Öffentliche Stellungnahme des IFA-Kongresses in St. Imier 2012

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Vom 09.08. – 12.08.2012 fand in St.Imier nicht nur das anarchistische Welttreffen, sondern auch der nunmehr 9. Kongress der Internationalen der anarchistischen Föderationen (IFA) statt. Der Kongress ist die Vollversammlung der IFA und kommt alle 4 Jahre zusammen. Auch in diesem Jahr, wurden wieder Föderationen aus der ganzen Welt begrüßt und zum Abschluss eine Erklärung des Kongresses an die Öffentlichkeit abgegeben.

 

An alle anderen ausgebeuteten und unterdrückten Menschen auf der Welt!


Das anarchistische Welttreffen in St. Imier hat es einer Menge Gruppen und Aktivist*innen, egal ob Mitglieder oder Nicht-Mitglieder der Internationalen der Anarchistischen Föderationen (IAF-IFA), ermöglicht, einander zu treffen und sich auszutauschen. Die IFA möchte an dieser Stelle ein Resümee aus dem Erlebten der letzten Tage ziehen.

 

Vor 140 Jahren wurde an diesem Ort die internationale „anti-autoritäre“ Bewegung begründet. Sie spielte eine tragende Rolle bei der Entstehung einer organisierten anarchistischen Bewegung. Sie arbeiteten an grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen und in diesem Sinne haben auch wir als IFA an dem Internationalen Treffen in St. Imier teilgenommen. Was wir anbieten können, ist die beste Gesellschaftsform, zu der die Menschheit fähig ist. Wir wollen eine Welt erreichen, in der es eine vollkommene ökonomische Gleichberechtigung gibt, was für uns bedeutet, dass es kein Privateigentum geben sollte, sondern dass wir alles gemeinschaftlich produzieren und besitzen, ohne jede Notwendigkeit für Geld.

 

Neben der wirtschaftlichen Gleichheit sollte es jedoch auch ein Maximum an persönlicher Freiheit geben. Das bedeutet, dass wir so leben, wie wir möchten, und niemand uns dazu zwingen kann, etwas zu tun, was wir nicht möchten, oder uns davon abhalten kann zu tun, was wir wollen. Es sei denn, es würde die Freiheit von Anderen einschränken. Auf diese Weise gäbe es keine Hierarchien oder Unterdrückung jedweder Art. Es bestünde keine Notwendigkeit für einen Staat oder eine Polizei, weil wir keine Kontrolle oder gar Zwang bräuchten. Es gäbe keine Gründe für Kriege oder globale Konflikte, weil wir keine politischen Feinde hätten und auch nicht den Wunsch oder das Bedürfnis danach, irgendjemand die Ressourcen wegzunehmen. Das ist es, was wir Anarchismus nennen.

 

Anarchist*innen lehnen die Idee ab, dass die Unterdrückung der Anderen in der menschlichen Natur liegt und dass wir ungleich sind. Es waren Herrschende und Staaten, die dieses System die gesamte Geschichte hindurch aufrechterhalten haben. Diese Lüge rechtfertigt den Kapitalismus als „natürliches“ System. Wir hören, dass es eine Krise des Kapitalismus gibt, aber der Kapitalismus ist die Krise. Geschichtlich betrachtet ist es ein modernes System, welches bereits vor der aktuellen Situation die Menschheit unzählige Male in die Knie gezwungen hat. Menschen auf der ganzen Welt durchschauen jedoch diese Lüge und lehnen sich gegen Staaten und den Kapitalismus auf wie nie zuvor. Sie streben danach, ihre Bemühungen über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus abzustimmen. Dieser Umstand macht eine anarchistische Gesellschaft wahrscheinlicher als je zuvor.

 

Aber der Anarchismus ist kein Utopismus. Es ist offensichtlich, dass sich zuerst viele Dinge verändern müssen, wenn eine solche Gesellschaft funktionieren soll. Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, einen Beitrag zur Verwirklichung dieser gewaltigen Veränderungen zu leisten und eine hilfreiche Analyse anzubieten. Die Arbeiter*innenklasse, womit wir alle ausgebeuteten und verarmten Menschen meinen, uns selbst eingeschlossen, muss zu einer Massenbewegung werden. Entscheidend ist, dass der Kampf nicht neuen Anführer*innen mit alten Ideen anvertraut wird, sondern ein eigener Weg festgelegt wird.

 

Soziale Bewegungen üben heutzutage die Verwendung neuer Methoden der Organisierung, die stark am Anarchismus angelehnt sind, zum Beispiel die direkte Aktion gegen Hindernisse bei ihrer Entwicklung und das Experimentieren mit nicht-hierarchischen Organisationsformen. Sie umfassen Student*innenbewegungen, Aktionen gegen die Zerstörung der Umwelt und gemeinschaftlicher Ressourcen, antimilitaristische Kämpfe, Kämpfe gegen G8-Gipfel und den Kapitalismus im Allgemeinen und ganz aktuell, den Kampf gegen die Sparpolitik, der die internationale Arbeiter*innenklasse vereint. Occupy, die Indignad@s und ähnliche selbstorganisierte Bewegungen gegen das Bankensystem haben die Bedeutung der direkten Aktion zur Rückeroberung des öffentlichen Raumes aufgezeigt. Die Aufstände von unterdrückten, indigenen Menschen in den letzten 10 Jahren, wie zum Beispiel der Zapatistas, haben die neuen sozialen Bewegungen begeistert und auch den Anarchismus beeinflusst. Diese neuen Bewegungen bringen große Versammlungen hervor, die ihre Entscheidungen gemeinsam und ohne Anführer*innen treffen. Sie praktizieren die horizontale Entscheidungsfindung. Sie vernetzen sich föderalistisch als Organisationen mit gleichem Status ohne ein entscheidungstreffendes Gremium in ihrer Mitte.

 

Diese Versuche erreichen aber häufig nicht das, was möglich wäre, einfach weil entscheidende gesellschaftliche Veränderung es auch erfordern, dass wir uns als Individuen verändern. Wir streben danach frei und gleich zu sein, aber es muss auch eine freiwillig übernommene, persönliche Verantwortlichkeit und Selbstorganisation geben. Die Arbeiter*innenklasse selbst umfasst Trennungen, Unterdrückungsmechanismen und Hierarchien, die nicht einfach deswegen verschwinden, weil wir gleich und herrschaftsfrei sein wollen. Als ein Teil der Arbeiter*innenklasse kämpfen wir gegen unsere eigenen rassistischen, sexistischen und patriarchalen Verhaltensweisen. Ebenso bekämpfen wir die Annahme, dass Heterosexualität die Norm sei oder dass klar definierte Kategorien wie „männlich“ und „weiblich“ „normal“ seien. Wir müssen Diskriminierungen und Stereotypisierung aufgrund des Alters und der Fähigkeiten identifizieren und bekämpfen. Solange wir verinnerlichte Ungleichheiten und die Anerkennung von Hierarchien nicht erkennen und überwinden, können wir nicht frei sein. Daher decken wir diese Missstände in sozialen Bewegungen, in Gewerkschaften und in der Gesamtgesellschaft auf und treten ihnen entgegen.

 

Nicht zuletzt muss die Arbeiter*innenklasse selbst Herrschaft und Kapital zu Fall bringen, um diese freie und gleiche Gesellschaft entstehen zu lassen. Wir nennen dies eine „soziale Revolution“. Innerhalb der Arbeiter*innenklasse versuchen Anarchist*innen das Selbstvertrauen in unsere Fähigkeiten aufzubauen, so schnell wie möglich und mit der geringsten Gewalt erfolgreich zu sein. Wir erreichen dies durch die Zusammenarbeit mit anderen Arbeiter*innen, um kleine Siege zu erzielen. Das schaffen wir nur durch direkte Aktionen und nicht durch Reformen und Verhandlungen mit Bossen. Direkte Aktion bedeutet nicht zu warten, sondern sich zu nehmen, was uns allen gehören sollte. Wir müssen die verschiedenen Kämpfe durch gegenseitige Hilfe unterstützen. Das bedeutet praktische Solidarität in Zeiten der Not, aber auch der Hilfe im Alltag. Das zeigt den Menschen, wofür wir stehen. Wir leben den Anarchismus insoweit es möglich ist bereits heute, und zwar dadurch, wie wir uns organisieren und wie wir kämpfen, um zu zeigen, dass eine anarchistische Gesellschaft möglich ist.

 

Wir ziehen den Hut vor den Genoss*innen der Vergangenheit und vor deren Arbeit und ihren persönlichen Opfern, die sie für die Emanzipierung der Menschen gebracht haben. Wir führen ihre Arbeit weiter und entwickeln kritisch ihre Ideen und passen sie an unsere Situation an. Sie würden ebenso den Hut vor der gesamten Arbeiter*innenklasse an diesem Punkt ihrer Geschichte ziehen, in ihrem Streben nach echter Freiheit und Gleichheit.

 

Die IFA hat sich während der letzten 5 Tage mit vielen Themen befasst und im Besonderen mit:

 

  • Wirtschaftskrise und soziale Kämpfe
  • Internationale Solidarität
  • Antimilitarismus
  • Anti-AKW-Bewegung und alternative Energien
  • Migration

Mit dieser Grundlage hat die IFA ihre Aktivitäten neu belebt und lädt alle unterdrückten Menschen ein, für die Veränderung der Gesellschaft zu kämpfen, für den Anarchismus.

 

Die Internationale der Anarchistischen Föderationen (IAF-IFA), 12. August 2012

 

Solidarität mit den in London-Heathrow festgenommenen Genoss*innen!

 

Gestern erreichte das FdA die Nachricht, dass 2 unserer Genoss*innen von der AF Britain auf ihrem Rückweg von St.Imier am Londoner Flughafen Heathrow festgehalten, erkennungsdienstlich behandelt und weiter schikaniert wurden. Das Forum deutschsprachiger Anarchist*innen möchte an dieser Stelle seine uneingeschränkte Solidarität mit den Genoss*innen zum Ausdruck bringen. Weitere Informationen zu dem Vorfall findet ihr hier und hier.


Niemand ist allein!

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"Die Arbeiter*innenklasse selbst umfasst Trennungen, Unterdrückungsmechanismen und Hierarchien, die nicht einfach deswegen verschwinden, weil wir gleich und herrschaftsfrei sein wollen. Als ein Teil der Arbeiter*innenklasse kämpfen wir gegen unsere eigenen rassistischen, sexistischen und patriarchalen Verhaltensweisen. Ebenso bekämpfen wir die Annahme, dass Heterosexualität die Norm sei oder dass klar definierte Kategorien wie „männlich“ und „weiblich“ „normal“ seien. Wir müssen Diskriminierungen und Stereotypisierung aufgrund des Alters und der Fähigkeiten identifizieren und bekämpfen. Solange wir verinnerlichte Ungleichheiten und die Anerkennung von Hierarchien nicht erkennen und überwinden, können wir nicht frei sein. Daher decken wir diese Missstände in sozialen Bewegungen, in Gewerkschaften und in der Gesamtgesellschaft auf und treten ihnen entgegen."

Den Inhalt dieses Absatzes erachte ich als sehr wichtig. Ich würde es begrüßen, wenn dies sich stärker in Veranstaltungs-Programm und Struktur niederschlägt. D.h. u.a. barrierefreier Zugang, Schutzräume und Awareness von Beginn an, Workshops zu Sexismus, Rassismus, Ableism, Homo/Trans*phobie ... unter Involvierung Betroffener (nicht nur dort), vorherrschendem Speziesismus ...

 

@FdA-IFA

"Arbeiter*innenklasse"
Welches Verständnis habt Ihr von diesem von Euch verwendeten Begriff?

Erstmal vielen Dank für den Kommentar. Tatsächlich war es so, dass wir uns im Vorfeld des Treffens darum bemüht haben, ein selbst erarbeitetes Awareness-Konzept ins Orga-Komitee hineinzutragen. Da wir alllerdings selbst erst sehr spät überhaupt zum Treffen mobilisiert haben und nicht direkt Teil des Orga-Komitees waren, konnten wir nur Vorschläge bringen, die dann mehr oder weniger verhallten.Trotz der Widrigkeiten hat sich dann aber spontan eine Awareness-Gruppe zusammengefunden und den Gedanken in das Treffen tragen können. Wir sind in jedem Fall der Meinung, dass solch ein Konzept und auch die entsprechenden Inhalte bereits in der Konzeptionsphase solcher Treffen berücksichtigt werden sollten.

Was deine zweite Frage angeht, so möchten wir zunächst auf die bereits im Text gegebene Definition verweisen ("Die Arbeiter*innenklasse, womit wir alle ausgebeuteten und verarmten Menschen meinen, uns selbst eingeschlossen"). Das können wir auf jeden Fall unterstützen. Da wir innerhalb des FdA (oder gar in der IFA) keine gesonderte Diskussion um diesen Begriff geführt haben, wäre es jetzt vermessen, im Namen der gesamten Organisation sprechen zu wollen, wir haben aber vermutlich weniger das klassische Verständnis dieses Begriffs im Kopf.

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Ich übersah die Definition im Text seltsamerweise, pardon. Dennoch danke für die Klarstellung. Als ich "Arbeiter_innenklasse" las, las ich es zunächst auch mit dem klassischen Verständnis. Welches in einer postmodernen Gesellschaft wohl nicht mehr allzu treffend ist.

Wie siehst Du denn die thematische Bandbreite in Hinsicht der Kritik aus meinem vorherigen Kommentar? Zur Barrierefreiheit habe ich die Szene im Kopf, in der ein gehbehinderter Mensch, der die Hilfsangebote von Anderen ausschlug, sich am Geländer die Treppe hochzog. Ich denke, gleichberechtigte Zugänglichkeit zu Räumlichkeiten und Veranstaltungen sieht anders aus.