Die arabische Welt brennt: Gespräch mit einem syrischen Anarchisten

Aufstände im Nahen Osten und Nordafrika

Die grossen Revolten, welche in Jemen, Algerien, Tunesien und nun Ägypten stattfinden, haben alle überrascht. Sie stellen zweifelsohne eines der wichtigsten Ereignisse unserer Zeit dar und machen deutlich, dass kein Ort auf der Welt dazu verdammt sein muss, der Spielplatz eines durch den westlichen Imperialismus gestützten Diktators sein zu müssen.

 

Autoritäre Regimes wie das von Ben Ali zeigten sich völlig machtlos gegenüber den vereinten und entschlossenen Leuten im Kampf. Es sind Jugendliche, ArbeiterInnen, Arbeitslose und Arme, die mit ihrem Aufbegehren die Zukunft der Region formen und damit in Washington und Tel Aviv für kalte Rückenschauer sorgen. Weder all die vom Mubarak-Regime angehäuften Waffen noch die Militärhilfe durch die USA konnten das Ausdehnen der Proteste verhindern. Diese zeugen von der Macht des Volkes und der vereinigten ArbeiterInnenklasse, beweisen die Fähigkeit von gewöhnlichen Menschen, Gegeninstitutionen mit klar libertären Ansätzen aufzubauen, und machen deutlich, dass wir uns in einer Ära revolutionärer Veränderungen befinden. Wir führten ein kurzes Gespräch mit unserem Genossen und Freund Mazen Kamalmaz aus Syrien, Redaktor des arabischen anarchistischen Blogs http://www.ahewar.org/m.asp?i=1385, der über die Bedeutung dieser grossartigen politischen Entwicklung spricht.

 

1. Es scheint, dass alle diese abrupten Protestwellen am Fundament der repressiven Regimes in der arabischen Welt rütteln... Gab es irgendwelche Zeichen für das Aufkommen dieser Proteste?


Das ist einer der interessanten Aspekte dieser revolutionären Welle, die sich in der arabischen Welt ausbreitet - sie tauchte zu einem Zeitpunkt auf, an dem sie niemand erwartete. Nur wenige Tage vor den Massendemonstrationen in Ägypten bezeichnete die US-Aussenministerin Hillary Clinton das ägyptische Regime als stabil - und nun ist nichts mehr stabil in der Region: Die Massen befinden sich in der Revolte und überall erwarten die repressiven Regimes das Schlimmste. Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen diesen Vorfällen, die den autoritären Systemen, ihren Staatsmännern und der Intelligenzija nicht aufgefallen sind, wie die Wut, versteckt und durch die staatliche Repression mundtot gemacht, wie die Armut und die Arbeitslosigkeit, die überall zugenommen haben... aber die Regierungen - auch diejenigen des Westens - glaubten, diese Wut unter Kontrolle halten zu können... wir wissen nun, wie falsch sie damit lagen.

 

 

2. Was ist die Bedeutung der Flucht Ben Alis aus Tunesien?


Es ist nur die erste Etappe einer in Gang getretenen Kaskade von Ereignissen. Bedeutend war das Signal, dass das Volk, das revoltierende Volk, die Repression besiegen und gewinnen kann. Es ist zu früh, um über den Ausgang zu sprechen, im Moment ist alles noch zu komplex, doch die Leute haben ihre tatsächliche Macht erfahren und sind noch immer auf den Strassen. Somit kann der Kampf noch in viele Richtungen führen.

 

 

3. Wohin breitet sich die Revolte aus? Welche Länder werden nun massive Aufstände erleben?


Wir können nun mit Zuversicht sagen, dass dies überall sein kann. Algerien, Jemen und Jordanien sind vielleicht die nächsten Schauplätze. Doch wir müssen uns bewusst sein, dass die ägyptische Revolution an jedem Ort Auswirkungen haben könnte, die noch die schlimmsten Albträume der Diktatoren und ihrer Unterstützer in den Schatten stellen.

 

 

4. Was sind die eigentlichen Auswirkungen einer Revolution in Ägypten, dem Land mit der zweitgrössten US-amerikanischen Militärhilfe?


Ägypten ist das grösste Land im Nahen Osten, und seine strategische Rolle ist äusserst wichtig: Es ist einer der Hauptpfeiler der US-Politik im Nahen Osten. Sogar wenn sich das alte Regime noch für einige Zeit an der Macht halten kann oder das neue Regime pro-amerikanisch sein wird - der Druck der Massen wird nun immer präsent sein. In einem Wort, die USA, die grösste Unterstützerin des aktuellen Regimes, wird stark unter der Revolte der ägyptischen Bevölkerung zu leiden haben.

 

 

5. Was ist die Rolle der Muslimbrüder in den Protesten? Und diejenige der alten Garde der Linken?


Die Tatsache, dass diese Demonstrationen und Aufstände völlig spontan waren und durch die Massen initiiert wurden, ist ein sehr wichtiger Aspekt. Es stimmt, dass sich verschiedene politische Parteien zu einem späteren Zeitpunkt hinzugesellt haben, doch der ganze Kampf ist zu einem grossen Teil Ausdruck der autonomen Aktion der Massen. Dies trifft ebenso auf die politischen Organisationen der IslamistInnen zu. Vielleicht denken diese Gruppierungen nun, dass Wahlen sie an die Macht bringen können, doch mit revoltierenden Massen auf den Strassen ist das schwierig. Ich denke, dass die Bevölkerung sich weigern wird, sich wieder einer repressiven Macht zu beugen. Doch selbst wenn dies geschehen sollten, werden die BürgerInnen vor allem angesichts der jüngsten euphorischen Erinnerungen an die durch ihren Kampf gewonnene Freiheit nicht akzeptieren, bloss Unterworfene einer neuen Regierung zu sein. Keine Macht wird es einfach so gelingen, sie durch ein neues Regime zu unterdrücken.

 

Eine andere Tatsache muss im Auge behalten werden: Revolutionen machen die Leute empfänglicher für libertäre und anarchistische Ideen. Freiheit, nicht Autoritarismus ist die bestimmende Idee der Zeit. Einige der stalinistischen Gruppen repräsentieren bloss das hässliche Gesicht des autoritären Sozialismus... beispielsweise beteiligt sich die ehemalige Kommunistische Partei Tunesiens an der neuen Regierung - zusammen mit der Partei des gestürzten Diktators Ben Ali! Eine andere autoritäre Organisation, die Tunesische Kommunistische Partei der Arbeiter, nahm an den Demonstrationen teil, konnte aber dann nur ihre inneren Widersprüche aufzeigen: unmittelbar nach der Flucht von Ben Ali hatte sie zu lokalen Räten und Komitees zur Verteidigung des Aufstandes aufgerufen, zog diese Forderung dann aber wenig später zurück und forderte ein neues Parlament und eine neue Regierung. In Ägypten passiert fast das Gleiche, wo reformistische linke Gruppierungen wie die Fortschrittliche Unionistische Partei und weitere Organisationen der autoritären Linken existieren.

 

In Ermangelung an Kontakten zu lokalen GenossInnen kann ich nicht genau über die Rolle von AnarchistInnen und anderen Libertären (es gibt auch eine wachsende rätekommunistische Strömung) Auskunft geben, doch möchte ich nochmals unterstreichen: diese Revolutionen wurden hauptsächlich durch die Massen selbst durchgeführt. In Tunesien spielten in den späteren Phasen der Revolte die starken lokalen Gewerkschaften eine grosse Rolle.

 

Ich will noch etwas ausführlicher auf die durch die Massen errichteten lokalen Komitees zu sprechen kommen, die einen der interessantesten Ausdrücke der revolutionären Aktion darstellen. Angesichts der Plünderungen, die hauptsächlich von der ehemaligen Geheimpolizei angezettelt wurden, bildete die Bevölkerung diese Komitees als demokratische Institutionen - eine Herausforderung an die Herrschaft der Elite und ihrer autoritären Verwaltungsmaschinerie... in Ägypten existieren nun zwei Regierungen: die lokalen Komitees und die Regierung von Mubarak, welche sich hinter den Panzern und den Gewehren ihrer Soldaten verschanzt. Dies alles geschieht in einer Region, die Autoritarismus und Diktaturen gewohnt ist... Revolution sind grossartig, weil sie die Welt so schnell verändern können. Das bedeutet aber nicht, dass der Kampf bereits gewonnen ist; im Gegenteil, es bedeutet, dass er gerade erst begonnen hat.

 

 

6. Um zusammenzufassen: Was ist deine Meinung über die momentanen Ereignisse? Was bedeuten sie?


Sie sind der Beginn einer neuen Ära. Die Massen erheben sich, ihre Freiheit steht auf dem Spiel. Die Tyranneien sind erschüttert, es ist sicherlich der Anfang einer neuen Welt.