Wer solche Freunde hat ...

Wenn's mal wieder länger dauert...

Eindrücke und polemische Bemerkungen zur Diskussion um die K-Frage und den „Kommenden Aufstand“ im Festsaal Kreuzberg (Berlin) am 10. Februar 2011.

Es ist den Veranstalter_innen des gestrigen Diskussionsabends über das Pamphlet „Der kommende Aufstand“ schon prinzipiell zu danken, dass sie mit dem Anspruch einer solidarischen Kritik angetreten sind. Die brauchbaren Punkte der Schrift sollten ebenso herausgearbeitet werden wie die kritikwürdigen; schön ausgewogen und bedacht sollte es zugehen.

 

 "Der beste Beitrag zum Kommenden Aufstand ..."

 

Nur der Delegierte der „Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft“ krähte durchweg auf dem gleichen Mist wie Thumfart, Kaube und Co. und – was er vorwegschickte – er selbst schon bei ähnlicher Gelegenheit; allein mit dem feinen Unterschied, dass er, anders als jene, gegen die Aufstände der letzten Zeit an der ‚richtigen Revolution‘ festhalten wolle, am richtigen Ding also, am Ding an sich.

 

Die bisherige Diskussion ist, wie viele, die ein bißchen mitgelesen haben, vielleicht bemerkt haben werden, dem gestern Abend besprochenen Text selten gerecht geworden. So kommt es, dass ich mich, trotz eigener Vorbehalte, in letzter Zeit des öfteren in der Situation fand, diesen zu verteidigen. Wollte ich ihn selbst auch lieber kritisch besprechen, so doch ungern unter seinem eigenen Niveau, sondern, so gut es eben geht, auf der Höhe des Textes selbst (was immer diese sei). Was in der hiesigen Presse bisher nicht zuletzt stattgefunden hat (der Text ist bekanntlich flächendeckend kommentiert worden), war eben weniger seine Diskussion als vielmehr deren beredte Vermeidung. Den Text überhaupt erst als diskussionswürdig zu erweisen, steht deshalb weitgehend aus, und die gestrige Veranstaltung war dazu sicher ein ernstzunehmender Beitrag.

 


Keine kleinbürgerlichen Hutmacher.

Dem „Unsichtbaren Komitee“ wurde wohlwollend bestätigt, dass ihm die Abschaffung des Kapitalismus ernsthaft angelegen sei und es dessen verkürzte Kritik nicht bediene. Bemerkenswert ist natürlich auch (und es wurde bemerkt), dass solche Ernsthaftigkeit heute überhaupt schon bemerkenswert ist.

 

Im dritten „Kreis“ des ersten Teils des Büchleins wird die „Arbeit“ in ihrer Doppelgestalt von Teilhabe und Ausbeutung direkt selbst vorgenommen. Jene Art der Kritik, die gern jede Äußerung befeuert, welche nicht Wertkritik mit jedem Satz bekennt und von der ersten bis zur letzten Seite ausbreitet, findet an diesem Text wenig Halt. Man wird bemerkt haben, dass der Wertformanalyse durchaus nicht widersprochen, sie vielmehr durchweg unterstellt, das heißt, (wohl als trivial?) vorausgesetzt wird. So ist sie im Pamphlet nicht das hohle Begriffsgeklapper eines theoretischen Exoskeletts, sondern eingesenkt ins Material in seiner Gänze. Das macht den poetischen Realismus des Büchleins aus. Die Unsichtbaren sind keine kleinbürgerlichen Hutmacher. So leicht ist es nicht.

 

Tatsächlich lässt sich zumindest über die Grundzüge der Kritik der politischen Ökonomie, und so also über den besonderen Charakter der Ware Arbeitskraft, schwerlich zweierlei Meinung sein. Das „Kapital“ ist geschrieben worden, vor mehr als 150 Jahren. Es ist nicht nötig, es nochmals zu tun. „Dieses Buch ist so aktuell“, sagte kürzlich ein Freund, „dass wir es heute kaum noch aushalten. Der wirkliche Skandal“, schickte er noch nach, „ist doch, dass wir uns immer noch mit diesem Widersinn des Kapitalismus herumschlagen müssen.“ Warum dem so ist, darum soll es in diesen Bemerkungen auch gehen.

 

Sei das Pamphlet auch grundsätzlich kapitalismuskritisch, so wurde vom Podium aus doch zugleich behauptet – und dies spricht für dessen Diversität und vielleicht für die immer produktive Unausgegorenheit der Ansichten einzelner Teilnehmender über den Text – , dass die Schrift sich vor allem auf die Kritik der Staatsform kapriziert hätte und das Kapitalverhältnis – das sich, finanzkapitalistisch und auch sonst, doch in ihr organisiert – weitgehend außer Acht lasse. Reden wir nicht davon; oder tun wir es doch.

 

Es ist nur die Vorlage, die sich vor allem unser ‚Freund der klassenlosen Gesellschaft‘ selbst gemacht hat, um seinen hörbar eingeschliffenen, schon immer bereitliegenden Jargon auf die aktuelle Schrift, wie auf ein relativ gleichgültiges Material, nochmals loszulassen, einen Jargon, den sie, bei aller auch möglichen Kritik, sicher nicht verdient hat. Ohne jede Mühe den Text genau zu lesen, gar auch den Text über den konkreten solchen hinaus zu rezipieren und also angrenzende Texte hinzuzuziehen, wurde hier wohl der erste Eindruck, der mehr vom Rezipienten ausgeht als von der Schrift selbst, dieser dennoch aufgedrückt.

 

Und weiter? Von „Aussteigertum“ wurde fabuliert und vom „Bandenwesen“, das nur ein „Spiegelbild“ der Zerfallsformen der (so wohl ihrerseits verklärten) bürgerlichen Gesellschaft sei. Über die „Widersprüche der Aufstände der Surplusgesellschaft“, so mussten wir vom uns abgestellten ‚Freund‘ erfahren, würde hinweggesehen, und überhaupt zögen sich „antimoderne, regressive Momente“ durch das gesamte Buch. Dieses hantiere mit einem „schiefen Begriff von Arbeit“ und blende den „unersättlichen Hunger nach Mehrwert“ aus.

 

Vielleicht mag unser ‚Freund‘ die ‚Unsichtbaren‘ auch nicht, weil sie ihrerseits den Negrismus nicht mögen. Jedenfalls – und in diesem Punkt scheint er selbst durch einen melancholischen Optimismus geschlagen zu sein – würde „die Möglichkeit ausgeblendet, sich die Produktion auf der Höhe der Zeit anzueignen“, die „Selbstaufhebung des Proletariats durch die Beschlagnahme der Produktionsmittel“. Wo nur besteht diese Möglichkeit momentan oder absehbar in nächster Zeit? Vielleicht, nur vielleicht, gegenwärtig in Nordafrika? Aber leider auch dort wohl kaum in ausreichendem Maße für das richtige, das ganz große Ding, diese plötzlich zugreifende „Beschlagnahme“.

 

Zur Situation des Büchleins jedenfalls gehört(e) sie, diese Möglichkeit, in keiner umfassenden und aktualen Weise. Kein großer Knall also, nach dem alles anders sein wird. Der Text zeichnet deshalb einen anderen Weg vor. Diesen haben TOP als „autonom werden“ wiedergegeben, als graduelle Untergrabung oder „Überschreibung der staatlichen Kartografie“, letztlich „bis hin zur gesellschaftlichen Fabrik“. Nicht jedoch ohne dies sogleich auch „geschraubt und verklärt“ zu finden.

 

Doch vielleicht handelt es sich bei dieser Beurteilung vor allem um eine transzendentale Leistung. Vielleicht ist es nötig, sich selbst ganz neuer und differenzierterer Denkformen zu bedienen, um diese sicher abgegriffen anmutenden Formulierungen nicht all zu rasch in gewohnter Weise zu rubrizieren, sondern ein Gespür für ihre alt-neue Besonderheit zu entwickeln und sie in noch ungewohnter Klarheit erscheinen zu lassen. So ginge es denn auch weniger um den mithin spektakulären Novitätswert der insbesondere im praktischen zweiten Teil des Büchleins vertraut klingenden Vorschläge als vielmehr um deren ebenso theoretische wie praktische Aktualisierung.

 

War bei TOP eine ambivalente Aufnahme des besprochenen Pamphlets spürbar, die zwischen eben diesen Bewertungen schwankte, so schien zumindest für unseren ‚Freund‘ alles von vornherein klar zu sein und somit in gewohnter Weise schummerig und verklärt. Den vorgeschlagenen Weg des graduellen Aufbaus einer Kraft jedenfalls möchte er nicht mitgehen oder überhaupt beschritten wissen, weshalb ihm der Begriff der Revolution in den großen Knall einerseits und, also, ihre Unmöglichkeit andererseits zerfallen muss. Ist es doch gerade sie, die Unmöglichkeit, dass es anders sein, das heißt, anders werden, das heißt aber, schon jetzt anders getan werden könnte, die er als erster unterschreiben würde.

 

So wurde denn auch endlich die ganze Hohlheit der im übrigen hübsch gedrechselten Rede klar, und unser ‚Freund‘ machte dabei einen vollends desorientierten Eindruck. Auf die Frage, was also zu tun sei, wusste er nur zu erwidern: „Auch mal mit Arbeitslosen im Stadtteil Bier saufen gehen, aber so richtig.“ Yeah!

 

Die autistische Eigenbrödlerei und Anspruchslosigkeit der Linken als Subkultur, die damit wohl getroffen werden sollte, in Verruf zu bringen, ist natürlich ebenso richtig wie dringend. Trotzdem ist es, bei so viel Gelegenheit zur Vorbereitung und einem so zahlreich sich eingefunden habenden Publikum, doch sehr dürftig.

 

Und nicht nur ist es dürftig, es kennzeichnet uns auch den „Schwärmer“, für solche er die ‚Unsichtbaren‘ zu unrecht hält. Denn Schwärmer sind beide: die in Verruf gebrachte Linke als Subkultur, die über die (anderen) „Arbeitslosen“ hinwegsieht, und er selbst, der nicht nur über die subkulturelle Linke hinwegsieht – mit der auch mal „so richtig zu saufen“ wäre –, sondern auch sonst über das Nächste, das zu tun, unsere Kraft anwachsen ließe.

 

Dies also ist ein Schwärmer: ein Mensch, der so sehr nur für das Fernste glüht, dass er darüber das Nächste vergisst, das zu tun dieses Fernste doch erst näher brächte. Das Schwärmen des Schwärmers glüht deshalb ohnmächtig. Seine Kräfte vergeudet er ins Leere, denn er verfehlt das Nächste, das zunächst zu tuende. Indem er zum Übernächsten vorauseilt, anstatt dem Nächsten mit der Liebe für das Fernste und in dessen Licht sich zuzuwenden, kann er dessen Funken nicht in die Gegenwart einbringen. So wird gerade er, der das Kommen des Fernsten beschleunigen wollte, zu seinem Verzögerer. (Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 1921.) Dem Schwärmer ganz besonders ist deshalb das Gefühl der Ohnmacht eigen, denn er bezieht sich nicht auf das, was ihm am Nächsten ist und ist so seiner Wirkmöglichkeiten, seiner Macht, allerdings benommen.

 


Ohnmächtig sein.

Es wurde an diesem Abend die „Anarchie des Zusammenbruchs“ vor allem beschworen; und gegen eine vermeintlich unterstellte „individuelle Wahlmöglichkeit“ wurde die „gegenwärtige Ohnmacht“ behauptet. Dieser Diagnose der „Ohnmacht“ konnten auch TOP etwas abgewinnen.

Die Slums, die im Text tatsächlich nur eine spezifische Beispielfunktion erfüllen, würden, was man „eurozentristisch“ fand, romantisiert. Jedoch seien sie „in Wahrheit“ nur „Ausdruck von Ohnmacht und Gewalt“. Zweifellos sind sie auch dies, aber was sie, deren zahllose Bewohner_innen mit solchen Feststellungen nur nochmals pauschal zu Opfern gemacht werden, sonst noch alles „in Wahrheit“ sind, und sein könnten, wer wollte (oder könnte) das abschließend sagen? Mit atemberaubender Beiläufigkeit wurden all die auch revolutionären Organisationsversuche in jenen Slums so negiert und in den Magmastrom des schlechten Geschichtskontinuums zurückgestoßen, wurde ihre oft genug reale Niederlage deskriptiv aufgedoppelt und zementiert. „Eurozentristisch“ ist vor allem dies!

 

Und auch das Buch selbst sei, indem es eine Distanz von der Situation suggeriere, indem es meine, von ihr sich abziehen zu können, „eher ein Symptom der Ohnmacht.“ Nicht jedoch wie das Proletariat, das, auch ein Symptom des Kapitalismus, zugleich dessen Überwindung bewerkstelligen soll, sondern wie der resignierte Optimismus, der aufkommt, wo eigentlich doch nichts zu machen ist. Auf die eigene „Ohnmacht“ jedenfalls wollte niemand etwas kommen lassen. Hier zumindest war man sich einig. Ohne Macht sollen wir sein, angesichts der realen Übermacht, etwas besseres und grundsätzlich anderes aus der Situation zu machen.

 

So gefielen sich die ‚Freunde‘ denn in ihrer Klage darüber, dass es in Deutschland so „lau“ sei, dass hier nie so richtig was passiere und taten deshalb alles dafür, dass dem auch so bleibt.

 

Seit die Sozialdemokratie keine Zukunft mehr vertickt, ist die Aufgabe zu vergeben, dem Plebs das Opiat auszureichen, das ihn mit dem ganz großen Ding in ungewisser Zukunft über die Misere der Gegenwart hinwegtröstet. Sollte es auch sonst keine Festanstellungen mehr geben, kann sich unser ‚Freund‘ hier doch verbeamten lassen. Die Aufgabe ist ebenso endlos, wie diese Zukunft unendlich auf sich warten lässt, denn eingreifend handeln, lässt sich in der Zukunft niemals, sondern immer nur jetzt.

 

Was den ‚Freunden‘ zum besprochenen Pamphlet einfällt, ist nur eines und das gleiche wie den Bürgerlichen von faz bis taz: es zu denunzieren. Denn das hat Tradition in Deutschland: Die Revolution begegnet zuerst ihren Totengräbern. Wer solche Freunde hat, braucht bekanntlich keine Feinde mehr.

 

Hier, in Deutschland, scheint es immer nur die eine Wahl zu geben zwischen dem faschistischen Mob und dem anständig-bürgerlichen Ressentiment gegen die Revolution, das diese mit jenem identifiziert. Dies ist, sozusagen, Regierungspolitik in jeder Hinsicht. Nicht ohne Grund ist der Name selbst dieses Landes auch sein adäquatestes Schimpfwort. Slime hatten recht. Hier kann nichts werden, ohne dass erstmal gründlich abgeräumt würde. Deutschland ist so grundwiderlich, dass man es am besten „Deutschland“ schimpft. Aber es muss zuerst etwas werden; und wer soll abräumen? Wo ist die Faktion, die aus dieser Situation ausbricht? Vielleicht ist sie, nunmehr, wirklich nur als Import denkbar.

 

Als hätte noch niemand je den überwältigenden Zwang gespürt. Als wären wir nicht alle in dieser Situation, täglich dem blind sich behauptenden Verwertungsimperativ ausgeliefert und auf allerlei Weise zum Ekel gereizt. Als spürten wir diesen Zwang nicht immerfort und müssten uns erst durch so wohlfeile Schlaumeierei, durch gut oder schlecht versorgte Besserwisser (die jedenfalls auch mal mit echten Arbeitslosen saufen gehen wollen) belehren lassen über das Maß unserer Ohnmacht und der Enteignung unserer Kraft.

 

Auf die reale Ohn-Macht sich zu einigen, schien’s, fiel an diesem Abend niemandem schwer. Sicher, die Übermacht, unsere weitreichende Entmachtung, ist real. Doch gerade dort, wo die Ohnmacht am größten ist, und weil sie es ist, muss sie durchbrochen werden. Die Konzentration auf die eigene Ohnmacht jedenfalls führt nicht weiter, festigt sie nur noch mehr. Denn leider lassen Deskription und Präskription sich nicht leicht trennen, leider heißt, dieser Diagnose zuzustimmen, eben zugleich immer auch ihr zuzustimmen. Die Diagnose selbst ist präskriptiv; sie schreibt sich in die Zukunft fort. Es kommt aber alles darauf an, ein anderes Zukünftiges in der Gegenwart schon vorwegzunehmen, derart es in sie hineinzuzwingen, dass das Gewebe der Situation brüchig wird. Warum dieses Übermaß an Zustimmung, wo es um die eigene Ohnmacht geht?

 

Mehr, und verheerender, als nur Illusion ist diese zur Schau getragene Illusionslosigkeit ein dunkel schimmernder Chic. Ihre Alternative ist demnach nur der Verdacht von Naivität, was die Aussichtslosigkeit der Lage angeht und, womöglich, ein unzureichendes, das heißt nicht geschlossenes Verständnis des Verhängnis­zusammenhangs anstatt des Verhängnis­zusammenhangs als nicht geschlossen.

 

Der verzweifelte Ausruf, dass man „nichts machen“ könne, ist derartiger „Kritik“ längst zum Glaubenssatz geworden, zur Handlungsanweisung und zum Schwur. Eher als die Ansatzpunkte seiner Demontage ausfindig zu machen (die Organisation konkreter Tätigkeit gegen das staatlich gesicherte Kapitalverhältnis), will sie den beklagten Zusammenhang tatsächlich als total erweisen, letztlich als Schicksal und Verhängnis.

 

Das richtige Wissen über den Kapitalismus will von ihm nur wissen, wie er zu zerstören ist. Denn diese Zerstörung ist seine einzige Wahrheit. Solche „Kritik“ hingegen ist von ihrem Gegenstand zu sehr fasziniert. Sie bringt ihm die Art des Interesses entgegen, die ein Zoologe für seine Käfersammlung hegt: Er will sie komplettieren.



Teil der Scheiße sein.

Überhaupt sei das Manifest nicht radikal genug, weil es sich nicht selbstkritisch als einen „Teil der Scheiße“ (Klaue/Engster) begreife, die es kritisiert, erklärten TOP. Insofern sei die Schrift „voluntaristisch“ – auch so ein traditionsreiches stalinistisches Schmähwort.

 

Verlangt nicht auch Žižek heute von uns – mit einigem Recht und in bewusster Provokation gegen die Determinismen bürgerlicher wie marxistischer Provinienz – ganz explizit einen „Voluntarismus“, der sich der Gängelung durch Emergenzen kollektiv widersetzt?

 

Sollte, grundsätzlicher, die Schrift tatsächlich Deckungsgleich sein mit dem Bewusstsein ihrer Autor_innen? Ist sie nicht bewusste Intervention? Wird nicht gar das selbstkritische, verunsicherte Ich thematisch, das postmoderne Selbst, das vor der „Gewalt“ zurückschreckt, die es bedeuten würde, all zu unnachgiebig auf seiner „Meinung“ zu beharren, das diese lieber in privatistischer oder subkultureller Unverbindlichkeit einschließt? Ist dieses Subjekt, das von den Veranstalter_innen eingefordert wird, nicht auch der Mikrokosmos einer heute ebenso bescheiden und subkulturell auftretenden Linken, die sich nur noch als ein Milieu unter vielen begreifen kann? Wären die ‚Unsichtbaren‘ den Veranstalter_innen, die ihm Selbstkritik abverlangen, letztlich sogar einen Reflexionsschritt voraus in ihrer Selbstkritik, da sie nun auch dieses zurückhaltende, verunsicherte Selbst noch kritisieren?

Tatsächlich will das Pamphlet ja intervenieren in eine Situation, anstatt sich als eines ihrer Elemente in sie zu fügen; und wird nicht deshalb auch eine weitere postmoderne Verpuppungsform des „linken“ Selbst noch kritisiert, nämlich ein Ich, das, eingeigelt in eine ironische Distanz zu sich selbst – die stets schon konservativ war – und in deren Kehrseite – einen ebenso tiefsitzenden wie nur halb bewussten Hass gegen jede existenzielle Verknüpfung eines Werdens mit einer Wahrheit –, alle Widersprüche bequem aushält? Gehen wir also einfach davon aus, dass seine Autor_innen sich als Teil der Situation begreifen und gerade deshalb einen Text schreiben, der in dieselbe interveniert, womöglich gar, weil sie sich selbst nicht mehr ertragen können. Das ist nicht „voluntaristisch“, oder nur deshalb, weil auch die Vernunft noch einen materiellen Kern hat, aus dem sie ihre Forderung unerbittlich geltend macht. Die Vernunft ist zuinnerst ein Willen, ein demokratisches Streben.

 

Ist nicht, was Balibar Égaliberté genannt hat, sind nicht freie Gleichheit und gleiche Freiheit, die simple Konsequenz eines verallgemeinerten Zweifels, die „letzte Rakete“ (Gustav Landauer), wohl eines neuen Glaubens, die unserer Vernunft entsteigt, noch nachdem jeder Sinn zusammengebrochen war? Die Idee der Gerechtigkeit persistiert, wo noch gedacht wird, notwendig. Das Vernünftige ist einfach, vielleicht auch spektakulär. Ein Spektakel ist es nicht, auch wenn das Büchlein in der x-ten Auflage bei Dussmann auf dem Grabbeltisch liegt. Who cares?!

 

Das Pamphlet bezieht eine Distanz zur Situation in der Situation, in die es interveniert, mehr als dass es einfach ein Teil von dem wäre, was ohnehin geschieht. Mit diesem Anspruch zumindest tritt es auf. Es will eine strategische Intervention sein. Es ist, zugegeben, reißerisch und (abgesehen von dem Verweis im Titel, der über Derridas „kommende Demokratie“ zu Agambens „kommender Gemeinschaft“ verläuft) ja schon im Titel wenig subtil, ja geradezu grob. Es will vom Himmel fahren und die Koordinaten der Situation durcheinander bringen. Dazu dieser plakativ verschwörerisch anmutende Name. Ästhetisch goutieren lässt sich das alles kaum. Es ist zu schrill.

 

So wie die faz schon in ihrem ersten Artikel, angesichts dessen, was ihr als Chaos dämmern muss, nach der starken Hand verlangte, hat sie in ihrem zweiten den jugendlich überschwänglichen, den schwülstigen Stil der Schrift getadelt, der alles wolle und deshalb zu viel. Die angeblich positive Aufnahme im bürgerlichen Feuilleton ist nur die eigene Vorlage, um das Buch von „links“ besser hassen zu können. Tatsächlich waren sich die immer schon bürgerlichen und die ex-linken Blätter von vornherein einig, wie sie es stets schon sind, wenn es um die libertären Abweichungen geht. Allein, die faz ist subtiler, als der, sozusagen neureich, vor widerlicher Süffisanz und unverhohlenem Ressentiment nur so triefende Kommentar der taz. Kein Wunder, dass die „Linken“ so schlecht zwischen den Zeilen lesen, wenn sie doch selbst dort keinen Platz zu lassen gewohnt sind.

 

Was heißt es indes im Diskurs der ‚Freunde‘, mit ihrem Vorwurf des voluntaristischen Aussteigertums, sich als Teil der Situation zu wissen? Wenn die ‚Unsichtbaren‘ Teil der Situation sind, so sind es auch die ‚Freunde‘ und ihre Freundesfreunde. Nur auf welche Weise? Welche Rolle übernähme ihre „Kritik“ in dieser Situation, und was wäre, wenn die „Kritiker“, die kritisieren, dass die ‚Unsichtbaren‘ sich nicht als Teil der Situation begreifen würden, selbst auf eine von ihnen unvermutete Weise Teil dieser unserer Situation, das heißt, „Teil der Scheiße“ sind. Was, wenn ihr spezifischer Modus der „Kritik“ daran arbeitet, gerade das, was der Situation flieht (und weil es doch da bleibt, sie dadurch verändert), wieder in diese (in die Scheiße) zurück zu betten, er also dafür sorgt, dass auch weiterhin alles ruhig und ordentlich bleibt und „lau“. Was heißt es also den ‚Freunden‘, Teil der Situation zu sein?

Es heißt, zu bekennen: „Ich armer Tropf, ich kann nichts machen“, und bin also auch davon entbunden, es noch ernsthaft zu versuchen. „Ich bin ganz Rädchen im Getriebe“, sollen wir sagen, „ganz Teil dessen, was geschieht und habe deshalb keine Wahl.“ Keine „schwache Kraft“ (Walter Benjamin), auch kein willentliches Moment, und wem es einfällt, sich nicht in die Situation so ganz zu fügen, der ist ein voluntaristischer Schwärmer, Idealist gar, der gehört zurechtgewiesen und belehrt, dass es so nicht geht, dass er sich Illusionen macht. „Der Kapitalismus ist ein totaler Zusammenhang!“ Nun, eines ist klar, diese „Kritiker“ sind Teil jener „Totalität“. Haben sie daran schon gedacht?

 

Womöglich haben die ‚Freunde‘ gar Angst vorm organisierten Plebs, den sie nur besoffen ertragen wollen, und reden ihm deshalb seine Ohnmacht ein, wo er noch Zweifel an ihr haben könnte. Sie ziehen ihm, freilich ohne es selbst noch recht zu wissen, den Staat und die Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft vor. Alles soll so bleiben, wie es ist, aber man soll sich auch erleichtern, sich gut fühlen können dabei. Es muss deshalb auch möglich sein, es ausdrücklich nicht zu wollen. Mit ihrem Bekenntnis zur Ohnmacht sind sie wahrlich Teil der Situation. Indem sie dennoch auf sie schimpfen, sind sie auch noch ihr selbstkritisches, ihr gutes Gewissen. Diese „Freundschaft“ der ‚Feunde‘ ist selbst nicht klassenlos, sondern eine Beziehung, auf ihren Gegenstand, wohlwollender Distanznahme.



Distanzlose Distanzierung oder distanzierte Distanzlosigkeit.

Es lohnt, einmal genau auf das komplizierte Verhältnis von Distanz und Distanzlosigkeit zu achten, die den ‚Unsichtbaren‘ an diesem Abend beide vorgeworfen wurden. „Distanzlos“ seien sie und distanziert zugleich; distanziert, weil sie sich nicht als einen „Teil der Scheiße“ zu dieser, das heißt zur Situation, hinzurechnen, „distanzlos“ aber gerade in der unkritischen Meinung, es wäre möglich, dies zu tun, es wäre möglich, derart von der Situation sich abzuziehen.

 

Wir sollen also lernen, dass es eine richtige Distanz gibt und eine falsche, ebenso eine richtige Distanzlosigkeit und eine falsche Distanzlosigkeit; und wenn dies das falsche Verhältnis von Distanz und Distanzlosigkeit wäre, dann wäre das richtige Verhältnis dessen genaue Spiegelung.

 

Die richtige Distanz also sei jene des „Kritikers“, der sich aus der Situation herausnimmt, um sie tableauhaft zu überblicken, der, sozusagen, die Gottesperspektive einnimmt, jedoch nur, um seine Distanzlosigkeit gegenüber der Situation einzusehen, um sich als einen Teil der Situation zu finden. Diese Distanz ist demnach die Distanz einer kaum merklichen Selbstobjektivierung, einer Trennung von sich selbst, die sich, weil es die Gottesperspektive schließlich nicht gibt, eher in der Art einer Nachträglichkeit bemerkbar macht, einer Nachträglichkeit in Bezug auf das eigene Handeln, in Bezug auf sich selbst. Der „Kritiker“ behält daher Recht; auf seine Weise ist er tatsächlich Teil der Situation.

 

Den richtigen Moment erkennt der „Kritiker“ mit Sicherheit und mit Sicherheit stets erst im Nachhinein. Der Zeitpunkt des Handelns gilt ihm als „zu früh“ genau bis an den Moment heran, in dem es „zu spät“ ist. Dazwischen ist nichts. Es ist immer zu früh, gerade bis es zu spät ist.

 

Es ist also möglich, auf zweierlei Weise „Teil der Situation“ zu sein bzw., sich als ein solcher zu wissen. Einerseits nach Art des „Kritikers“, der den Überblick hat oder, besser, zu haben meint. Seine Situation ist geschlossen aber kategorial auf beruhigende Weise vollständig. Auch möchte er natürlich kein verwackeltes Bild; um die Situation triftig zu erfassen, ist es besser, wir halten still. Andererseits aber nach Art derer, die sich als Teil der Situation und diese gerade deshalb als eine offene Situation wissen, weil sie in dieser Distanzlosigkeit in der Situation handeln und handelnd in sie eingreifen können. Es ist also möglich, Teil eines Ganzen zu sein oder Keil im Ganzen der Situation.

 

Nur indem wir in dieser zweite Weise in der Situation, Objekt und Subjekt zugleich sind, lässt sich der Augenblick augenblicklich ergreifen, haben wir also ein gegenwärtig zukünftiges anstatt ein nur nachträgliches Verhältnis zur Situation. Es zieht sich aber von der Situation auf schlechte Weise ab, und es vergibt sich die Möglichkeit, die Situation eingreifend zu verändern, wer vor allem darauf bedacht ist, sie vollständig, das heißt nachträglich, zu erfassen. Hinter allen vordergründigen Bekenntnissen zur Revolution liegt noch alles daran, die Präsenz in der Situation über die Abwesenheit aus ihr, und die ihr verbundene Abwesenheit gegenüber sich selbst, obsiegen zu lassen.

 

Die Umkehrung des doppelten Vorwurfs einer distanzlosen Distanz ist somit komplett. In der Situation sein, ihr Teil sein, heißt nunmehr, dass die Situation nicht geschlossen ist, weder analytisch noch real. Sich der Situation gegenüber ausschließlich als ihr distanzierter Beobachter zu verhalten, ist die Distanzlosigkeit derer, die tatsächlich Teil einer geschlossenen Situation sind, so aber „Teil der Scheiße“ und ihr eigenes Objekt. Ihr Leben spielt sich vor ihnen ab wie ein Film, mit ihnen in der Hauptrolle. Die analytische Lückenhaftigkeit ist in letzter Instanz auch die reale Offenheit der Situation, die es dennoch genau zu kennen gilt. Aber erst wenn ihre Analyse endet, hebt auch ihre reale Veränderung an.

 

Von hier aus sollten wir noch einmal auf den Vorwurf des „Voluntarismus“ zurückkommen. Denn gerade Tiqqun waren es, die dem „Voluntarismus“ der „klassischen Virilität“, der – wie die Veranstaltung auch – seit jeher fragt, „was zu tun“ sei, die Frage nach dem „Wie“ des Tuns entgegengesetzt haben. (Vgl. Comment faire?/How is it to be done?, in: Tiqqun 2.)

 

Gilt ihnen die Frage nach dem „Was“ als ein Modus der fortgesetzten Abwesenheit gegenüber sich selbst ebenso wie gegenüber der Situation – dadurch sich äußerliche Ziele vorzusetzen, derweil, „sich selbst einzuklammern“, das Leben „zu vertagen“ – so die Frage nach dem „Wie“ als ein Modus der Aufmerksamkeit gegenüber der Situation und der Anwesenheit in ihr. Es geht so letztlich um das Verhältnis einer Ausschließlichkeit, einerseits einer leibhaften „Präsenz“, von der Tiqqun sprechen – und die Benjamin als „leibhafte Geistesgegenwart“ (GS IV, S. 141f) bekannt war – und andererseits einer Distanz zur Situation, einer Abwesenheit aus ihr, die als analytische immer nachträglich und also grundsätzlich zu spät kommt, und die als voluntaristische, zugleich mit der Trennung von sich, der Objektivierung seiner selbst, die schlechte Trennung von Mitteln und Zwecken perpetuiert.



Das Gegenteil von Selbstorganisation ist Fremdorganisation.

Es gab an diesem Abend, entsprechend dem Büchlein selbst, das mal dieses und mal jenes anschneidet, auch noch diese oder jene Kritik. Etwa würde die „Selbstorganisation von unten“ nicht genügen in einem Moment, da der Kapitalismus in der Krise sei. Ein Einwand der freilich eine stratifizierende Metapher und folglich ihre Konsequenzen prinzipiell akzeptiert, die selbst vielmehr axiomatisch zu verwerfen ist. Nicht ist es so, als gäbe es das Kapitalverhältnis nicht; aber auch in der Nähe der Macht, sogar in den Parlamenten, kann und muss es also bekämpft werden. Dies heißt nicht, die realen Grenzen des Parlamentarismus zu ignorieren, der die Anderen – wie scheinbar diese Linken auch, die das Vertrauen in die Leute wohl schon verloren haben – prinzipiell lieber selbst organisiert.

 

Was „autonom werden“ heute heißen kann, ist ein Leben deaktiviert vom Fluch der Identität. Es hat mithin weniger mit dieser oder jener Organisationsform, mit dieser oder jener Tätigkeit zu tun, als vielmehr, wenn man so will, mit einem grundsätzlich veränderten, einem pragmatischen Verhältnis gegenüber jeglicher Organisationsform und jeglicher Tätigkeit. Alles käme auch heute wieder auf einen Rest an, den Paulus unter anderen Umständen als „Nicht-Volk“ bezeichnet hat, einen Rest, von dem die Macht – vielleicht auch überrascht angesichts plötzlicher Beschlagnahmen – einmal mit letztem Atem würde sagen können: „Sie waren überall.“

 

Die Kritik an der „Vollversammlung“, diesem wichtigen Organisationsinstrument, geht den Linken nicht leicht ein. Doch es liegt eher an ihrem Mangel an poetischem Sinn. Sie seien also beruhigt, die Linken, oder eben auch nicht. In der Kritik der „Vollversammlung“ – wie im übrigen auch der „Linken“ – soll kaum die Vollversammlung als konkrete Organisationsform und sollen auch nicht organisierte linke Zusammenhänge in jedem Fall angegriffen werden. Die „Vollversammlung“ fungiert im Text – wie auch die „Linke“ – viel eher als Chiffre für ein Verständnis von Politik, das Staatsform und Arbeit noch all zu ähnlich sieht. Wird mit dieser Kritik auch nicht nur eine „Linke“ abgelehnt, die sich selbst schon (wie in Frankreich) als offensichtlich sozialdemokratisch hinreichend disqualifiziert, so doch die Linke insgesamt nur, insofern sie auch noch ihre politischen „Projekte“ als Arbeit, eben als „politische Arbeit“, versteht und ein entsprechendes Verhältnis zu ihnen unterhält. Es ist so vielleicht auch weniger unklug als ehrlich, wenn sie diese gleich selbst als zäh, langweilig und dröge beschreibt. Wo sie dies sind, und also die linke Projektemacherei tatsächlich den Charakter ebenso uninspirierter wie entfremdeter Arbeit angenommen hat, ist es nicht nur legitim, aus diesen Bindungen zu desertieren, so sie sich nicht dynamisieren lassen, es ist auch die erste Bedingung wirklicher Politik. Nicht nur der explizite Gegner muss in Verruf gebracht werden, sondern gerade auch das, was emanzipatorischer Politik zwar zum Verwechseln ähnlich sieht, aber doch nur „politische Arbeit“ ist.

 

Darüber hinaus lässt sich vielleicht sagen, dass die Vollversammlung tendenziell schon die Masse ist, in der die Einzelnen tatsächlich vereinzelt sind. Sie ist, so nötig sie sein mag, noch nicht genug „von unten“ her. Wenn sich die Gedanken im Gespräch unter Freunden oder mit dem Gegner am besten entwickeln lassen, so bietet die Vollversammlung – ähnlich den überfüllten Seminaren an Universitäten – dazu doch wenig Gelegenheit. Es ist so nichts als eine strategische Notwendigkeit, zunächst die Blicke der Nächsten zu suchen, mit ihnen auf der Grundlage einer politischen Wahrheit sich zu finden und über das zunächst einzunehmende Ziel sich zu verständigen. Hier, in dieser Nähe, berühren wir uns mit der Situation, kennen sie, wissen, was zu tun ist und können es auch tun, weil wir hier tatsächlich alle an den Hebeln sitzen, anstatt von unseren Wirkmöglichkeiten getrennt zu sein, noch anders getrennt zu sein, als durch den stummen Zwang des Kapitalverhältnisses.

Dies ist, nebenbei gesagt, vielleicht auch die geeignetste Bedeutung dessen, was es heißt, „auf dem Posten zu sein“, jede_r dort, wo sie oder er gerade steht, in jedem Augenblick. Denn tatsächlich, schreibt Benjamin, eignet jedem Moment seine spezifische revolutionäre Chance, die nur als eine solche erkannt sein will; und nur im Nu eines Augenblicks, nicht aber in der Zukunft, kann sie ergriffen werden. (Vgl. GS VII, S. 783) Es ist dies denn auch eine Bedeutung, die scharf gerade gegen jene der geometrischen Un-Gerechtigkeit des „jedem das seine“ zu wenden ist.



Die „anarchistischen“ Wilden und ihre Regressionen.

Zur Vorliebe für die eigene „politische Arbeit“ passt die Schimäre des anarchistischen Wilden, die eher dem vom Text emanzipierten denunziatorischen Kommentar entnommen zu sein scheint, als der offensichtlich flüchtigen Lektüre des Büchleins selbst. Die Fehler des „anarchistischen Terrorismus“ des 19. Jahrhunderts würden wiederholt, belehrte uns der nicht-so-klassenlose Mahner. Und natürlich darf in einem ordentlichen Potpourri antilibertären Ressentiments – dessen letzte Inkarnation tatsächlich stalinistisch oder faschistisch ist – auch der blöde Vorwurf der „Spontaneität“ nicht fehlen. Nun gut, wiederum hat er einige Berechtigung gegenüber dem, was wohl mit ihm getroffen werden sollte. Das Problem ist ja nicht nur die, ob bürgerliche, ob leninistische, Schimäre des „anarchistischen“ Wilden, sondern auch, dass diese derart dominant ist, dass auch immer wieder s.g. „Anarchisten“ ihr Selbstverständnis an ihr bilden, anstatt am Studium der Tradition. Nur geht dieser Vorwurf am Text meilenweit vorbei. Darum hier nicht mehr dazu. Man lese einfach noch einmal, und lese besser.

 

Auch der Vorwurf der „Antimodernität“ respektive „Regressivität“ passt ja zum Bild des anarchistischen Wilden. Das „Unsichtbare Komitee“ jedenfalls sei „antimodern“, weil es zur Landwirtschaft rät? Wer sich so klar von einer x-beliebigen Tätigkeit abgrenzen muss, um sich seiner „modernen“ Identität zu versichern, verrät sich selbst vor allem als ertappt. Sein Verhältnis zum „Boden“ und zu dessen Kultivierung, sein Verständigungsvermögen über diese Dinge, ist noch zu sehr im Bannkreis des spezifisch Völkischen gefangen. Das Verhältnis ist ungeklärt und düster und wird deshalb am besten pauschal geleugnet. Doch der historische Faschismus, der hier aufgerufen werden soll, dieses maschinisierte Gemetzel, war selbst sehr modern; und Tiqqun – wenn eine Kontinuität zu unterstellen, in diesem Punkt erlaubt ist – haben selbst als Erste vor einer Verwechselung etwa der „Partisanen der bäuerlichen Zivilisation“, der „libertären Milizen“ oder „insurrektionalistischen Faschisten“ mit den „revolutionär-experimentellen Fraktionen“ der „Imaginären Partei“ gewarnt. (Vgl. This is not a Program.)

 

Nein, das „Unsichtbare Komitee“ hat ein pragmatisches Verhältnis zum Gebrauch des „Kartoffelackers“. (Vgl. zum wichtigen Begriff des Gebrauchs: Giorgio Agamben, Die Zeit die bleibt, F.a.M. 2006.) Mit diesem verknüpft sich ihm keine Identität. Aber bedienen wir das übliche Bedürfnis nach Autorität und kommen wir mit den großen Bärten. Weniger ausgiebig als Landauer, in seinem ‚Aufruf zum Sozialismus‘, aber an ebenso entscheidender Stelle kommt Marx alles auf „Grund und Boden“ an. (MEW 23, S. 796) Der Bau des Ackers und des Reichs werden, so Rosenzweig, im Hebräischen nicht zufällig durch dasselbe Wort ausgedrückt. Schlichtweg alles wird letztlich aus dem Boden gewonnen und muss auf einem Grund aufruhen. Ihre Enteignung ist so stiftend, wie deren Überwindung unumgehbar.

 

Außerdem? Das Manifest hätte einen „Predigtstil“ und sei – wie aus anderer Richtung zu hören ist – „quasi theologisch“. Was soll man dazu sagen, – das nicht schon Boris Buden in seinem Redebeitrag gesagt hätte, als er über die Zukünftigkeit in der Gegenwart der politischen Rhetorik sprach?

 

Na und?! Mehr davon!

 

Mit dem Widerwillen gegen’s „Theologische“ verhält es sich wie mit jenem gegen die „Antimodernität“. Auch in diesem Punkt ist Aufklärung längst in Gegenaufklärung, in Mythologie, umgeschlagen. Der abgestandene, einmal aufklärerische Gestus, mit dem solche „Kritik“ daherkommt, ist an jeder Ecke billig zu haben. Sie ist nichts anderes als dieser Gestus. Sie lebt ganz vom Anklang, von der Implikation eines Arguments, zu dem sie sich doch nicht verdichten lässt.

 

Polemik dieser hohlsten Art ist noch Teil dessen, wogegen sie sich richtet. Ihr Objekt ist recht eigentlich ihres. Mit ihm, zu dem sie verzerrt, was sie vor sich hat und doch nicht erkennt, bildet sie eine autistisch artikulierte Einheit. Sie ist nicht rettend, sondern das im Werden begriffene muss vor ihr gerettet werden, vor dem überkommenen Verständnis, dem Missverständnis, in das sie es zurückzureißen droht. Wenn Kritik schon immer in der Gefahr stand, ihren Gegenstand, mit den Begriffen, die sie an ihn herantägt, erst kategorial zuzurichten, eher als von sich her ihn zu erfassen, dann sind ihre Begriffe hier gänzlich zu grob. Sie kann sie nur noch hervorkramen, um dies neu-alte Werden mit ihnen zu erschlagen. In Einem zugleich muss es vor solcher „Kritik“ gerettet werden, wie vor dem, worauf das Gewinde ihrer Begriffe noch schlecht und recht passte: bigotte Frömmelei, prinzipielle Technikfeindlichkeit, idealistische Schwärmerei und die dumpfe Enge der Tradition um ihrer selbst willen.

 

Die selbsternannte „radikale Linke“ will im Pamphlet vor allem „Phrasen“ und „fragwürdige Sehnsüchte nach Gemeinschaft und Apokalypse“ erkennen, das heißt, sie erkennt sich selbst. Sie spiegelt sich in diesem Text als in der Glätte einer Oberfläche, in die einzudringen, ihr nicht gelingen will. Trotzdem braucht sie rasch eine Meinung, die sie verbreiten kann, und am schnellsten liefern die Zeitungen, am billigsten auch; schon fühlt sie sich berufen zu „notwendiger Kritik“, als käme der Schrift so eine Erste Hilfe.

Der mehr oder weniger offene Bezug auf Theologie, die in der säkularen Moderne „bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen“ (Benjamin), wird heute auf Seiten der Linken in der Regel eher argwöhnisch beäugt werden. Wohl wird der Bezug von Politik auf Theologie gar mit der Vehemenz einer politischen Tradition abgelehnt, die sich selbst in gefährlicher Nähe und Konkurrenz zur Theologie behauptet hat und von der Gefahr in ihren Sog zu geraten, gar religiöse Züge anzunehmen, nicht frei ist. Höchstpersönlich wollte schließlich Stalin den Gott der östlichen Kirche ersetzen. Die undifferenzierte Vehemenz einer Ablehnung des Bezugs auf Theologie verrät sich noch heute selbst – als ertappt. Sie deutet auf die Unabgegoltenheit dieser Gefahr und die noch weitgehende Ungeklärtheit dieses Verhältnisses, das deshalb pauschal geleugnet werden soll. Denn wäre diese Gefahr erledigt oder doch weitgehend gebannt, so sollte es möglich sein, die Tragweite und den Verständniswert theologischer Begriffe gelassener sich bewusst zu machen.

 

Nichts Geringeres gar sei die „Religion“, so Marx, als „ein verkehrtes Weltbewusstsein, [...] die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form“. (MEW 1, S. 378) Auch zum Verhältnis von Politik auf Theologie lässt er sich befragen. (MEW 1, S. 379) Und ist nicht, wie Engels schrieb, die Theologie in Europa das gesamte Mittelalter hindurch die Leitwissenschaft gewesen, so dass alle anderen Diskurse gar nicht umhin konnten, sich in ihre Begriffe zu kleiden? (MEW 21, S. 304) Die Verflechtungen sind weitgehend. Die Theologie ihrerseits ist selbst schon eine philosophische Prägung. Kurz: Sie wird sich schwerlich aus dem historischen Gewebe der Sprache herausätzen lassen.

 

Die Philosophien und Ethiken der Gegenwart sind so unhintergehbar und ubiquitär von einmal theologischen Figurationen belebt, dass die Sprache von (immanentisiert) theologischen Konnotationen reinigen zu wollen, entweder der Bitte gleichkäme, sie möge verstummen oder ihrem ebenso endlosen wie belanglosen Geplapper, totalem Positivismus und Historismus, welche freilich wiederum ihr eigenes Verhältnis zu einer eschatologischen Erzählung unterhalten. Wer wollte sich dieses Geplapper zueigen machen? Das sprachliche Erbe ist religiös und theologisch geprägt. Das macht nichts. Man sollte es gelassen akzeptieren.

 

Der aufklärerische Ton gegen „Predigtstil“ und „Theologie“ wird heute überall verramscht und ist billig zu haben. Er ist nur längst nicht mehr so unzweideutig aufklärerisch, wie jene meinen, die sich von ihm einen Vorteil erhoffen. Oft genug zeugt er heute viel eher vom seligen Schlummer der geistig Armen, seid man mit ihm zuletzt noch den Glauben ausgetrieben hat, dass alles auch ganz anders sein könnte.

 

Wenn es darum geht, einen Schritt voraus zu tun, kann es – um so mehr, wenn man sich verrannt hat – hilfreich sein, einige Schritte zurückzugehen. Die spezifische Regression des „Predigtstils“ zielt gerade auf die Zukunft, wie Boris Buden dies richtig bemerkt hat. Sie ist jene Art der mithin performativen Rede, in der, wird sie gemeinsam geübt, das Kommen einer anderen Zukunft erbeten, ja erzwungen wird. Wer diese will, muss jene wollen. Alles andere ist Verwaltung und Beamtentum im Denken. Indem die liebesglühende Rede, schreibt Rosenzweig, so sich auf das Fernste richtet, als wäre es das Nächste, doch fest gründet in gegenwärtiger Nähe, bringt sie den Funken des Fernsten vorwegnehmend schon in ihre Gegenwart ein. So zwingt sie wirklich das Fernste zum Eintritt in die Zeit, sie erzwingt sein Kommen.



 A.K., Berlin im Februar 2011.

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... sehr differenzierte Betrachtung, gute Formulierungen.

Verbalisiert vieles, was mir bei Diskussionen mit den so genannten "Freunden" auch aufstieß...

 

"Wenn die ‚Unsichtbaren‘ Teil der Situation sind, so sind es auch die ‚Freunde‘ und ihre Freundesfreunde. Nur auf welche Weise? Welche Rolle übernähme ihre „Kritik“ in dieser Situation, und was wäre, wenn die „Kritiker“, die kritisieren, dass die ‚Unsichtbaren‘ sich nicht als Teil der Situation begreifen würden, selbst auf eine von ihnen unvermutete Weise Teil dieser unserer Situation, das heißt, „Teil der Scheiße“ sind. Was, wenn ihr spezifischer Modus der „Kritik“ daran arbeitet, gerade das, was der Situation flieht (und weil es doch da bleibt, sie dadurch verändert), wieder in diese (in die Scheiße) zurück zu betten, er also dafür sorgt, dass auch weiterhin alles ruhig und ordentlich bleibt und „lau“. Was heißt es also den ‚Freunden‘, Teil der Situation zu sein?"

 

---> benennt den "blind spot" dieser "Kritik" aufs passenste !!!

 

Thumps up --- Erkenntnisbarrikaden einreißen !!!

So unter der Hand geht es ja genereller gegen eine Art sozialdemokratisches Allerweltsadornitentum, wie es leider in Teilen der deutschen Linken ziemlich verbreitet ist. Ein Freund hat das neulich gut auf den Punkt gebracht als: eine Art negative Theologie und bis zu dem Punkt, vorgelagert, philosophisch reine Sozialdemokratie.

Ich fand deinen Text sehr gut geschrieben. Meine Hochachtung für deinen Schreibstil.

Leider wirkt dein Text so, als wenn du das, was du der "Linken" immer schon mal vorhalten wolltest, an diesem Text explizierst. In meinen Augen hat deine Besprechung des Textes dabei ein weit höheres Niveau, als dein Gegenstand. Um den "Kommenden Aufstand" gegen seine Kritiker verteidigen zu können, musst du ihn nolens volens überhöhen. Dort, wo du konkret werden müsstest, verbleibst du mit einem solchen Satz

Nur geht dieser Vorwurf am Text meilenweit vorbei. Darum hier nicht mehr dazu. Man lese einfach noch einmal, und lese besser.

Es ist dein Bedürfnis diesen Text zu affirmieren, was solche Phrasen notwendig macht.

Wenn ich einen Satz lese, wie

»Autonom werden« könnte auch gut heißen: lernen, auf der Straße zu kämpfen, sich leere Häuser zu nehmen, nicht zu arbeiten, sich wie verrückt zu lieben und in den Supermärkten zu klauen.

dann kann ich darin, nach 10 Jahren Interim-Konsum, nur noch eine nachholende Entwicklung von Autonomen in Frankreich sehen und nicht eine tiefer gehende, subtil unterbreitete Theorie dahinter, die meinen Intellekt übersteigt. Dieser Text ist so platt und dumm, wie er da steht. Da ist nichts dahinter, keine andere Ebene, die du nur immer andeutest und behauptest, aber nirgends greifbar machst.

 

Dass du deine Kritik an dem sozialrevolutionären Blödsinn des Freundes der klassenlosen Gesellschaft ausbreitest hat etwas von der Abarbeitung an einer Pappfigur. Man kann dieses Pamphlet, wenn man es denn ernst nehmen würde, aus einer marxistischen Perspektive in Grund und Boden kritisieren. Da demgegenüber Anarchisten es aber gar nicht für notwendig erachten, das, wogegen sie aufbegehren zu verstehen, wäre eine solche Kritik nicht wirklich weiterführend. Das "Unsichtbare Komitee" bewegt sich, wie du auch, in intellektuellen Bahnen, die von Agamben, Zizek und Foucault vorgezeichnet wurden. Marxisten können sich gar nicht erst auf diese Ebene einlassen, von der aus dieser Text verfasst wurde oder du auch deine Kritik entfaltest.

 

Sollte es in diesem Text doch die oft behaupteten versteckten, tiefschürfenden Ebenen oder Einsichten geben, die man nicht nur deshalb erkennt, weil man den Text durch seine anarchistische Brille liest, dann wäre ich erfreut sie expliziert zu bekommen.

Danke erstmal für deine irgendwie sehr treffende Kritik! Du sagst, dass ich den Text überhöhen würde; dazu gleich noch. Außerdem kann man mir in der anderen, negativen Richtung ja leicht vorwerfen, dass ich eben genau das tue, was ich der Lektüre der ‚Freunde‘ vorwerfe: dass mein Jargon schon bereitliegt. Die Kritik der ‚Freunde‘ am Text wäre mir somit nur der Anlass, ein Art „Pappfigur“, um etwas ein Wenig zu entfalten, das ich eh schon länger mal sagen wollte, und ich habe ja auch schon zugestanden, dass es „unter der Hand“ gegen eine weiterreichende Tendenz geht. Das finde ich nicht unbedingt ein Problem. Die ‚Freunde‘ (deren Produktion ich im Übrigen gar nicht so genau kenne) stünden mir hier dann paradigmatisch für diese Tendenz ein, wie ein Pappkamerad, in einem etwas anderen Sinn, als du dies wohl meintest. Aber du siehst, da passt eines zum anderen. War der Text sowohl den ‚Freunden‘ als auch mir nur Anlass, dann stehen wir uns genau gegenüber und sehen uns also direkt in die Augen.


Darin, die Kritik der ‚Freunde‘ abzuwehren, mag mein Text also in gewisser Hinsicht effektiv sein, aber eben, wie du meinst, nicht in Hinsicht auf den Text, den ich deshalb, wie du sagst, „nolens volens überhöhen“ müsse. Du scheinst also zu sagen, dass die Kritik der ‚Freunde‘ sehr wohl verfängt und ich ihr nur dadurch ausweichen kann, dass ich den Text als etwas darstelle, das er nicht ist. Problematisch würde das dann dort, wo mein Text prätendiert, den „Kommenden Aufstand“ zu verteidigen; und tatsächlich tritt er aus taktischen Gründen als Verteidigung auf, als reine Affirmation.

Du wirst bemerkt haben, dass ich mindestens zweimal auf Tiqqun verweise, um den Text zu verteidigen (die ‚Unsichtbaren‘ sind ja so eine Art Spaltungsprodukt) und ihn gleich Eingangs in diesem weiteren Kontext verorte. Das ist nicht unbedingt legitim, denn warum sonst gäbe es einen neuen Autor_innennamen?


Dort wo ich diese Sätze einfüge („Nur geht dieser Vorwurf am Text meilenweit vorbei. Darum hier nicht mehr dazu.“), geht es konkret um den Vorwurf der „Spontanität“. (Ich denke, über den des „anarchistischen Terrorismus“ braucht man wirklich nichts zu sagen.) Du hältst mir entgegen, dass ich gerade an dieser Stelle hätte konkret werden müssen, und du hast Recht. In der Tat hätte ich die Vokabel offensiver zurück- oder umwidmen sollen. Was „Spontaneität“ im positiven Sinne heißt, bleibt dem „Marxisten“ (im negativen Verständnis) nämlich schleierhaft (darum! ist der Vorwurf „blöd“), - nicht weniger als vielen Leuten, die die Vokabel positiv verwenden. Auch hier gibt es also ein Gegenüber - das ich ja konzidiere -, von, diesmal, richtiger Kritik und falscher Affirmation, bei der das allerdings, wovon die Vokabel „Spontaneität“ in einem positiven Sinne handeln könnte, außen vor bleibt und also verloren geht. (Deshalb an anderer Stelle meine Emphase, wenn es darum geht, abgegriffen anmutende Formulierungen wieder neu und besser zu verstehen.) An dieser Stelle hätte ich also, buchstäblich, dazwischengehen sollen; aber es ist nicht so leicht, eine Vokabel zugleich vor ihren Freunden und vor ihren Kritikern zu retten. Ich war also unentschlossen, ob die Vokabel aufzugeben sei, was ihrem Gehaltverlust natürlich Vorschub leistet oder zumindest nicht entgegenwirkt. Ohne von „Spontaneität“ zu sprechen, komme ich dann unten auf ihren positiven Begriffsinhalt zurück, dort wo ich mir den Pappkameraden des „Kritiker“ aufbaue und seine kontemplative Geistesthaltung derjenigen eines Koleopterologen annähere. Da geht es um sehr viel!

 

Du schreibst: „Wenn ich einen Satz lese, wie ‚Autonom werden‘ könnte auch gut heißen: lernen, auf der Straße zu kämpfen, sich leere Häuser zu nehmen, nicht zu arbeiten, sich wie verrückt zu lieben und in den Supermärkten zu klauen.“ dann kann ich darin, nach 10 Jahren Interim-Konsum, nur noch eine nachholende Entwicklung von Autonomen in Frankreich sehen und nicht eine tiefer gehende, subtil unterbreitete Theorie dahinter, die meinen Intellekt übersteigt. Dieser Text ist so platt und dumm, wie er da steht.“

 

Was du hier wohl unversehens sagst, möchte ich dir lieber nicht so genau entfalten. Das könnte schnell ziemlich gemein rüberkommen. Nein, den Intellekt teilen wir, das ist es nicht. Oder tauschen wir uns etwa nicht aus? Aber ist dir dein zehnjähriger Interim-Konsum bekommen?

Vielleicht hast du recht, vielleicht ist es teils „nachholende Entwicklung.“ Nur sind Ladendiebstahl und Häuserbesetzen doch keine deutsche Erfindung. Ich weiß, in Deutschland heißt Wissen immer: besser Wissen. Das ist nicht schön. Aber lassen wir das. Auch gibt es in diesem knappen Satz natürlich noch die Anspielungen auf die SI und auf Breton. Das kann man sicher auch kritisieren, aber einfach „platt“ ist es nicht. Genauso sind meine Andeutungen als Lektüretips verstehen, aber stattdessen sagst du, dass du dich da, sozusagen „als Marxist“, gar nicht erst drauf einlassen kannst. Tja, das ist wohl deine (Vor-)Entscheidung. Tätest du es, würde die Lektüre eines vordergründig so „platten“ Textes vielleicht auch für dich mehr hergeben. Dass ein Text eingängig ist, heißt ja nicht, dass er nicht auch noch weitere Verständnisebenen, eine Art Hyperlesbarkeit bereithielte. Das ist zwar stets etwas esoterisch, wie es, zugegeben, ja auch in meinem Text hier und da an Entfaltung fehlt. (Es ist zwar ein banaler Grund, aber ich hab momentan einfach keine Zeit, das alles zu leisten.) Aber selbst wenn dies und das unverstanden bleibt, gibt doch auch die oberflächliche Lektüre einiges her. Im besten Fall merkt man nicht mal, dass noch mehr drin steckt. Das ist dann „smooth“, oder?

Also selber lesen, würde ich sagen, auch wenn der Vorwurf der Esoterik berechtigt sein mag. Wenn du nur mal den „Aufruf“ des gleichen Autor_innekollektivs läsest (er ist ganz kurz und klingt vielleicht weniger wie ein zweiter Crime Think-Aufguß), würdest du finden, dass sie selbst gleich Eingangs einen ähnlichen Gebrauch der Vokabel „anarchistisch“ machen wie auch du: „Wir haben den allerreinsten Anarchismus auch das verneinen sehen, was er nicht versteht.“ Ich teile diesen Gebrauch der Vokabel nicht unbedingt, aber es gibt ihn, und ich weiß was gemeint ist. Das muss manchmal reichen.

Jedenfalls sind die ‚Unischtbaren‘ nicht so leicht einzuordnen, wie du es dir, wohl zur Wahrung liebgewonnener Gewissheiten, zu wünschen scheinst. Wie sie selbst in Reaktion auf ihre Einbettung in den Pressekommentar schon so treffend sagten: „Man braucht sich nicht weiter mit uns zu beschäftigen.“ In deinem Gebrauch der Vokabel „anarchistisch“ scheinst du dich jedenfalls ganz an die „marxistische“ Denunziation zu halten. Dafür hab ich scharfe Worte gefunden, aber ich kann das hier auch nicht alles im Detail aufarbeiten. Liegt das nicht vielleicht auch in der Verantwortung der „Marxisten“. Nur eins. Es ist möglich, beides zu sein: Anarchist und, nun, Marxist. Dir wird nicht entgangen sein, dass ich gleich Eingangs die Flanke Richtung Wertkritik zu schließen versucht habe, mit dem zugegeben wiederum etwas esoterischen Verweis auf die marxsche Kritik am Proudhounismus.

 

Gleichwohl und gleichfalls würde ich natürlich gerne sehen, wie du das Pamphlet „aus einer marxistischen Perspektive in Grund und Boden“ kritisierst, aber richtig, dafür müsstest du es ja erstmal „ernst nehmen“. Doppelt verrammelt also. Mir scheint, dass da jemand gehörig unsicher ist.

Vielleicht ist der Text jugendlich. Vielleicht ist das gut; gut, dass er sich an die Jugend richtet, oder auch daran, was wir blasierten Marxisten noch an Jugend in uns finden können. Das finde ich kein Problem. Ich finde es wichtig. Wer tut das noch? Viele Jugendliche haben ganz richtige Intuitionen, bevor sie sich arrangieren und „realistisch“ werden. Das Glück der Erkenntnis im Schein der eigenen Schreibtischlampe jedenfalls wird falsch, wie die Erkenntnis auch, wenn sie einsam bleibt.

 

Der Text ist sicher interessant eher ob seiner aktual breiten Rezeption und nicht etwa, weil er etwa der herausragendste Text wäre, der mit einer ähnlichen Stoßrichtung in den letzten Dekaden erschienen ist. Das habe ich ja auch konzidiert. Gleichwohl lässt sich einiges daran festmachen. Meine kontextualisierenden und interpretativen Angebote jedenfalls zielen nicht so sehr am Text vorbei, wie du meinst, sondern darauf, dass sie, sozusagen rückwirkend, seine Lesbarkeit erst mit herstellen, darauf, wenn du so willst, dass der Text besser wird durch sie. Nennen wir es 'rettende Affirmation'.


Neben den Texten von Agamben und Tiqqun, die das Verständnis des Textes fördern können, wären vielleicht noch Etienne de La Boetie (mit der ‚Freiwilligen Knechtschaft‘) oder Pierre Clastres (mit ‚Die Gesellschaft gegen den Staat‘) zu nennen. Clastres hab ich selbst nicht gelesen, aber ich hab es mir sagen lassen.


Meine Verteidigung war einfach reine Verteidigung, um ein Gegengewicht zu bieten, ob der merklichen Tendenz, dass viele es sich zu leicht damit machen, den Text unter alten Gewissheiten zu begraben.


Und Foucault? Schiebst du mir den unter, nur weil ich mal „Diskurs“ gesagt habe, oder meinst du, der kommt halt über Agamben gucken?


Salut!

Außerdem kann man mir in der anderen, negativen Richtung ja leicht vorwerfen, dass ich eben genau das tue, was ich der Lektüre der ‚Freunde‘ vorwerfe: dass mein Jargon schon bereitliegt. Die Kritik der ‚Freunde‘ am Text wäre mir somit nur der Anlass, ein Art „Pappfigur“, um etwas ein Wenig zu entfalten, das ich eh schon länger mal sagen wollte, und ich habe ja auch schon zugestanden, dass es „unter der Hand“ gegen eine weiterreichende Tendenz geht. Das finde ich nicht unbedingt ein Problem.

Der Jargon, das Vorwissen, die Weltanschung liegt ja immer schon bereit. Das ist nichts, was ich kritisieren würde. Bei den „Freunden“ fällt es nur auf, weil ihr Jargon so gar nicht in die poststrukturalistisch geprägte Linke passt. Mir geht es auch weniger um deine Abarbeitung an den „Freunden“, damit kannst du wenig falsch machen, allerdings machst du es dir damit auch einfach.Du argumentierst „gegen eine weiterreichende Tendenz“. Sie an den „Freunden“ festzumachen ist so falsch, wie eine Kritik des Anarchismus an den Autonomen der Rigaerstraße zu explizieren. Wobei ich dir auch zu Gute halte, dass es noch keinen richtig gute Kritik zu dem Text gibt.


Darin, die Kritik der ‚Freunde‘ abzuwehren, mag mein Text also in gewisser Hinsicht effektiv sein, aber eben, wie du meinst, nicht in Hinsicht auf den Text, den ich deshalb, wie du sagst, „nolens volens überhöhen“ müsse. Du scheinst also zu sagen, dass die Kritik der ‚Freunde‘ sehr wohl verfängt und ich ihr nur dadurch ausweichen kann, dass ich den Text als etwas darstelle, das er nicht ist. Problematisch würde das dann dort, wo mein Text prätendiert, den „Kommenden Aufstand“ zu verteidigen; und tatsächlich tritt er aus taktischen Gründen als Verteidigung auf, als reine Affirmation.

Die Kritik der „Freunde“ reichte, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, von ein paar Lichtblicken bis hin zu dem Fremdschämmoment mit dem „mal gemeinsam ein Bier trinken gehen“. Dort wo ihre Kritik ins Schwarze traf, da war es auch nicht unheimlich schwierig.

Mit dem Vorwurf der Überhöhung ziele ich weniger auf deine Kritik an ihnen, sondern auf das vielfache, nie konkret gemachte Suggerieren weiterer Ebenen. Dazu später mehr.

 

Vielleicht hast du recht, vielleicht ist es teils „nachholende Entwicklung.“ Nur sind Ladendiebstahl und Häuserbesetzen doch keine deutsche Erfindung. Ich weiß, in Deutschland heißt Wissen immer: besser Wissen. Das ist nicht schön. Aber lassen wir das. Auch gibt es in diesem knappen Satz natürlich noch die Anspielungen auf die SI und auf Breton. Das kann man sicher auch kritisieren, aber einfach „platt“ ist es nicht.

All diese Anspielungen, die sie machen, die verkappten Zitate, die Paraphrasen, die Andeutungen interessieren mich nicht. Ob sie mit den Kreisen auf die Göttliche Komödie, wie die faz meint, oder auf Die Ästhetik des Widerstands anspielen ist eine Frage für das Feuilleton, sie interessiert mich in diesem Fall nicht. Wenn ich große, durchdachte Literatur lesen möchte, wo sich alles erst nach und nach erschließt, dann lese ich James Joyce.

Den kommenden Aufstand habe ich, und das unterscheidet uns wohl, rein aus gesellschaftskritischer Perspektive gelesen. Und aus dieser Perspektive muss man die ganze Poesie, die ganzen Andeutungen, das wohl klingende Geschwafel, die Ästhetik, kurz, all das, was nur dazu dient, dass sich die Philosophie-Studenten in Berlin oder Paris, die Kulturwissenschaftler aus Rom oder Barcelona ihres Intellekts versichern können, weil sie auch Agamben oder Debord gelesen haben, all das, was dem Autor vielleicht eine Professur an der Sorbonne einbringt, all das muss beiseite geräumt werden.

 Und wenn man das getan hat und nur der gesellschaftskritische Gehalt übrig ist, dann schrumpft die ganze Schrift zu einem INTERIM-Pamphlet, was man nach zwei Seiten weglegt, weil die Thesen zu hypothetisch, die Annahmen zu unbegründet sind. Weil es einfach ein Pamphlet voll platter und dummer Ideologie ist.

 Wenn sich deine Andeutungen von (Meta)-ebenen nicht auf eine literarische oder philosophische Ebene beziehen, sondern auf die der konkreten Gesellschaftstheorie, dann würde ich sie gerne vermittelt bekommen. Ansonsten lese ich lieber Ulysses mal fertig.

 

Genauso sind meine Andeutungen als Lektüretips verstehen, aber stattdessen sagst du, dass du dich da, sozusagen „als Marxist“, gar nicht erst drauf einlassen kannst. Tja, das ist wohl deine (Vor-)Entscheidung.

Ich schreibe da später noch mehr dazu. Ich bin allerdings niemand, der sich weigert andere Positionen aufzunehmen. Ich besuche auch komischste Antiimp-, FAU- oder TOP-Veranstaltungen, obwohl ich weiß, dass ich da inhaltlich meilenweit entfernt bin. Warum ich mich bei diesem Text nur sehr widerwillig auf weitere Lektüretips einlassen würde steht an anderer Stelle.

 

Jedenfalls sind die ‚Unischtbaren‘ nicht so leicht einzuordnen, wie du es dir, wohl zur Wahrung liebgewonnener Gewissheiten, zu wünschen scheinst. Wie sie selbst in Reaktion auf ihre Einbettung in den Pressekommentar schon so treffend sagten: „Man braucht sich nicht weiter mit uns zu beschäftigen.“ In deinem Gebrauch der Vokabel „anarchistisch“ scheinst du dich jedenfalls ganz an die „marxistische“ Denunziation zu halten.

Es sind, wie ich später andeuten werde, halt gänzlich verschiedene Denktraditionen, hier die Materialisten, dort die Idealisten, die als einzige Gemeinsamkeit haben, dass sie auf das selbe hinaus wollen. Deswegen teile ich deine These:

Es ist möglich, beides zu sein: Anarchist und, nun, Marxist.

in keinster Weise teile. Ein Verweis auf die Wertkritik bedeutet noch nicht die Übernahme des dahinter stehenden Denksystems. Die Denkgebäude der Marxisten und Anarchisten schließen sich, wie auch die Denkgebäude der Poststrukturalisten, bzw. postmodernen Philosophen per se aus, weil sie weit entfernt und aus ganz unterschiedlichen Materialien errichtet wurden.

 

Gleichwohl und gleichfalls würde ich natürlich gerne sehen, wie du das Pamphlet „aus einer marxistischen Perspektive in Grund und Boden“ kritisierst, aber richtig, dafür müsstest du es ja erstmal „ernst nehmen“. Doppelt verrammelt also. Mir scheint, dass da jemand gehörig unsicher ist.

Das Problem ist grundlegender, als du denkst. Die anarchistische Ideologie, die das Komitee in so wohlfeilen Worten verpackt steht in jeder Zeile in so eklatantem Widerspruch zu marxschen Grundannahmen, dass eine Kritik aus marxistischer Perspektive ihr nicht gerecht werden könnte. Man könnte polemisieren oder die Hypothesen zerlegen, aber nur weil man eben andere zu Grunde legt.

Sie sagen Aufstand, ich sage Revolution, sie sagen Subsistenz, ich sage Übernahme der Produktivkräfte auf dem höchstmöglichen Stand ihrer Entwicklung; sie sagen „das Problem ist der Staat“, ich sage, das Problem ist der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Sie sagen: „in Kommunen zurückziehen, autonom werden, dem System Nadelstiche versetzen, Territorien erweitern und vervielfältigen, ich sagen: Schwachsinn.

Es ist ein ganz anderes Denkgebäude, in dem sie sich befinden. Die Annahmen, das Denken ist so grundverschieden, dass es keine Synthese geben kann.

Ich kann diesen Text dann nicht ernst nehmen, wenn ich meine Grundannahmen anlege. Von diesen aus betrachtet ist es voluntaristischer Blödsinn, pure Ideologie, an die man glauben muss, wenn man ihren Vorschlägen Erfolgschancen zu billigen will.

Es gibt darin so gut wie nichts was ich teilen würde, keine Erkenntnisse, die mich weiter bringen, keine Beschreibung der Lage, die mir nicht bereits x Mal aus dem ZEIT-Feuilleton entgegengesprungen ist, keine Vorschläge, die man nicht in jeder zweiten INTERIM-Ausgabe findet.

 

Vielleicht ist der Text jugendlich. Vielleicht ist das gut; gut, dass er sich an die Jugend richtet, oder auch daran, was wir blasierten Marxisten noch an Jugend in uns finden können. Das finde ich kein Problem. Ich finde es wichtig. Wer tut das noch? Viele Jugendliche haben ganz richtige Intuitionen, bevor sie sich arrangieren und „realistisch“ werden. Das Glück der Erkenntnis im Schein der eigenen Schreibtischlampe jedenfalls wird falsch, wie die Erkenntnis auch, wenn sie einsam bleibt.

Na, so alt bin ich jetzt auch wieder nicht. „Die mächtigste Kraft der Welt ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ schrieb Voltaire. In diesem Sinne würde es mir darum gehen die Gesellschaftskritik auf die Höhe der Zeit zu bringen, die Wege zu suchen, die Theorien anzupassen, um wieder eine Perspektive zu entwickeln die Vorgeschichte der Menschheit zu beenden. Das affirmieren jugendlicher Revolten bringt dafür nichts. Wenn die Erkenntnis und ihre Zeit da ist, dann wird sie nicht einsam bleiben.

 

Der Text ist sicher interessant eher ob seiner aktual breiten Rezeption und nicht etwa, weil er etwa der herausragendste Text wäre, der mit einer ähnlichen Stoßrichtung in den letzten Dekaden erschienen ist. Das habe ich ja auch konzidiert. Gleichwohl lässt sich einiges daran festmachen. Meine kontextualisierenden und interpretativen Angebote jedenfalls zielen nicht so sehr am Text vorbei, wie du meinst, sondern darauf, dass sie, sozusagen rückwirkend, seine Lesbarkeit erst mit herstellen, darauf, wenn du so willst, dass der Text besser wird durch sie. Nennen wir es 'rettende Affirmation'.

Ja, so habe ich dich verstanden, aber ich bezweifel, dass der Text auf der Ebene der Gesellschaftskritik zu retten ist.

 

Meine Verteidigung war einfach reine Verteidigung, um ein Gegengewicht zu bieten, ob der merklichen Tendenz, dass viele es sich zu leicht damit machen, den Text unter alten Gewissheiten zu begraben.

Bringt der Text denn an irgendeiner Stelle etwas neues, etwas, was man nicht schon 100 Mal gehört hat, was man nicht gleich abtun kann? Das Problem des Textes ist, dass er dafür, dass er so schlecht ist, so breit rezipiert wird. Einen anderen Umgang, als ihn unter meinen alten Gewissheiten zu begrabe, kann ich mir nicht vorstellen. Für einen solchen, müsste der Text oder das was da als Andeutung, als (Meta-)Ebene, als Verweis drin steckt über meine Gewissheiten hinausweisen und bisher habe ich da nichts gefunden.

 

Und Foucault? Schiebst du mir den unter, nur weil ich mal „Diskurs“ gesagt habe, oder meinst du, der kommt halt über Agamben gucken?

Nein, entschuldige, das bezog ich eher auf das Kommitee, wenn auch nur sehr am Rande. Sorry, ich hatte nur ein paar Minuten für den Kommentar, deshalb war er sicherlich suboptimal.

Der Satz "Die Denkgebäude der Marxisten und Anarchisten schließen sich, wie auch die Denkgebäude der Poststrukturalisten, bzw. postmodernen Philosophen per se aus, weil sie weit entfernt und aus ganz unterschiedlichen Materialien errichtet wurden." muss lauten "Die Denkgebäude der Marxisten und die der Anarchisten, bzw. die der poststrukturalistischen/postmodernen Philosophen schließen sich per se aus, weil sie weit entfernt und aus ganz unterschiedlichen Materialien errichtet wurden."

So wie er da steht ist der Satz natürlich Blödsinn.

... yo Nils, soll das eine Feind-Erklärung sein? Klingt ein wenig so, und einfach wie gehabt trotzig. Ich hab jetzt keine Zeit genauer drauf einzugehen, aber ich komm noch mal drauf zurück, nicht heute oder morgen, aber vielleicht übermoregen. ...

Ich finde es nur wichtig, die Differenzlinien zu sehen. Die "Linke" streitet sich in vielen Fällen über die aus gänzlich unterschiedlichen Denktraditionen erwachsenen Folgerungen. Das ist ohne Sinn und Verstand. Ideologiekritik bedeutet für mich, die Ideologien auf ihre Grundannahmen, auf die Ideen, zurückzuführen und sich nicht an den Schatten abzuarbeiten.

Um es konkret zu machen, die Linke hat sich in der letzten Dekade mit einer unheimlichen Heftigkeit um das Thema "Israel" gestritten. Die Antideutschen konnten nicht nachvollziehen, wie man sich nicht vor die Wahl gestellt zwischen islamistischen Terror und dem bürgerlichen Staat für letzteren entscheiden kann. Die Anarchisten konnten nicht nachvollziehen, wie man sich für ihren Todfeind, den Staat engagieren kann. Die Poststrukturalisten konnten nicht nachvollziehen, wie sich jemand ("der weiße Mann") erdreisten kann sich in die Belange anderer Kulturen einzumischen.

Und so wurde sich zehn Jahre lang lustig gestritten und an dem Schatten abgearbeitet.

Wäre jemand mal auf die Idee gekommen, herauszuarbeiten, warum diese Positionen so unversöhnlich nebeneinander stehen, dann hätte man sich nicht zehn Jahre streiten müssen. Man hätte die Grundannahmen* diskutieren können, die Denkfehler und Schwächen gegenüberstellen können und hätte dann vielleicht auch sehr früh feststellen können, dass sie so unvereinbar sind, dass man den Weg nicht mehr zusammen geht.

Deshalb ist das Geschriebene keine Feind-Erklärung, sondern nur der Versuch die Grundannahmen herauszuarbeiten. Ich würde mich über einen Kommentar deinerseits freuen.

 

* Die diesbezüglichen Grundannahmen würde ich wie folgt, natürlich sehr verkürzt skizzieren:

- Die Antideutschen sind/waren in erster Linie Marxisten. Ihr Anspruch und Ziel, die kommunistische Weltgesellschaft, ist global. Sie haben für Kulturen nichts übrig, da das, was sie anstreben, das Individuum und nicht dessen Kultur exponiert. Sie belächeln alles Kulturelle, jede Tradition weil sie eine Gesellschaft anstreben, die die freie Entfaltung des Menschen zum Ziel hat und ihn deshalb aus allen kulturellen Zwängen und Beschränkungen herauslösen muss. Sie sind deshalb per se eurozentristisch, da ihre Hypothesen aus der europäischen Aufklärung entspringen.

- Die Poststrukturalisten dem gegenüber weiten die Annahmen aus ihrer Sprachtheorie auf die Gesellschaft aus. Sie wollen das Marginale, das Nichtdefinierte, das Nichtgesagte zu "seinem Recht verhelfen". Die von der Aufklärung (und damit auch vom Marxismus) zu Grunde gelegten Konzepte und Vorstellungen wollen sie zu Gunsten des Randständigen dekonstruieren. Damit landen sie recht zwangsläufig bei der Affirmation marginalisierter Kulturen und Identitäten. Die Marginalität ist für sie ein Wert an sich, weshalb sie diese unter Naturschutz stellen. Kritik an ihnen verbitten sie sich mit der Schaffung von Kampfbegriffen wie Eurozentrismus, womit sie die Verteidiger von Werten der Aufklärung belegen.

Sie sehen Geschichte nicht als einen Verlauf, bzw. eine Entwicklung, was für den Marxismus fundamental ist, sie haben deshalb auch im Grunde keine Vorstellung einer befreiten Gesellschaft, sondern verbleiben auf Ebene eines links-demokratischen Reformismus.

- Die Anarchisten haben den deutschen Idealismus nicht wie Marx materialistisch gewendet. Ihr Menschenbild ist nicht das eines den herrschenden Verhältnissen unterworfenen Subjekts. Für sie ist der Mensch a priori gut und es sind äußere Zwänge ("der Staat", "die Bullen"), die ihn davon abhalten das Paradies auf Erden zu errichten. Dies führt dann auch zu einer sehr verkürzten Strategie zur Überwindung des Kapitalismus (ganz platt: "wir müssen nur genug Menschen überzeugen, dann gibt es einen Aufstand und wir schaffen den Staat ab."), wie man sie auch in "Der kommende Aufstand" wunderbar vorexerziert bekommt.

- Die Antiimps ignoriere ich jetzt mal...

Was das "autonom werden" angeht, hast du wohl einfach Recht. Damit ist in dem Zusammenhang nicht gemeint, was ich (vermittels Agambens Paulus-Lektüre) damit verbunden hab. Es wird ja der "Unabhängigkeit" entgegengesetzt, die es sei, einen Boss zu finden, wenn ich mich richtig erinnere. Trotzdem find ich das legitim und aktuell, auch wenn es nicht NEU sein sollte.

Auch in diesem anderen Sinn allerdings ist das "autonom werden" im Text auffindbar, als Gleichgültigkeit gegenüber den Milieus. 

Das Elend im Postdoc-Milieu - der liebe Gott sei der Bewerbungen des Autors in radical academia gnädig. 

... also auch das Jungle Camp noch nie gesehen. Ich weiß, da entgehen mir viele Einblicke in den gegenwärtigen Gesellschaftszustand. Ab und zu zufällig einer Stunde TV ausgesetzt, bin ich stets für eine ganze Woche unterhalten. So mit 16 Jahren hatte ich kurz eine spöttische Haltung gegenüber dem TV, was zum einen meine Familie genervt und mir zum anderen auch nicht lange über das nagende Gefühl hinweggeholfen hat, meine Zeit zu verschwenden.

Falls du mich meinst, ich hab noch nicht mal fertig studiert (und so alt bin ich auch nicht.) Falls du die 'Unsichtbaren' meinst, die haben sich von Tiqqun u.a. abgespalten, gerade um der Reintegration in die Akademie zu entgehen.

Radikale Profs find ich trotzdem super. Es gibt ja zu wenige, zu denen man sich fliehen kann. Das können ja wohl nur bemitleidenswerte Neider blöd finden.

... ach so, ich, A.K., meinte das. Dass das post-doc Milieu häßlich sein kann, keine Frage.