deutschland


Kafka, Kanzler und da knackt nichts

 

Von Holger Siemann


Ein junger Mann erfährt durch eine Panne bei seinem Mobilfunkbetreiber, dass er von Verfassungsschutz und BKA abgehört wird. In einer Zeitung, der Polizisten die Abhörprotokolle verkauft haben, liest er ein Gespräch seiner Freundin im Wortlaut. Die Schlagzeile, seine Verhaftung als angeblicher Gründer der terroristischen Vereinigung "Militante Gruppe" stehe unmittelbar bevor, lässt ihn wochenlang bei jedem Geräusch hochschrecken.

 

Nach sieben Jahren vergeblicher Bemühung um Aufklärung, nach Hausdurchsuchung und schließlich doch noch erfolgter Verhaftung zieht das Bundesverfassungsgericht eine Grenze. Der "Terrorist" erhält Akteneinsicht, das Verfahren wird eingestellt. Obwohl die Geheimdienste sich der Aufklärung verweigern, lässt sich die paranoide Geisteshaltung der Ermittler anhand ihrer eigenen Aufzeichnungen nachvollziehen. Ist das ein seltener Glücksfall? Oder ist es ein Unglücksfall - weil alles andere als selten? In Deutschland wird 30-mal mehr abgehört als in den USA.

 

Produktion: Deutschlandfunk 2010

 

 

Wortprotokoll:

 

Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 12.01. + 07.09.2010
Redaktion: Hermann Theißen 19.15 - 20.00 Uhr

"Kafka, Kanzler und da knackt nichts"
Aus dem Inneren eines Überwachungsstaates

Von Holger Siemann

- Unkorrigiertes Manuskript -


Erzähler:
Mit Bernhard und seiner Freundin Ulrike war ich im April 2003 in der Cuvrystraße in Berlin-Kreuzberg verabredet. Ihre kleine Tochter lernte gerade sprechen und ich brachte Kuchen mit.

Musikakzent

Sprecher:
Bundeskriminalamt T 13. Aktenzeichen 2 BJs 48/012. Protokoll. 26.April 2003. 15:32 Uhr. Eine unbekannte männliche Person betritt das Objekt Cuvrystraße mit einem verpackten Gegenstand von etwa 20 x 20 Zentimetern.

Erzähler:
An diesem Nachmittag erzählte Bernhard eine merkwürdige Geschichte.

O-Ton: Bernhard (im Hintergrund "Familie" mit Frau, Oma und Kind)
Das war meine Handyrechnung vom September 2002, die war eben ungewöhnlich hoch, ich hab dann einen Einzelverwendungsnachweis, weil ich das abrechnen kann, also bei meinem Arbeitgeber, deswegen schau ich mir das immer ganz genau an und da hatte ich eben einen großen Posten, den ich nicht kannte, das hieß: abgehende Mailboxverbindung, worunter man sich eigentlich nichts vorstellen kann, was das eigentlich ist, also das, das waren etwa 44 Euro. Und dann hab ich mir das genauer angeguckt und festgestellt, dass das eigentlich immer so zwei Rufnummern waren, die da angerufen wurden, oder die ich angerufen hatte, eine in Köln und eine in Meckenheim, das stand da. Dann dachte ich: Meckenheim, Köln...

Musikakzent

Sprecher:
T 13. 20:41 Uhr.
Die Lichtverhältnisse vor dem Überwachungsobjekt werden schlechter. Mehrere Personen betreten und verlassen das Objekt. Es kann nicht festgestellt werden, ob die Personen zu den Beschuldigten gehören.

Sprecherin:
Berlin. Durch eine Software-Panne bei dem in München ansässigen privaten Mobilfunkanbieter "O2" sind nach Angaben aus Sicherheitskreisen bundesweit rund 50 Personen darüber informiert worden, dass Behörden ihre Telefongespräche abhören. Bei einem Update seines Programmes war dem Telefonbetreiber ein Fehler unterlaufen, durch den die Abhörung als "abgehende Mailboxverbindungen" angezeigt wurde.

Musikakzent

Sprecher:
Der Hinweis auf der Rechnung des Pinneberg gefährdet den Erfolg der Maßnahme, da der Beschuldigte gewarnt ist und möglicherweise Gespräche mit anderen Beschuldigten nicht mehr vom eigenen, sondern vom Anschluss der Lebensgefährtin führt. Ein Antrag auf Erweiterung der TK-Überwachung wird entsprechend gestellt.

Erzähler:
Die Rechnung lag weiß und leuchtend auf dem Küchentisch, daneben unsere Handys. Komische Vorstellung, dass in diesem Moment irgendwo ein Mensch in einem Bunker mit Kopfhörern saß und lauschte und wartete, dass ... nein, es musste sich um einen Irrtum handeln. Vielleicht war Bernhard ein bisschen paranoid?

Musikakzent

Sprecher:
T 13. 21:45 Uhr. Gesprächsmitschrift. Pinneberg telefoniert mit seiner Mutter in Schweden. Themen sind deren bevorstehender Besuch und angebliche Geburtstageschenke für das Kind. Information an den Zoll erfolgte.

O-Ton: Bernhard
Ich denke, wenn ich jetzt telefoniere mit dem Telefon hier, dann springt in Meckenheim ein Band an. Davon gehe ich aus.

Musikakzent

ANSAGE
"Kafka, Kanzler und da knackt nichts"
Aus dem Inneren eines Überwachungsstaates
Ein Feature von Holger Siemann

O-Ton: Bernhard
Also ich hab die Nummer gesehen, Ich hab da auch versucht anzurufen, um einfach, ich dachte, na gut ich muss da mal gucken, was man da hört und ob da jemand ran geht. Das war also ein Computersystem, das dann sozusagen mit einer Maschinenaufnahme sagte:

Sprecher:
"Dies ist ein geschlossenes System. Sie haben keine Zugriffsberechtigung. Bitten wenden Sie sich an den Administrator."

Erzähler:
Aber die Telefongesellschaft muss doch wissen, wer warum ihre Netze benutzt, um "Mailboxverbindungen" einzurichten!

O-Ton: Bernhard
Die haben sich eigentlich der Kommunikation dann verweigert und haben überhaupt auf gar nichts reagiert zunächst... Ich hab auch keine weiteren, überhaupt keine Rechnungen mehr bekommen, Monate lang, also die haben jeden Kontakt mit mir eigentlich vermieden, die haben aber auch nicht mein Telefon abgestellt.

Erzähler:
Das war ja alles sehr merkwürdig. Wieso wurde Bernhard abgehört? Ich hatte keine Ahnung, wie so was im Westen funktioniert, und was ich als Ossi mal gewusst hatte, konnte ja wohl nicht mehr wahr sein. Also nahm ich mein Aufnahmegerät und suchte Leute, die mir Auskunft geben konnten.

Musikakzent

Sprecher:
27. April 2003. 15:48 Uhr. Bernhard Pinneberg betritt mit einem Koffer das Objekt. 15:51 Uhr vermutlich Ulrike Steinfelder betritt mit einer Tüte und einem Koffer das Objekt.

Erzähler:
Sönke Hilbrans ist Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Datenschutz.

O-Ton: Hilbrans
Es gab romantische Zeiten, wo man tatsächlich mit dem Kopfhörer am Telefonkasten - bildlich gesprochen - sitzen konnte als Polizeibeamter. Heute läuft das in der Praxis ganz überwiegend sinngemäß wie folgt: wenn die Staatsanwaltschaft einen Anschluss überwachen lassen möchte, dann kennt sie ja die Anrufnummer, sie kennt zum Teil auch die Personen, denen diese Anschlüsse zugeordnet sind. Sie erwirkt einen amtsrichterlichen Überwachungsbeschluss, der sich dann an den Provider richtet.
Der Provider wird durch das Amtsgericht verpflichtet, ...der Polizei das Überwachen zu ermöglichen. Dieser Beschluss wird vom Provider vorgelegt, innerhalb kürzester Zeit erst mal gefaxt, und dann häufig im Original hinterhergeschickt, damit das authentisch ist. Wenn der Beschluss gut ist, was nicht immer der Fall ist, dann steht da auch ne klare Deadline drin, die nicht zu lange bemessen ist.

Erzähler:
Provider, das meint in diesem Falle Unternehmen, die Telekommunikationsdienste anbieten. Georg Ritter von Wagner ist Pressesprecher von T-Mobile und erzählt mir beim Kaffee, dass seine Firma sich nicht aussuchen kann, ob sie mitspielt oder nicht.

O-Ton: T-Mobile
Es gibt das Telekommunikationsgesetz. Das Telekommunikationsgesetz sagt, dass wir den Behörden Auskunft geben müssen, beziehungsweise behilflich sein müssen bei Auskünften, die die verlangen. Wenn also eine Behörde wie die Polizei oder die Staatsanwaltschaft bei einem Richter beantragt, dass eine Person, die verdächtigt wird, schwerstkriminell unterwegs zu sein, also sagen wir mal, wegen Mord, oder wegen Kindesmissbrauch oder dergleichen Delikte verdächtigt wird, dann wird ein Richter aufgefordert eine Telekommunikationsüberwachungsmaßnahme anzuordnen, diese Anordnung geht dann an die T-Mobile und unsere Leute sind gehalten, dieser Anforderung genüge zu leisten.

Erzähler:
Im Jahre 2005 ergingen laut einer Statistik des Bundesministeriums der Justiz 35 000 richterliche Anordnungen zur Überwachung von Telekommunikation,1 Wie viele Abhörungen zusätzlich durch die Geheimdienste veranlasst werden, ist nicht bekannt.

O-Ton: T-Mobile
Das sieht dann so aus, dass diese richterliche Anordnung bei uns eintrifft, und wir nur einen Schalter umlegen und dann in einer bestimmten Behörde, einer Polizeidienststelle oder bei einem Landeskriminalamt oder beim Bundeskriminalamt dann das Gespräch mitgehört wird. Wir hören das Gespräch nicht mit. Oder es gibt so was wie ein Bewegungsprofil, das zu erstellen sei von einem Verdächtigen, von einer verdächtigen Person, dann zeichnen wir auf, wann und wo er mit seinem Telefon, mit seinem Mobiltelefon unterwegs ist, und geben die Daten, ohne dass wir die dann auswerten oder etwas dergleichen, geben die Daten als Datensatz einfach an die Behörde, die diese Daten haben will. Damit hat sich das. Und das machen wir so lange, bis die Behörde beziehungsweise bis der richterliche Erlass erloschen ist, und dann stellen wir natürlich diese Überwachungsmaßnahme ein.

Erzähler:
Rechnet man jeweils nur 20 Freunde oder Geschäftspartner zu jedem überwachten Telefon2, haben pro Jahr mehr als eine Million Bundesbürger wenigstens einmal einen Lauscher in der Leitung. Früher hatten wir Witze über das Knacken im Telefon gemacht.

O-Ton: Lauscher
Läuft, ja? Zum Knacken im Telefon (lacht) Die Telefone, die überwacht werden, da knackt nichts, das sind die besten Leitungen. Die sind störungsfrei gemacht, dass man das gesprochene, das belauschte Wort mit übernehmen kann. Das war zu DDR-Zeiten so, das sollte mich wundern, dass das heute nicht mehr so ist.

Erzähler:
Herbert Kunz muss es wissen: Er war früher schon "dabei" und hat Botschaften nach Abhörtechnik durchsucht. Damals konnte man natürlich nicht so einfach hingehen und fragen: Wer seid Ihr? Aber ich will wissen, wer heute die Leute sind, die am anderen Ende der Telefonleitung zuhören. Insgesamt 38 verschiedene Sicherheitsbehörden kommen in Frage. Ich rief an, mailte, schrieb Briefe, aber niemand war zuständig. Sowohl beim Verfassungsschutz also auch beim BKA hieß es nur:

Sprecherin:
Keine Auskunft zu laufenden Verfahren. Tut mir leid.

Erzähler:
Überraschenderweise war meine Anfrage beim BND, den ich zuletzt angerufen hatte, weil er mir am geheimnisvollsten schien, erfolgreich. Ich wurde in den Dienstsitz Gardeschützenweg eingeladen und durfte meine Frage stellen. Also: Wer sind diese Leute?

O-Ton BND
Das sind Menschen mit individuellen Vorlieben, mit Familien, die sicherlich auch ganz normale Sorgen und Nöte haben, die schulpflichtige Kinder haben, die genauso zum Zahnarzt müssen wie jeder andere auch, die sich genauso in ihrer Gemeinde wohlfühlen, sich dort einleben. Es gibt auch mit Sicherheit nicht den Schlapphutträger oder den Trenchcoatträger, so wie man ihn vielleicht aus althergebrachten Agentenfilmen kennt. Wir fahren auch nicht Aston Martin, wir fahren Astra, das muss man auch mal sagen ...also diese ganzen 007-Nummern, die sind natürlich immer ziemlich überbewertet, da wird oftmals vielleicht in der Öffentlichkeit das Ganze ein klein wenig zu überbewertet.

Erzähler:
Als ich den Gardeschützenweg verließ, hatte ich vergessen, weshalb ich gekommen war. So freundliche Mitarbeiter! Irgendwas musste Bernhard doch angestellt haben. Hatte er nicht in den 80ern mal in einer selbstverwalteten Bäckerei gearbeitet? Stammte das Mehl vielleicht aus linksradikalen Mühlen? War das überhaupt Mehl gewesen? Und warum kriegte er angeblich nicht raus, was ihm vorgeworfen wurde?

Musikakzent

Sprecher:
Bundeskriminalamt, T13. Am 19.Mai erhielt Bernhard vom Mobiltelefon des Anschlussinhabers Peter Schiller auf seinem Mobiltelefon eine SMS mit folgendem Inhalt: "KEIN GELBES PAKET ERHALTEN. WARTE IN BRENNENDER UNGEDULD..."
Die Wortwahl dieser SMS ist in einiger Hinsicht bemerkenswert. Bei den Resten des Brandsatzes vom Anschlag auf das Finanzamt Moabit befand sich ebenfalls ein Stück gelber Pappe, vermutlich von einem Postnormpaket. Diese Bauweise entspricht der "Bauanleitung für einen Brandsatz als militantes Mittel" aus der "radikal" Nr. 156. Dieser Text wird der "militante(n) gruppe" zugerechnet. In diesem Zusammenhang erscheint ebenfalls die Wortkombination "IN BRENNENDER UNGEDULD" bemerkenswert.

O-Ton: Bernhard
Ich hab dann eben meinen Rechtsanwalt gebeten, das in Erfahrung zu bringen, also bei den Behörden, die dafür überhaupt in Frage kommen. Das hat er dann auch getan, er hat also Aktenordner füllend verschiedene Behörden angeschrieben, also eben das Bundeskriminalamt, Amt für Verfassungsschutz, weil das auf Grund der Rufnummern nahelag, aber auch eben, weil ich ja in Berlin wohnhaft bin, also die verschiedenen Berliner Polizeibehörden, Verfassungsschutz, Geheimdienst.

Sprecherin:
Leider können wir Ihre Anfrage nicht zuordnen. Bitte teilen Sie uns das Aktenzeichen mit.

O-Ton: Hilbrans
Für Otto Normalverbraucher ist das 'ne Möglichkeit, sich da zu orientieren. Sie können im Prinzip bei jeder datenbesitzenden Stelle anfragen. Weil das unglaublich viele sind, fragen Sie besser bei denen, wo Sie es wirklich wissen wollen.

Sprecherin:
Bitte teilen Sie uns das Aktenzeichen mit.

O-Ton: Bernhard
Wenn man ihnen sagt: Ich habe hier ein Aktenzeichen, dann fühlen die sich angesprochen, das ist, als ob man die anschalten würde, ne.

O-Ton: Hilbrans
Wenn Sie aktuell Beschuldigter sind, haben Sie ´ne hohe Chance, dass Sie da keine Antwort kriegen, vor allem, wenn Sie selber noch gar nicht darüber in Kenntnis gesetzt worden sind, also wenn man Sie selber noch gar nicht angeschrieben hat, oder Sie noch nicht nen Haftbefehl hatten deswegen.

Erzähler:
Nein, einen Haftbefehl hatte Bernhard nicht erhalten. Ein Blick ins Gesetzbuch zeigte aber, welche Straftaten als Grund einer Abhörung in Frage kamen: Das waren Kindesmissbrauch, Handel mit Drogen, Kinderpornos, Waffen oder Menschen, Mord und Terrorismus.

O-Ton: Bernhard
Und dann, manchmal denkt man: Na, vielleicht hören die auch gar nicht zu, also vielleicht ist das alles nur Mist, ne? Aber man weiß das eben nicht, man lernt mit so ´ner Art Unsicherheit und Vermutung umzugehen. Ich kann das sehr gut verstehen, warum dann Leute, die psychisch fragil sind, Vorstellungen entwickeln, Sender im Kopf, Essen vergiftet, überall Polizei, die überwachen uns, ich bin ferngesteuert, warum sich solche Erscheinungen von paranoischen Vorstellungen entwickeln, das find ich gesellschaftlich absolut nachvollziehbar, weil das auch nicht abwegig ist, ne?

Musikakzent

Sprecher:
Bundeskriminalamt T 13. 28. April 2003, 3:50 Uhr unbekannte männliche Person betritt das Objekt. 3:51 Uhr unbekannte männliche Person verlässt das Objekt. 8:43 Uhr Bernhard Pinneberg verlässt mit einer Tüte, Taschen und einem kleinen Karton (vermutlich Babysachen) das Objekt. Anschließend verlässt die Steinfelder das Objekt mit Kind.
Auswertung: Die Videomaßnahme wurde für den Zeitraum des versuchten Anschlags auf das Arbeitsamt Berlin Südwest durch unbekannte Mitglieder der Militanten Gruppe ausgewertet. Die Lichtverhältnisse waren vor allem nachts schlecht. Eine Beteiligung des Bernhard Pinneberg kann deshalb nicht ausgeschlossen werden.

O-Ton: Bernhard
Das ging etwa 10, 11 Monate, mit viel Schriftverkehr verbunden, aber letztlich immer ohne Ergebnis, also....

Sprecherin:
Bitte teilen Sie uns das Aktenzeichen mit.

Erzähler:
Durch eine merkwürdige Wendung erfuhr Bernhard das Aktenzeichen dann von völlig unerwarteter Seite.

O-Ton Ulrike
Also für mich war das eigentlich eher ein Abend, wo ich dachte, es ist mir eigentlich zu voll und zu laut und zu verraucht (lacht) mit meinem neugeborenen Kind. Und hab eigentlich von diesem ganzen Ambiente gar nichts mitbekommen, bis dann meine Mutter mir immer zuflüsterte: "Da sitzt der Kanzler, da sitzt der Kanzler". Aber ich hatte ihn überhaupt nicht gesehen, der saß am Nebentisch, hab nur immer geguckt, wo können wir sitzen und wo kann ich das Kind abstellen und hoffentlich wird das Kind jetzt nicht wach und schreit ...
(Bernhard: weil sie so dunkle Haare hatte)
Ja genau. Und unsere Tochter hatte ganz lange dichte dunkle Haare eben schon seit der Geburt, und dann kam also der Kommentar von dem Tisch, an dem auch der Kanzler mit seiner Gattin saß, ... von einer Begleiterin, die auch am Tisch saß: Ach wie süß, und wie alt ist sie denn, und so entwickelte sich dann das Gespräch, dann warf also der Kanzler den Kommentar ein, dass sie eben so dunkle Haare hätte und von wem sie denn die hätte und so. Und dann scherzte er sogar noch, bei mir hätten sie gesagt, die wären gefärbt.

Erzähler:
Wir fanden das alle sehr komisch und lachten über die Fotografie, die am nächsten Tag im Freundeskreis herumging. Eine Woche später blieb uns das Lachen im Halse stecken, denn die Zeitschrift Focus garnierte die fettgedruckte Überschrift "Familienfoto mit Kanzler" mit brennenden Bundeswehrjeeps und schrieb:

Sprecherin:
Der BKA-Staatsschutz hat nach zuverlässigen Focus-Angaben vier Männer identifiziert, die zum konspirativen Kern der "Militanten Gruppe" gehören sollen....

Erzähler:
Es folgten die Namen von Bernhard und drei anderen.

O-Ton: Bernhard
Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, zitiert der Focus in dem Artikel am Ende noch Abhörprotokolle, nach deren Existenz und Begründung ich monatelang gefragt habe.

Sprecherin:
" ... von der netten Fotosession erfuhr das BKA erst durch ein später mitgeschnittenes Telefonat. Locker sei ´s mit Schröder gewesen, so die junge Mutter..."

O-Ton: Ulrike
Also ich fand es erst mal sehr irritierend, ein Telefongespräch, was ich geführt hatte, zitiert im Focus zu lesen.

Erzähler:
Am nächsten Tag berichtete jede Tageszeitung und in der "Abendschau" wurde die Enttarnung der "Militanten Gruppe" schon als Tatsache verkündet.

O-Ton: Würdinger 2008
Da war quasi erstmals offenbar, dass er abgehört wird und schon da wurde Akteneinsicht beantragt, wurde auch um Mitteilung gebeten, unter welchem Aktenzeichen das Verfahren geführt wird, und da hat die Bundesanwaltschaft schlichtweg geblockt.

Erzähler:
Andrea Würdinger ist Strafverteidigerin in Berlin und mit Bernhards Fall befasst. Ich frage sie, was man tun soll, wenn man beim Abendessen sitzt und im Fernsehen einen Bericht über sich selbst als gesuchten Terroristen sieht?

O-Ton: Würdinger
Ja, wenn man meint, also die Verhaftung steht unmittelbar bevor, wendet man sich am besten erst mal an seinen Rechtsanwalt oder seine Rechtsanwältin, unterschreibt dort eine Vollmacht, damit man nicht einfach nur verhaftet wird und es vielleicht längere Zeit dauert, bis man mit seinem Prozessbevollmächtigten in Kontakt kommt.

O-Ton: Ulrike
Wir wohnten damals halt im 4. Stock und ich hörte quasi schon das Fußgetrappel im Treppenhaus und stellte mir halt behelmte, bewaffnete vermummte Polizisten vor, die dann die Wohnung stürmen und ihn verhaften. Und das war halt so ´ne Horrorvision weil ich ja wusste aus anderen ...Fällen, dass auch ´ne Untersuchungshaft monatelang dauern kann und wie gesagt, wir hatten gerade ´n 6 Wochen altes Baby und es war halt so 'ne absolut beklemmende Vorstellung erstmal.

Musikakzent

Sprecher:
Bundeskriminalamt St 16. In einem Telefongespräch teilt Bernhard Pinneberg dem Anwalt Eisenberg mit, er habe sich entschieden, eine Gegendarstellung im Focus zu erwirken.

Erzähler:
Der Focus-Artikel lieferte einen interessanten Hinweis für meine Recherchen. Da hieß es nämlich:

Sprecherin:
Der Berliner Verfassungsschutz, der dem BKA die entscheidenden Hinweise gab, schließt in einer internen Analyse personenbezogene Straftaten nicht mehr aus - soll heißen: Attentate auf Repräsentanten von Politik und Industrie.

Erzähler:
Wie kommt der Verfassungsschutz zu seinen Behauptungen? Frau Kalbitzer ist die Sprecherin und sitzt hinter viel Panzerglas und Wachpersonal. Es dauert eine Weile, bis ich zu ihr vorgedrungen bin. Sie hat mir schon am Telefon versichert, nichts anderes sagen zu wollen als im jährlichen Verfassungsschutzbericht steht, jedenfalls nichts über die im Focus zitierten "internen Analysen".

O-Ton: Frau Kalbitzer
Erstmals ist die Militante Gruppe im Juni 2001 in Erscheinung getreten. Damals hat sie eine Patrone an den Regierungsbeauftragten der Bundesregierung für die Entschädigung der Zwangsarbeiter, Otto Graf Lambsdorff, geschickt. Seitdem hat sie bis Mai 2007 mehrere Brandanschläge begangen.

Erzähler:
25 Anschläge listet der Verfassungsschutz in seinem Bericht auf, knapp die Hälfte davon auf öffentliches Eigentum wie Bundeswehrfahrzeuge oder Bezirks- und Finanzämter, die andere Hälfte waren Privat- und Firmenfahrzeuge.

O-Ton: Frau Kalbitzer
Zuordnen konnte man den Brandanschlag natürlich nur, wenn es eine entsprechende Selbstbezichtigung oder Taterklärung dazu gab, es war ja nicht immer eine klassische Selbstbezichtigung.

Erzähler:
Diese Selbstbezichtigungsschreiben der Militanten Gruppe kann man googeln und im Internet nachlesen. Und eigentlich, so will mir scheinen, kann das Blabla auch jeder kopieren:

Sprecherin:
Die Krise des kapitalistischen Akkumulationsregimes wird unter dem Vorwand "ökonomischer Sachzwänge" klassenspezifisch sozialisiert und die Existenzrisiken der sozial Deklassierten werden individualisiert.

Erzähler:
Bernhard versuchte, eine Gegendarstellung zu erwirken. Der Focus weigerte sich, es kam zum Gerichtstermin.

O-Ton: Bernhard
In dem Verfahren sozusagen, sagte der Focus: Ja, wir behaupten das, aber wir wissen auch, dass da und da ein Ermittlungsverfahren geführt wird und zwar unter dem und dem Aktenzeichen.

Sprecherin:
Aktenzeichen!

O-Ton: Bernhard
Und dann haben die, also ich weiß jetzt nicht, irgendein Bundesanwalt, da arbeiten ja viele Staatsanwälte, einfach nur in einem Dreizeiler mitgeteilt, jawohl Ermittlungsverfahren wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung. Aktenzeichen soundso. Der Generalbundesanwalt führt ein Ermittlungsverfahren auf Grund des Verdachts der Gründung einer terroristischen Vereinigung, weitere Einzelheiten kann ich Ihnen nicht mitteilen, weil das den Zweck der Ermittlungen gefährden würde...

Sprecherin:
Paragraph 129a: Wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord oder Totschlag oder Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen zu begehen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

O-Ton: Kalbitzer
Die Militante Gruppe ist eine klar linksextremistische Gruppe, die in ihren Zielen auch immer betont hat, dass sie halt ein klassenloses System anstrebt und somit gegen den freiheitlichen Verfassungsstaat ist und damit ein Thema für den Verfassungsschutz.

Erzähler:
In vier Zeilen druckte der Focus schließlich Bernhards Richtigstellung, er sei kein Terrorist. Im April 2007 berichtete das Fernsehmagazin Panorama von Ermittlungen gegen den Autor des Focus-Artikels namens Josef Hufelschulte. Der soll einen schwunghaften Handel mit geheimen Akten betrieben haben und sei - wie eine ganze Reihe weiterer Journalisten - nunmehr selbst Gegenstand der Überwachung durch den BND geworden.

O-Ton: Würdinger
Alles was das LKA oder BKA macht, muss richterlich genehmigt werden, also da gibt es dann eine Kontrolle, und alles das was in diesen Verfassungsschutzbereich Geheimdienste etc. läuft, das läuft eben einfach so, das heißt, derjenige, der das anordnet und genehmigt, der ist sozusagen Vorsteher einer entsprechenden Behörde.

Erzähler:
Moment bitte. Ich unterbreche mal kurz, damit wir den Faden nicht verlieren: Nachdem die Panne bei O2 passiert, Bernhard dem Kanzler begegnet ist und seine Akten an die Presse verkauft worden waren, haben ein Geheimdienstchef und ein unabhängiger Richter entschieden, dass die Neugier von Ermittlern immer noch schwerer wiegt als ein Grundrecht nach Artikel 10, welches da lautet:

Sprecherin:
Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.

O-Ton: Würdinger
Aber ich glaube im Großen und Ganzen ist die Personaldecke bei Richtern oder bei Ermittlungsrichtern viel zu gering, also gerade beispielsweise hier in Berlin, bei 'nem Amtsgericht, wo das Arbeitsaufkommen und die Anträge der Staatsanwaltschaft auf Abhörmaßnahmen doch sehr großzügig gehandhabt werden, das heißt auch die Vielzahl der Anträge mit den weiteren Sachen vom Ermittlungsrichter oft nur noch abgezeichnet werden; ich meine aber, das wird zum großen Teil daran liegen, dass sie die Akten gar nicht lesen können, sondern wirklich nur noch abzeichnen, wenn der Antrag selbst in sich schlüssig ist, aber gar nicht mehr gucken, reicht das aus, ja oder nein. Das ist ne Frage des Arbeitsaufwandes.

Erzähler:
Die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts, welche die Effizienz der Telefonüberwachung in den Jahren 1999 bis 2004 untersuchten, formulieren dieses Problem sehr diplomatisch:

Sprecherin:
"Zwar stellt auch diese Untersuchung nicht mit abschließender Klarheit fest, dass die Richter ihrer auferlegten Kontrollpflicht nicht nachkommen, sie kann aber vor allem auch nicht das Gegenteil berichten.... Regelmäßig werden polizeiliche Anregungen auf eine TKÜ, also eine 'Telekommunikationsüberwachung', durch die Staatsanwaltschaft und in der Folge durch den Ermittlungsrichter übernommen. Die Begründungstätigkeit erfolgt ausweislich der Akten und nach Selbsteinschätzung befragter Kriminalbeamter nahezu ausschließlich durch die Polizei."

Erzähler:
Bei den Geheimdiensten gibt es als Kontrollinstanz die Parlamentarischen Kontrollgremien. In der des Bundes beispielsweise sitzen 9 Abgeordnete des Bundestags, davon 6 aus den Reihen der Regierungsparteien und nur 3, wie der Grünenpolitiker Hans-Christian Ströbele, aus den Reihen der Opposition:

O-Ton: Ströbele
Nein, also wir scheitern häufig auch daran, dass wir einfach gar nicht die Zeit haben, auch ich nicht, all die Akten zu lesen, die wir dann zur Verfügung gestellt bekommen. Das sind ja nicht, das ist ja dann nicht ein kleiner Hefter, sondern zehn, fünfzehn Leitz-Ordner, wann soll ich denn das alles lesen? Dazu muss ich ja dann auch immer in den Geheimschutzraum gehen, also kann ich das auch nicht nebenher hier im Büro erledigen.

Erzähler:
Während in den USA nach dem 11.September nur 0,5 Abhörungen auf 100 000 Einwohner kommen, sind es in Deutschland 15, also das Dreißigfache3! Fehlt es uns an demokratischer Tradition? An heilsamem Misstrauen gegenüber einem heimlich wirkenden Staat?

O-Ton: Bernhard
Es ist so, dass man informiert werden muss, wenn so eine Abhörmaßnahme beendet werden muss, also man muss als Betroffener nicht sozusagen während der Maßnahme informiert werden, aber nach ihrem Ende. Und da ich nicht informiert wurde, gehe ich davon aus, dass das noch läuft.

Musikakzent

Sprecher:
Bundeskriminalamt, T13. Am 03.05.04 um 11:00 Uhr meldete sich Bernhard Pinneberg telefonisch von seinem Mobiltelefon bei LUDWIG auf dem Anschluss von David TRUMPF, VOGENSTRASSE 7, 13486 Berlin. LUDWIG ist der Sohn des Beschuldigten David TRUMPF. Bernhard sagt zu Ludwig: "Du brauchst doch irgendwelche Hilfe da mit Marx, oder irgendwas fürs Studium".

O-Ton: Bernhard
Dann passierte eigentlich gar nichts, außer dass dann in den Folgejahren mein Anwalt da einmal im Jahr oder auch alle sechs Monate hinschrieb mit sozusagen der inständigen Bitte, man möge doch jetzt mal informieren über dieses Verfahren, und dann kam aber immer dieser Satz zurück, dass das den Ermittlungszweck gefährden würde.

Sprecher:
Dieses Gespräch gewinnt vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass die Autoren auf Seite 2 des SBS zum Brandanschlag auf das Finanzamt in Berlin-Moabit ein Zitat aus "Die deutsche Ideologie" von Marx/Engels verwendeten.
Derzeit sind folgende Erklärungen zum Hintergrund des Gesprächs denkbar:
1. LUDWIG benötigte tatsächlich für sein Studium Informationen zu Karl Marx und hat sich deshalb an PINNEBERG gewandt. LUDWIG dürfte dann gewusst oder zumindest vermutet haben, dass PINNEBERG ihm wegen guter Sachkenntnis Informationen über Karl Marx geben kann.
2. Es könnte sich um eine verklausulierte Anspielung auf das Zitat im SBS handeln. Das würde allerdings bedeuten, dass sowohl PINNEBERG als auch LUDWIG diese Anspielung verstehen und somit in die Hintergründe des Anschlags, der vier Tage später durch die "militante gruppe" verübt wurde, eingeweiht waren.
Der Sachverhalt kann augenblicklich nicht abschließend bewertet werden.

Musikakzent

O-Ton: Bernhard
Wir sind schon davon ausgegangen, dass naja gut, dass das Telefon abgehört wird, das wussten wir ja dadurch, dass es diese Geschichte mit der Telefonrechnung gegeben hatte. Und dann, wenn man das... dann kann man ja auch davon ausgehen, dass das weiter getan wird und dann haben wir so abstrakt natürlich vermutet, dass vielleicht noch mehr gemacht wird. Also Post kontrolliert oder vielleicht auch observiert. Aber uns ist da eigentlich nicht viel aufgefallen, also ne? Man hört das ja nicht unbedingt, wenn das Telefon abgehört wird. Oder man bildet sich dann vielleicht ein, dass, weil die SMS spät kommt, dass damit zu tun hat, aber ob das denn so ist, ist eher unwahrscheinlich.

Erzähler:
So ging das bis zum 9.Mai 2007.

O-Ton Tagesschau
Einen Monat vor dem G-8-Gipfel in Heiligendamm ist die Polizei massiv gegen mutmaßliche Linksextremisten vorgegangen. In 6 Bundesländern durchsuchten 900 Beamte Wohnungen, Büros und Szenetreffs. Die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft konzentrieren sich auf zwei militante Gruppen. Sie sollen Gewaltaktionen geplant haben.

Musikakzent

O-Ton: Bernhard
Die haben also um halb acht angerufen bei uns, unter einem falschen Namen und haben gefragt, ob ich zu Hause bin. Ich war da gerade unter der Dusche, und haben dann nachgefragt, ob ich da bin. Und da sagte meine Lebensgefährtin, ja, der ist da, die sollen später noch mal anrufen. Ja, und dann um 8 haben sie an die Tür geklopft, da war ich also gerade aus dem Bad gekommen mit dem Handtuch um die Hüften und hab dann da zur Tür, also wir haben so ein Fenster an der Tür, da habe ich geschaut und habe dann gleich gesehen, dass das Polizei ist.

Sprecher:
Bundesgerichtshof, Ermittlungsrichter, Beschluss vom 2.Mai 2007. Die angeordnete Durchsuchungsmaßnahme ist zur weiteren Sachverhaltsaufklärung erforderlich. Die bisherigen verdeckten Maßnahmen haben den Tatverdacht erhärtet. Dennoch reichen die bisher gewonnenen Erkenntnisse zu einer Überführung der Täter nicht aus. Angesichts des Umstands, dass den Beschuldigten der oben genannte Artikel des Nachrichtenmagazins "Focus" vom 8.November 2003 bekannt ist, ist davon auszugehen, dass sich die Beschuldigten am Telefon nicht direkt zu den Straftaten äußern. Daher bleibt nur noch die Möglichkeit, durch offene Maßnahmen den Sachverhalt aufzuklären.

O-Ton: Bernhard
Ich hab dann mich sehr schnell entschieden, die Tür aufzumachen, obwohl das schon eine recht robuste Tür ist, aber die haben deutlich signalisiert, dass sie sonst selbst die Tür aufmachen. Die waren ja auch bewaffnet und haben Waffen getragen und schusssichere Westen. Das waren ja auch viele, also ich hab das in dem Moment natürlich nicht genau gesehen, weil man ja auch überrascht und schockiert ist. Und dann hab ich geöffnet und dann waren die auch sehr aufgeregt und ich auch (lacht) und die haben mich dann da gleich so geschnappt und zur Zimmerwand geführt und da mich an die Wand gestellt, da musste ich da so stehen mit meinem Handtuch. Und die anderen Polizisten sind dann so durch die Wohnung gestürmt und haben sich in allen Zimmern verteilt und riefen dann immer "gesichert, gesichert, gesichert!"

Erzähler:
Die Hausdurchsuchung wurde von 7:35 bis 15:00 Uhr von einer 30-köpfigen Einsatztruppe durchgeführt. Sie dauerte über sieben Stunden.

Sprecher:
Bundesgerichtshof, Ermittlungsrichter. Die Durchsuchung wird gemäß §§ 33 Absatz 4 StPO ohne vorherige Anhörung des Beschuldigten nach §§ 103, 105 Abs.1 usw. zugelassen zur Sicherstellung von Beweismitteln, insbesondere Selbstbezichtigungsschreiben, Adress- und Telefonverzeichnissen, Material und Anleitungen zum Bau von Brandsätzen so wie von anderen zur Begehung von Brandschlägen erforderlichen Gegenständen und Unterlagen.

O-Ton: Bernhard
Mein Computer und der Computer meiner Freundin und dann auch noch andere Computer, also alte, abgelegte Geräte und auch dann solche Palm, Handhelds und verschiedene Handys und externe Festplatten, USB-Sticks und.... also im Prinzip wurde alles mitgenommen, was mit Strom geht.

Erzähler:
Und zuletzt wurde Bernhard einer erkennungsdienstlichen Behandlung zugeführt.

O-Ton: Bernhard
Da kam dann eine neue Truppe, die dann wiederum sehr sehr aufgeregt waren, und die mich dann aus der Wohnung mit Handschellen und 15-köpfiger Begleitung bis zu einem Gefangenentransporter gebracht haben, wo ich dann in einem kleinen Metallschrank Platz nehmen musste und dann eben zum Landeskriminalamt gefahren wurde. Da wurde ich dann fotografiert, gemessen, Fingerabdrücke wurden genommen und dann so eine Kartei angelegt. Und dann hat eine Beamtin des Bundeskriminalamts so ein Protokoll aufgesetzt und mich dann gefragt, ob ich mich zu der Sache äußern wollte. Und dann habe ich gesagt, dass ich das nicht möchte und danach konnte ich dann nach Hause gehen.

O-Ton Demo
"Wir sind hier, wir sind laut, weil Ihr uns die Freiheit klaut...", "A - Anti ? Antifaschista", "wir sind hier..."

O-Ton: Bernhard
Am gleichen Abend, an dem auch die Razzia war, gab es dann eine recht große Demonstration in Kreuzberg abends. Da waren einige Tausend Leute, ja, und die sind dann durch den Kiez gezogen und haben dagegen protestiert. Da waren diese Durchsuchungen teilweise noch am Laufen, also hier waren die schon fertig, ich war da auch auf der Demo. Aber bei einem Freund von mir, da waren die noch dabei, da diese großen Papierhaufen zu sichten. Und die sind dann ganz schnell verschwunden, als sie hörten, dass da eine Demo kommt (lacht).

Erzähler:
Ich war erstaunt, wie gelassen Bernhard über diese Festnahme sprach. War das Galgenhumor? Oder war er doch irgendwie stolz, dass sie ihn nicht kriegten?
Kurze Zeit später revidierte der Bundesgerichtshof seine eigene, jahrelange Praxis der Genehmigung von Überwachungsmaßnahmen und entzog der Generalbundesanwaltschaft die Befugnis zur weiteren Ermittlung. Es schien, als ob die Richter erst jetzt die Ermittlungsakten gelesen und einen Schreck bekommen hätten. Dazu bestand jeder Grund.

O-Ton: Würdinger
Die lassen das besonders bringen (lacht). Da kommt so ein kleiner Kleintransporter und bringt mir und dem mitverteidigenden Kollegen Sönkes äh Hilbrans eben dann einfach die Akten und dann auch den anderen Kollegen, die da irgendwie mitbeteiligt sind... dann wird die Runde gemacht in den Anwaltsbüro und die Unterlagen, sag ich mal, lasch abgeworfen.

Erzähler:
40 Aktenordner. 6 Meter Papier. 30 000 Seiten.

O-Ton: Bernhard
Zum Teil sind da ja dann auch Beobachtungen geschildert, oder auch recht detailliert, daraus geht dann schon hervor, dass die dann meinetwegen in der Kneipe am Nebentisch saßen, da gab 's in einem Protokollauszug, wo sie also da sich so saßen und die Ohren gespitzt haben, um da zu hören, was wir da sagen. Und das ist ihnen auch nicht ganz gelungen, weil es sehr laut war (lacht) in dieser Kneipe. Oder dann natürlich, weil die das ja auch mit diesen Videoaufnahmen gemacht haben. Da fragt man sich schon, wo sind denn jetzt diese Kameras? Die müssen ja, nach den Schilderungen ungefähr da sein, weil man ja aus den Protokollen lesen kann, was auf den Kameras zu sehen ist und daraus kann man schließen, von wo das gefilmt wird. Und da läuft man dann natürlich schon auch auf der Straße herum, wenn man nach Hause kommt, und denkt, wo könnte das jetzt versteckt sein.

Erzähler:
Arbeitskollegen und ihre Telefone wurden ebenso überwacht wie Freundin und Eltern. Den Ermittlern entgingen weder Privatreisen noch Buchkäufe, kein Essen mit Freunden, kein Gang zur Toilette und nicht die Besuche mit der Tochter auf dem Spielplatz - aber dass sie nichts fanden, konnte sie nicht davon überzeugen, ihren Verdacht einfach fallen zu lassen.

Musikakzent
Sprecher:
Bundeskriminalamt T 13. Aktenzeichen 2 BJs 48/012. 8.11.2005. Pinneberg betrag um 18:05 Uhr zusammen mit seinem Kind das Objekt Cuvrystraße. Er verließ es am 9.11. zusammen mit seinem Kind um 8:56 Uhr. Eine unmittelbare Tatbeteiligung des Pinneberg am Anschlag ist ausgeschlossen, es sei denn, er hat das Objekt in der Nachtzeit unbemerkt verlassen und betreten.

O-Ton: Bernhard
Also eine Sache, über die ich ganz schön gestaunt habe, das waren zwei Ordner, die hießen Finanzermittlung, in denen also wirklich alle Banktransaktionen der letzten 15 Jahre meines Lebens aufgeführt und analysiert waren, und dann zum Teil auch nachgeforscht worden war, wer Empfänger von Überweisungen war, oder wer eine Bareinzahlung bei einem Finanzinstitut vor 12 Jahren vorgenommen hat, das wurde dann alles ermittelt.

Erzähler:
In den Akten findet sich eine Begründung des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof für die Abhörungen. Das ist die Antwort auf meine wichtigste Frage, wie nämlich Bernhard in die Mühlen geraten ist.

Sprecher:
"Der Verdacht, dass die Beschuldigten Gründer der terroristischen Vereinigung sind, beruht auf dienstlichen Erkenntnissen, wonach diese drei Personen schon seit Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts als Aktivisten innerhalb der autonomen antiimperialistischen Szene aufgefallen sind. Einem Artikel in der linksradikalen Zeitschrift Interim zufolge hat einer von ihnen am 15. März 2000 unter dem Decknamen Antonio an einer Versammlung teilgenommen, die sich als Runder Tisch der Militanten bezeichnete. "Antonio" äußerte sich im Einzelnen zum Aufbau zündzeitverzögerter Brandsätze. Eine textvergleichende Analyse seiner Äußerungen erbrachte zahlreiche Parallelen in Argumentation und Diktion zu Grundsatzpapieren der terroristischen Vereinigung "militante gruppe"...

Erzähler:
Am 22. September 2008 wurde Bernhard darüber informiert, dass das Verfahren gegen ihn beendet sei. Kurze Zeit später machte einer der Ermittler vor dem Kammergericht Berlin in einem anderen Verfahren eine verblüffende Aussage: Das BKA selbst habe mit dem Ziel, Terroristen aus der Deckung zu locken, mit fingierten Artikeln in der Zeitschrift "Interim" an der Militanzdebatte teilgenommen. Sind damit die eigentlichen Schuldigen entlarvt?

O-Ton: Kalbitzer
Ich kann nur feststellen, seitdem hat es keine Anschläge beziehungsweise keine Selbsterklärungen mehr gegeben.

Erzähler:
Ich suchte jemanden, der meine Fragen beantwortet.

Frau:
Sie hatten angerufen wegen der Militanten Gruppe?

Erzähler:
Ja!

Frau:
Wir können dazu leider keine Auskunft geben. Es handelt sich ja um ein Verfahren, das nicht abgeschlossen ist.

Erzähler:
Doch, doch, die Geschichte, die wir erzählen, handelt von einem jungen Mann, dessen Verfahren abgeschlossen ist.

Frau:
Aber es gibt da ja noch Verfahren, die nicht abgeschlossen sind.

Erzähler:
Verstehe, so lange Sie ermitteln, brauchen Sie keine Fragen beantworten.

Frau:
Zur Arbeit des Verfassungsschutzes geben wir sowieso keine Auskunft, wir sind ja ein Geheimdienst.

Erzähler:
Ich glaube, Sie wollen nur nicht darüber reden, weil Ihnen die ganze Sache peinlich ist.

Frau:
Nein, das ist uns nicht peinlich.

Erzähler:
Ich würde gern einen Originalton fürs Radio haben, dass Ihnen das nicht peinlich ist und dass Sie keine Auskunft geben.

Frau:
Nein, das machen wir nicht.

Erzähler:
Dann muss ich unser Gespräch nachstellen.

Frau:
Wenn Sie das mit Ihrem journalistischen Ethos vereinbaren können.

Erzähler:
Die Geheimdienste haben fast 20 000 Mitarbeiter in 38 verschiedenen Behörden und verbrauchen im Jahr circa eine Milliarde Haushaltmittel. Und Befugnisse sind sozusagen der Treibstoff, der diesen Apparat am Leben hält.
Die Bundestagsgebäude, in denen der Abgeordnete Ströbele sein Büro hat, sind aus Glas und demonstrieren Transparenz.

O-Ton: Ströbele
Gerade dieser Fall zeigt auch, dass da immer wieder was außer Kontrolle gerät und ausufert. Auch für jemand, der sich jetzt seit zehn, fünfzehn Jahren intensiv mit den Geheimdiensten beschäftigt, beschäftigen muss, ist das ein ganz ungewöhnlicher Fall. Dass über so lange Zeit mit so wenig Anhaltspunkten dafür, dass konkret wirklich was vorliegt gegen den, was verbrochen worden ist, diese Maßnahmen aufrecht erhalten werden ? mit einem Riesenaufwand, muss man ja sehen, nicht nur Überwachung, Telekommunikationsüberwachung, sondern Videoüberwachung, acht Kameras, überall eingeschaltet, seine ganze Umgebung wird ständig abgeleuchtet und kontrolliert, da ist was außer Kontrolle geraten.

O-Ton: Bernhard
Das überlegt man sich ja dann auch, warum machen die das eigentlich? Da kann man sich dann verschiedene Hypothesen ausdenken. Man kann sagen, das ist so eine Art Reflex oder das ist ein Missverständnis. Ich neige ja zu der These, dass die das tatsächlich alles glauben, was die da tun.

Erzähler:
Kann das sein? Wenn man lange sucht und nichts findet, sollte man doch vermuten dürfen, dass man auf der falschen Fährte ist. Um das Rätsel zu lösen, frage ich Barbara Krahé, Psychologie-Professorin an der Uni Potsdam. Sie beschäftigt sich mit dem Phänomen der selektiven Wahrnehmung.

O-Ton: Krahé
Also es gibt die berühmte Hypothesentheorie der Wahrnehmung aus den 1940er-Jahren, die eben dadurch das Denken revolutioniert hat, dass sie gesagt hat, auch unsere Wahrnehmung ist eben nicht nur durch die reizaufnehmenden Organe bestimmt, sondern durch das, was wir im Kopf vorher an Erwartungen haben. Im Wesentlichen geht es darum, wie unsere Vorerwartungen unsere Aufnahme und Verarbeitung von Reizinformationen lenken.

Musik Pippi Langstrumpf
Zweimal drei macht vier.
Wi di wi di wir und drei macht Neune.
Ich mach mir die Welt
wi di wi di wie sie mir gefällt.
Hey Pippi Langstrumpf....

Erzähler:
Beim Studium der Akten fiel mir auf, dass nur von Internet, Videoüberwachung, Mobiltelefonen, nicht aber von Wanzen-hinter-Fußleisten-platzieren oder vom Briefpostöffnen die Rede war. Sind unsere geheimen Jungs so vernarrt in ihr technisches Spielzeug?

O-Ton: Ströbele
Da gab 's zunächst - also nehm' se mal die Online-Durchsuchung - Bereiche, wo man gar nicht wusste, wie man rechtlich damit umgehen soll. Was ist das eigentlich? Ist das ne quasi Telefonüberwachung? Nein, ist es auch nicht richtig. Wenn ich jetzt nen Trojaner irgendwo.... hinsetze, der dann alles mir rüberspielt, was der Mensch da auf dem Computer behandelt oder gespeichert ist, das ist ja mehr als ne Telefonüberwachung.
Da musste man erst auf die Idee kommen, und das Bundesverfassungsgericht hat das ja in einer ganz zentralen Entscheidung als neues Grundrecht quasi erfunden, und hat gesagt: "Nein, es gibt da noch mal einen ganz besonderen Bereich, der muss besonders geschützt werden nach der Verfassung." Man hat das auch aus der Würde des Menschen, aus dem Schutz der Würde des Menschen hergeleitet. Da muss man jetzt genau aufpassen, die technischen Möglichkeiten, nutzen, die es ja immer wieder gibt, ich bin da meistens völlig überfragt, aber ich nehme das zur Kenntnis, technische Möglichkeiten nutzen, um das in den Griff zu bekommen.

Erzähler:
Kurz gefasst: Polizei und Geheimdienste nehmen, was sie kriegen, solange Bürger, Gesetzgeber und Verfassungsgericht die Breschen in der Verteidigungsfront ihrer Rechte, die durch moderne Kommunikationstechniken entstehen, nicht schließen.

O-Ton: Bernhard
Wir werden klagen, also wir werden diese ganzen Maßnahmen klagen, also sowohl gegen den Verfassungsschutz als auch gegen das Bundeskriminalamt.

O-Ton: Ströbele
In den Geheimdiensten selbst wird man versuchen, das zu rechtfertigen. Hier kommt ja noch dazu, dass hier versucht worden ist, nicht nur versucht, sondern erfolgreich durchgeführt worden ist, dass der Geheimdienst die Strafverfolgungsbehörden, die ja eigentlich unabhängig davon agieren müssten, nicht nur angeleitet hat, sondern geradezu angewiesen hat: Ihr müsst jetzt weitermachen, Ihr müsst die Strafverfolgung weiterführen.
Das Bundeskriminalamt, die Ermittlungsbehörden, die Bundesanwaltschaft war ja zwischenrein immer mal der Meinung: Eigentlich haben wir nix, finden wir nix, ist da nix möglicherweise, und dann sagt der Geheimdienst: Auf Grund von Erkenntnisquellen, die sie aber offensichtlich denen wiederum nicht geben, nein, nein, wir sagen Euch: Da ist was dran. Macht weiter, macht weiter, ihr dürft das auf gar keinen Fall einstellen.

O-Ton: Würdinger
Also ich glaube, dass die öffentliche Diskussion sich darüber wieder erhitzen wird, dass das so nicht geht. Aber dass die Bundesanwaltschaft, die ja immer in den ganzen Ermittlungen ein sehr sehr weites, oder ein sehr großes Gewicht hat, ja, dass die weiterhin ihre flächendeckende Überwachung und ihre Großzügigkeit in der Annahme eines dringenden Tatverdachtes oder auch eines Anfangsverdachts schon immer sehr großzügig bleiben werden.

Musikakzent

O-Ton: BND
Und da hat sich in der Tat viel verändert. Das heißt man ist inzwischen mehr auf die Öffentlichkeit zugegangen. Wir haben inzwischen beispielsweise einen BND-Shop, der wird, so denn alles planmäßig weiter verläuft, in cirka 3 - 4 Jahren auch endgültig in der neuen Liegenschaft an der Chausseestraße dann geöffnet werden für die Öffentlichkeit, und dort kann man schon das Eine und das Andere mit Augenzwinkern denk ich, kaufen, was so 'n bisschen doch dazu beiträgt, den BND als das erscheinen zu lassen was er auch tatsächlich ist, nämlich eine Behörde mit einem besonderen Auftrag, die sich aber nicht hinter hohen Mauern verschanzen muss.

Absage
"Kafka, Kanzler und da knackt nichts"
Aus dem Inneren eines Überwachungsstaates
Ein Feature von Holger Siemann
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2009
Es sprachen: Hüseyin Michael Cirpici, Jochen Kolenda, Caroline Schreiber und Susanne Reuter

Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Andreas Räder
Regie: Thomas Wolfertz
Redaktion: Hermann Theißen

Musikakzent

Fußnoten
(1) siehe http://www.bmj.bund.de/files/-/2088/TK%C3%9C-Zahlendiagramme%202005.pdf
(2) eigene Berechnung: 35.000 Anordnungen multipliziert mit 20 = 700.000, unter der Voraussetzung, dass die Anordnungen jeweils nur ein Telefon betreffen (was eher mehr sein dürften) dazu kommen die TKÜ der Geheimdienste
(3) zit. aus "Rechtswirklichkeit und Effizienz der Überwachung der Telekommunikation... Abschlussbericht", Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht, Freiburg 2003: Abb. 34, Seite 124


Quelle:

http://einstellung.so36.net/de/ps/1716

Deutschlandfunk

 

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