Deutscher Wohlstandchauvinismus gegen Steuern, Schulden, Sozialismus formiert sich

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In München und in Berlin gab es in den letzten Tagen zwei Demonstrationen gegen den Euro-Rettungsschirm bzw. gegen die „EU-Diktatur“ oder „EUdSSR“ wie es unter EU-Feinden häufig heißt. Bei genauerer Betrachtung wer dahinter steckt, führt eine Spur auch nach Stuttgart.

 

Es gibt sicher gute Gründe, die gegen die „Europäische Union“ (EU) und ihre Finanzpolitik sprechen. Beispielsweise die deutsch-französische Hegemonie innerhalb der EU, die todbringende Flüchtlingspolitik der EU, ihr Auftreten als wirtschaftliche Weltmacht, die ersten Schritte als eigenständige militärische Großmacht, ihre kapitalistische Verfasstheit oder generell die Verfasstheit der EU als (Über-)Staat bzw. Staatenbund, die jede Form von echter Demokratie verhindert.

Andererseits gibt es auch allerhand reaktionäre und nationalistische Motive für das Feindbild EU. Nationalistisch gesinnte Gruppen und Einzelpersonen sehen in der EU eine Institution, in der ihr Nationalstaat sich auflöst und der durch seine erweiterte Reise- und Ansiedlungsfreiheit innerhalb der EU zu Auflösung der „völkischen Substanz“ ihrer Völker beiträgt. 

 

Teile der deutschen Mittelschicht beklagen sich aus wohlstandschauvinistischer Sicht, dass „ihre Steuergelder“ für Transferleistungen verwendet werden und hätten gerne die Deutsche Mark (DM) zurück. Fast immer ist diese Klage unterlegt mit einem rassistischen Ressentiment gegen die „faulen Südländer“ und „Pleitegriechen“, die „unsere Steuergelder“ verpulvern. Bekanntester Ausdruck dieser Haltung dürfte der SPD-Sozialdarwinist Thilo Sarrazin sein mit seinem neuen Buch „Europa braucht den Euro nicht“.
Die  Kritik an den EU-Finanztransfers und dem EU-Zentralismus verbindet sich bei einigen Marktradikalen mit dem Antikommunismus, was zu antikommunistischen Wortneuschöpfungen wie „EUdSSR“ oder „Steuersozialismus“ führt.
Weiterhin gibt es noch Verschwörungsideologie-Anhänger_innen, die in der EU eine Verschwörung (z.B. der Bilderberger) zur „Versklavung der freien Völker“ sehen. Als Gruppe wäre hier u.a. die rechtslastige Politsekte „Bürgerrechtsbewegung Solidarität“ (BüSo) zu nennen.

Praktischer Ausdruck dieser deutschnational, wohlstandstandchauvinistisch und verschwörungsideologisch motivierten EU-Feindschaft bildeten in den letzten Tagen zwei Demonstrationen. Am 2. Juni 2012 in München [1] und am 8. Juni 2012 in Berlin [2]. Bei beiden Demonstrationen waren auch Neonazis u.a. von der NPD anwesend. Die NPD veranstaltet zurzeit eine eigene Kampagne mit dem Titel „Raus aus dem Euro“ zum Thema, die inhaltlich anschlussfähig ist. 

Waren es in Berlin nur etwa 150 bis 300 Personen, die demonstrierten, so kamen in München etwa 1.000 Demonstrant_innen zusammen, vor allem weil die mitgliederstarken bayrischen „Freien Wähler“ mit aufgerufen hatten.
Davor hatten aber ähnliche Veranstaltungen bereits in Stuttgart und Karlsruhe relativ unbemerkt stattgefunden:

  • Am 17. September 2011 soll es eine wohlstandschauvinistische Kundgebung unter dem Motto „Kein Euro-Rettungswahnsinn! Bürgerentscheid jetzt!“ von dem „Aktionsbündnis Direkte Demokratie - Gegen den EURO-Rettungswahnsinn“ auf dem kleinen Schlossplatz in Stuttgart gegeben haben.
  • Das „Aktionsbündnis Direkte Demokratie – gegen den Euro-Rettungswahnsinn“ rief unter dem wohlstandschauvinistischen Motto „Nein zu Merkels Rettungspolitik und ihren Folgen – Ja zur Direkten Demokratie“ für den 5. November 2011 Stuttgart zu einer Kundgebung auf. Auch die rechtspopulistische Partei „Die Freiheit“ mobilisierte auf den Termin. Fotos der Veranstalter lassen von einer Teilnehmer_innen-Zahl von unter 50 Personen ausgehen; der Eigenangabe nach waren es 160. Für die selbsternannte „Bürgerbewegung“ Pax Europa nahm die rassistische Bloggerin „Kybeline“ an dem Aufmarsch der Euro-Gegner_innen teil.
  • Am 31. März 2012 fand in Karlsruhe, Friedrichsplatz die Anti-Euro-Demo des „Aktionsbündnis Direkte Demokratie“ statt. Es sprach u.a. der Verschwörungsideologe Daniel Neun von „radio utopia“.
  • Am 5. Mai 2012 fand in Stuttgart die „Demo gegen den ESM und für direkte Demokratie!“ statt. Als Redner traten Peter Boehringer (Vorstand der Deutschen Edelmetallgesellschaft, Berater und Partner des Bunds der Steuerzahler, Initiator von „Stop ESM“ und von „Holt unser Gold heim“, gab der „Preussisch Allgemeinen Zeitung“ 2012 ein Interview), Johannes Hüdepohl (Vorstand des „Bündnis Bürgerwille“), Leon Siegmund (Gründungsmitglied des „Aktionsbündnis Direkte Demokratie“) und Jens Loewe (unabhängiger OB-Kandidat für Stuttgart) auf, es moderierte Dr. Bernhard Seitz („Aktionsbündnis Direkte Demokratie“) und es wurde eine Grußbotschaft von Prof. Wilhelm Hankel (u.a. Buchautor im rechtslastigen KOPP- Verlag, Referent u.a. für die „Junge Freiheit“, den Kopp-Verlag und die REPs-nahe Gottlieb-Fichte-Stiftung) verlesen. Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages, Chefvolkswirt der Fraktion Die Linke) hatte „kurzfristig aus Gesundheitsgründen abgesagt“. Es sollen nach Eigenangabe 400 Personen an der Demo teilgenommen haben.


Das für die genannten Veranstaltungen verantwortliche „Aktionsbündnis Direkte Demokratie“ (ADD) hat seinen Sitz in Stuttgart und soll von zwei Kadern der „Par­tei der Ver­nunft” (PdV) gelei­tet werden bzw. gilt als anti-europäische Vor­feld­or­ga­ni­sa­tion der PdV. Auf jeden Fall sind die verschwörungsideologische und neoliberale „Partei der Vernunft“, eine „Deutsche Demokratische Partei – Landesverband BW“  und die rechtskonservative „Zivile Koalition“ Mitglied im „Aktionsbündnis Direkte Demokratie“.
Generell propagiert das ADD unschwer erkennbar einen Wohlstandschauvinismus und DM-Nationalismus. Nicht selten finden sich zusätzlich auch noch antikommunistische und verschwörungsideologische Ideologie-Fragmente. So referierte beispielsweise der  Verschwörungsideologe Walter K. Eichelburg am 30. Juli 2011 für das ADD im Literaturhaus im Bosch-Areal in Stuttgart zum Thema „Europa auf dem Irrweg – Hat der EURO eine Zukunft“.

 

Mit so einer ideologischen Gemengelage ist es kein Wunder, dass auch die rechtspopulistische Kleinstpartei „Die Freiheit“ zu ADD-Veranstaltungen mobilisiert oder das das „Aktionsbündnis Direkte Demokratie“ am 4. Februar 2012 in Leinfelden-Echterdingen Demonstrations-Flyer auf dem rechtspopulistischen Kongress „Europa vor dem Crash“ des Kopp-Verlags verteilte.

Am 16. Juni soll 12 die nächste Demonstration des Aktionsbündnis gegen den ESM in Karlsruhe am Marktplatz stattfinden. 

[1] Robert Andreasch Wenn die NPD nicht weiter auffällt, 02. Juni 2012, http://www.aida-archiv.de/index.php?option=com_content&view=article&id=2...
[2] Peter Nowak: Rechte und Marktradikale gegen EU-Rettungsschirm, 09.06.2012, http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/rechte-und-marktradikale-ge... Peter Nowak: "Sammeln zum Angriff gegen den Euro", http://www.heise.de/tp/blogs/8/152152; Roland Sieber: Attacke auf den Sozialstaat, 08. Juni 2012, http://www.publikative.org/2012/06/08/attacke-von-rechts-auf-den-sozials... Reflexion-Blog: Der Aufmarsch der Anti-Europäer, http://reflexion-blog.com/?p=2581

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Leon Siegmund als Gründungsmitglied des „Aktionsbündnis Direkte Demokratie“ ist auch Mitglied der marktradikalen Partei der Vernunft (PdV). Er studiert an der Uni Hamburg Philosophie und scheiterte als Einzelkandidat bei der Wahl ins Studierendenparlament mit einem Wahlprogramm gegen das Geldsystem und für eine Marktliberalisierung des Bildungssystems (Vernunft statt Chaos, Liste 11).

 

Für die Demo in Karlsruhe - zu der auch die Rassist*innen der Freiheit aufrufen - werden als Redner*innen angekündigt:

 

 - Beatrix von Storch von der rechtskonservativen und marktliberalen Lobbyorganisation „Zivilen Koalition“. Thema: Engagement und Aktionen der Zivilen Koalition und Abgeordneten-Check.

 

 - Michael Schlecht, MdB und Chefvolkswirt der Bundestagsfraktion Die Linke. Thema: Standpunkt der LINKEN zur Eurokrise und die bevorstehenden Neuwahlen in Griechenland.

 

 - Redner der Freien Wähler Baden-Württemberg [wird noch bekanntgegeben]

 

 - Verlesung des Grußwortes von Wilhelm Hankel

 

 - Volker Reusing vom Netzwerk Volksentscheid. Thema: Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.

 

 - Verlesung des Grußwortes von Carlos A. Gebauer, dem “Entdecker” des ESM

 

 - Josef Szoboszlai von der Partei der Vernunft. Thema: Bedeutung der direkten Demokratie und die Ursache des Übels ESM.

 

Die Moderation soll Marcus Anton vom Aktionsbündnis Direkte Demokratie übernehmen. Zwei Piraten haben nach Parteiinterner Kritik ihre Redeteilnahme abgesagt. Auf Facebook kündigen sich als Teilnehmer an: Edgar Baumeister, Landesvorsitzender der antimuslimisch-rassistischen Partei „Die Freiheit“, Hansjörg Schrade, Mitglied der Grünen und im Vorstand des  Aktionsbündnis Direkte Demokratie e.V. sowie Mitglieder der PdV.

Hier ein paar Links und Infos zu den in Karsruhe angekündigten Redner/innen:

http://pastebin.com/NCk63Fsu

Aus einem aktuellen Artikel auf dem Watchblog Publikative.org: Mit dem Chefvolkswirt der Linksfraktion im Bundestag war es dem selbsternannten Aktionsbündnis “Direkte Demokratie” zunächst gelungen, einen prominenten Redner aus dem linken Lager für eine Demonstration gegen den Euro-Rettungsschirm in Karlsruhe zu gewinnen. Doch der Bundestagsabgeordnete teilte auf Anfrage von Publikative.org mit, er werde doch nicht an der Kundgebung teilnehmen; das Aktionsbündnis betreibe eine “national-chauvinistische Rückbesinnung”, sagte Michael Schlecht zur Begründung.