"Anarchisten bringen neue Ideen"

Erstveröffentlicht: 
10.08.2012

Der Würzburger Politikwissenschaftler Michael Becker zum Welttreffen in der Schweiz

„Diverse Wege des Widerstands“ gegen gesellschaftliche Übel. Mit diesen Worten beschreibt Cheforganisator Michel Némitz, worum es gerade bei einer Veranstaltung in der Schweizer Stadt Saint-Imier geht. Noch bis zum 12. August findet dort eine Art „Welttreffen des Anarchismus“ statt.

Erwartet werden bis zu 3000 Teilnehmer aus der ganzen Welt. Es gibt Vorträge über den arabischen Frühling und seine Folgen, den Kampf gegen den Rechtsextremismus und die Schuldenkrise in der Eurozone. Im Gespräch mit dieser Zeitung erklärt Michael Becker, Politikwissenschaftler an der Universität Würzburg, wie er den Anarchismus beurteilt und ob eine Gefahr von ihm ausgeht.

 

Frage: Es gibt viele verschiedene Meinungen und Definitionen zum Thema Anarchismus. Deshalb eines vorweg: Was sind eigentlich Anarchisten und was wollen sie?

Michael Becker: Grundsätzlich gibt es nicht „die Anarchisten“. Was Anarchisten sind und was sie wollen, hängt vom Kontext ab. Die Leute, die sich derzeit in der Schweiz treffen, wollen zum Beispiel etwas ganz anderes als die Anarchisten früher. Die Menschen, die sich im 18. und 19. Jahrhundert gegen Monarchie und Feudalismus (in Russland), also generell gegen die bevormundende Herrschaft gerichtet haben, wollten Herrschaftsfreiheit. Sie haben damit also radikal gefordert: Dieser Staat muss weg! Eine solche Forderung kann heutzutage gegenüber liberalen Rechtsstaaten nicht mehr aufrecht erhalten werden.

 

Was bedeutet das denn für die Menschen, wenn es auf einmal keinen Staat mehr gibt? Wie muss man sich eine Gesellschaft ohne Staat vorstellen?

Becker: Das Zusammenleben in einer Gesellschaft und individuelle Freiheit sind nur mit rechtlichen Regeln möglich, die der Staat notfalls mit Zwang durchsetzt. Gäbe es diese Regeln nicht, müsste jeder für sein Recht selbst sorgen. Das würde dann bedeuten, dass sich der Stärkere zwangsläufig durchsetzt nach dem Motto „Survival of the fittest“ (das Überleben der Stärksten). Wie so etwas dann aussieht und dass das nicht funktionieren kann, sieht man ja bei den sogenannten „failed states“ (gescheiterte Staaten) zum Beispiel in Somalia. Das kann vernünftigerweise auch kein Anarchist wollen.

 

Was wollen denn dann die Anarchisten von heute, also zum Beispiel die, die zum Anarchisten-Treffen in die Schweiz reisen?

becker: Heute gibt es viele verschiedene Zielsetzungen. Das ist sehr diffus. Man kann sagen: Während früher pauschal Herrschaftsfreiheit gefordert wurde, ist es heute eher eine Art Modifizierung der bestehenden Herrschaft, die die Anarchisten wollen. So sind sie zum Beispiel gegen den Finanzkapitalismus. Sie kritisieren die Vorherrschaft des ökonomischen Systems gegenüber der Politik, also den Umstand, dass die Politik nicht mehr selbst entscheiden kann, sondern nur noch Erfüllungsgehilfe des Wirtschaftssystems ist. Viele europäische Regierungen, auch die deutsche, sind tatsächlich allzu schnell bereit, sich dem vermeintlich unausweichlichen Diktat der Märkte zu beugen. Anarchisten lehnen überdies Patriarchat, Sexismus und Rassismus ab – sie sind generell gegen jede Form von Unterdrückung.

 

Das ist grundsätzlich nichts Schlechtes. Die Schuldenkrise ist ja auch ein aktuelles Thema. Man beachte zum Beispiel die Occupy-Bewegung.

Becker: Das Problem ist, es gibt viele Dinge, die die Anarchisten ablehnen. Im Gegenzug aber wenige konkrete beziehungsweise umsetzbare Problemlösungen. Man kann nicht einfach nur auf die Banker zeigen und sagen: „Die da drüben sind die Bösen.“ Denn vom Finanzkapitalismus profitieren ja durchaus viele sogenannte einfache Bürger. Man denke da zum Beispiel an die vielen kleinen Aktionäre und an die private oder betriebliche Altersvorsorge, die über die unterschiedlichsten Finanzprodukte abgewickelt wird.

Trotzdem sehe ich auch positive Punkte beim Anarchismus. Zum Beispiel die große Affinität zur Freiheit des Einzelnen. In diesem Zusammenhang ist es übrigens kein Zufall, dass das Treffen gerade in der Schweiz stattfindet. Die Schweizer sind von ihrer Geschichte her Freiheitsapostel, wie man an Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ sehen kann. Der Anlass für das jetzige Welttreffen ist ein Jubiläum: Vor 140 Jahren kamen in einem Gasthof in Saint-Imier Anarchisten zu einem Weltkongress zusammen. 1872 riefen sie die Antiautoritäre Internationale aus, die sich als Konkurrenzveranstaltung zur von Karl Marx geführten Sozialistischen Internationale verstand.

 

Sind die Anarchisten gefährlich für unser Rechts- und Wirtschaftssystem?

Becker: Meiner Meinung nach geht von nicht gewaltbereiten Anarchisten heute keine Gefahr aus. Ganz im Gegenteil. Ich sehe sie als belebendes Element einer intakten politischen Kultur. Sie sind eine Minderheit, die ihre Positionen artikuliert und die Mehrheit dazu bringt, ihre Auffassungen zu überdenken. Der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch sagte bereits vor der weltweiten Finanzkrise, dass wir in einer Art Post-Demokratie leben. Demnach werde die Demokratie durch die Ökonomie ausgehöhlt und es gebe keine wahre Mitbestimmung der Bürger mehr. Crouch sagt, dass aus diesem Grund etwas getan werden muss. Doch wie sieht eine Lösung aus? Hier könnten Anarchisten zumindest neue Ideen bringen.

 

Warum besuchen Ihrer Meinung nach so viele Menschen die Veranstaltung in der Schweiz?

Becker: Alternatives Denken, quer denken oder das undenkbare Denken übt einen gewissen Reiz aus. Die Menschen, die zu so einer Veranstaltung gehen, haben Lust am Unkonventionellen. Außerdem haben sie den Anspruch, nicht bloß über Missstände zu klagen, sondern etwas dagegen zu unternehmen. Eine Teilnahme am Anarchisten-Kongress ist auch als symbolischer Widerstand gegen als untragbar empfundene herrschende Verhältnisse zu verstehen.

 


 

Michael Becker

Der Politikwissenschaftler Michael Becker ist seit dem Wintersemester 2007/2008 Lehrkraft für besondere Aufgaben mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politikwissenschaft und Sozialforschung an der Universität Würzburg. Er hält unter anderem Veranstaltungen zu den politischen Theorien der Moderne und der Postmoderne. Becker hat die Lehrbücher „Grundstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland“ und „Politische Philosophie“ verfasst. FOTO: Becker

 

Das Gespräch führte Kerstin Fellenzer

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1. Der Artikel ist nicht selbstgeschrieben, wie es das Indymedia-Konzept fordert, sondern ein Artikel aus der Mainpost.

 

2. Woran ist u.a. die bürgerliche Propaganda im Text auszumachen?

"Man kann sagen: Während früher pauschal Herrschaftsfreiheit gefordert wurde, ist es heute eher eine Art Modifizierung der bestehenden Herrschaft, die die Anarchisten wollen."

Anarchismus ist nicht gleich Reformismus

"So sind sie zum Beispiel gegen den Finanzkapitalismus."

Anarchismus ist antikapitalistisch. Hier unterstellt Becker verkürzte Kapitalismuskritik.

"Dieser Staat muss weg! Eine solche Forderung kann heutzutage gegenüber liberalen Rechtsstaaten nicht mehr aufrecht erhalten werden."

Anarchismus ist fortwährend gegen den Staat.

"Das Zusammenleben in einer Gesellschaft und individuelle Freiheit sind nur mit rechtlichen Regeln möglich, die der Staat notfalls mit Zwang durchsetzt."

Bürgerlicher Pro-Staat-Scheiß.

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Solche Artikel dienen der Dokumentation

... das habe ich übersehen. Danke für den Hinweis.

 

Wozu dient eine Dokumentation eines solchen Artikels?

Wir leben nun einmal nicht in der Anarchie und die Darstellung unserer Bewegung in der bürgerlichen Presse ist wichtig zur Beurteilung unserer Außenwirkung.

du musst wissen was andere über dich denken um dein denken und handeln weiterentwickeln und kritisch reflektieren zu können.