Vorstellung und Lesung: "Begrabt mein Herz am Heinrichplatz" - Der Versuch einer Rekonstruktion autonomer Praxis

Vorstellung und Lesung: "Begrabt mein Herz am Heinrichplatz" - Der Versuch einer Rekonstruktion autonomer Praxis

Bewegungen kommen und gehen. Sie treten selten mit dem Anspruch an, eine konkrete Alternative zum Bestehenden anbieten zu können, in ihnen und um sie herum artikulieren sich aber all die Wut, der Hass auf die bestehenden, entwürdigenden Verhältnisse, formulieren sich verborgende Sehnsüchte und unterdrückte Lebensäusserungen, die nun nicht mehr gegen sich selbst oder gegen die eigenen Klasse gerichtet werden müssen.

 

Was all diese Bewegungen eint und zugleich auch unterscheidet von den leninistischen/trotzkistischen/maoistischen/... Organisierungsansätzen, seien diese als Partei oder als Guerillakrieg im Sinne des Focuskonzeptes angelegt, ist ihr ebenso unberechenbares Auftauchen wie auch Verschwinden.


Sie unterwerfen sich keinerlei strategischen Planung, noch irgendeiner zentralen Steuerung, auch wenn sie sich in der militanten Zuspitzung gewisser taktischer Organisierungsansätze bedienen. In der Zuspitzung hin zum bewaffneten Konflikt (1) liegt dann auch zugleich ihr Scheitern angelegt, das Ende der Autonomia in Italien mit dem Sprung des Staates in einen vorübergehenden präfaschistischen Verteidigungstatus, der tausende Genoss*innen in die Knäste oder ins Exil zwang, mag hier bespielhaft angeführt werden.

Oder es entstehen aus der Bewegung heraus Organisierungsansätze, die versuchen, den aufgebrochenden Antagonismus in eine breite, das System modernisierende Strömung zu überführen und dies mit den konkreten "Erfolgen" legitimieren, die sie erreichen. (Legalisierung besetzter Häuser, Verhinderung oder Modifikation von Grossbauprojekten, das Einschreiben neuer Sichtweisen in die soziale Syntax der Gesellschaft, z.B. Brechung heterosexuller Normvorstellungen).

 

Am Ende aber kommt immer diese eine jene Punkt, an dem den Protagonist*innen auf zutiefst schmerzhafte Art und Weise bewusst wird, das eben jene Bewegung, die eben noch ihr ein und alles war, das dieser Stern, der dort oben so hell und für Bruchteile der Erdengeschichte mit der Leuchtkraft einer ganzen Galaxie strahlte, sich gerade selbst auflöst, vernichtet, lieber zur Supernova wird, ehe er für faule Kompromisse und lahme Ausreden herhalten muss.

 

Wenn wir viele aufrichtige Menschen in einer solchen Bewegung vorgefunden haben, so wird es wenige Zeugnisse über jene Tage geben, die ihnen einst alles bedeuteten. Gab es aber viele Mitläufer und halbherzige Weggefährten, so werden wir Jahre später viele von ihnen in gehobenen Positionen wiederfinden, ihre Bücher werden die Regale der Universitätsbibliotheken füllen.

 

Die Geschichte der Besiegten ist historisch gesehen immer eine Angelegenheit der oral history. Auch "Bewegungsfreundliche" Historiker*innen werden das wirkliche Geschehen (wohlwollend) verfremden, die Geschehnisse vom Ergebnis her deuten, während in den Tagen des eigentlichen Geschehens vielleicht eine ganz andere Sicht vorgeherrscht hat.

 

Deshalb sind all diese raren Projekte so unglaublich wertvoll, die versuchen die Dynamiken und Motivationen der Bewegungen entweder zeitnah und/oder unzenziert zu dokumentieren. Manchmal geschieht dies, wie anlässlich der Geschehnisse in Griechenland nach dem Mord an Alexis im Netz (2) oder es finden sich Menschen, die Beiträge sammeln, übersetzen und in Buchform veröffentlichen (3).

 

Zu den Wochen und Monaten der Unruhen in Frankreich im letzten Jahr, die anlässlich der "Reformen" der Arbeitsgesetze (loi travail) ausbrachen, wurde anfänglich fast ausschliesslich an dieser Stelle aus undogmatischer Sicht berichtet, dankenswerterweise fanden sich aber im Laufe viele Gefährt*innen die ebenso recherchierten (4), übersetzten (5) oder selbst nach Frankreich (6) fuhren.

 

Dieser Tage nun, da sich die Reste einer einmals gefürchteten und in ganz Westeuropa legendären "autonomen Berliner Szene" sich rund um den sogenannten Dorfplatz nächtliche Reibereien mit ein paar dutzend Bullen liefern und es damit schaffen, als Topmeldung in den lokalen Nachrichten gehandelt zu werden (7), dieser Tage nun, da die Tickets für die Festivals und Sommerurlaube nach dem G20 Event in Hamburg schon fest gebucht sind, erscheint bei einem kleinem, aber umso löblicheren Wiener Verlag ein neues Machwerk der oral history: "Begrabt mein Herz am Heinrichplatz". Eine Revue in 45 Akten, die die Jahre 1979 bis 1995 aus "autonomer" Sicht wieder auferstehen lässt

 

Angesiedelt im berühmten Milieu der subventionierten Halbstadt Westberlin, die es nicht mehr gibt, liefern sich Langhaarige, Punks, Freaks und die türkischen Jugendlichen von nebenan ein ständiges Katz und Maus Spiel mit der Berliner Polizei, die dabei meistens ganz schön alt aussieht. Zwischendurch wird mal der Kudamm aufgesucht und hunderte von Scheiben gehen zu Bruch oder Staatsbesuche provozieren stundenlange Strassenschlachten mitten in der Innenstadt. Mit der Maueröffnung eskalieren die gesellschaftlichen Zusammenstösse, militante Antifa ist das Maxim der Stunde. Es darf auch mal gelacht und geküsst werde und am Ende bleiben alle Fragen offen.

 

Die Staatsfeindliche Zusammenkunft zwecks Dechiffrierung autonomer Signale aus den 80igern und 90igern beginnt am Samstag, den 17. Juni um 18:00 im Buchladen Müssiggang am Heinrichplatz. Die Bahoe`s werden aus Anlass der Veröffentlichung des Buches "Begrabt mein Herz am Heinrichplatz" höchstpersönlich anwesend sein. Ein in die Jahre gekommender Genosse hat sich des Textes erbarmt und wird ihn auszugsweise vortragen, da der Autor sich seiner autonomen Geschichte verpflichtet fühlt und unerkannt bleiben will.

 

Im Anschluss sind selbstredend Diskussionen, vernichtende Kritiken als auch spontane Besetzungshandlungen zugelassen. Auch dem anschliessenden gemeinsamen Besuch in den naheliegenden Lokalitäten steht vom Prizip her nichts im Wege.

 


 

(1) Franco Tommei und Paolo Pozzi: "Die Schüsse, die die Bewegung in Mailand töteten"

Deutsch in "Die Golde Horde", Balestrini und Moroni, Verlage Schwarze Risse und Rote Strasse, im ital. Orginal in Il Manifesto, Feb 1978

 

(2) http://tearsandangergreece.blogsport.de/

 

(3) "Wir sind ein Bild aus der Zukunft", Texte aus der griechischen Revolte, LAIKA Verlag

 

(4) "War in the streets", ill will editions

 

(5) Broschüre Ni Loi Ni Travail, Magazin Redaktion

 

(6) Bericht von Leuten aus Bern zur landesweiten Demo am 14. Juni 2016 in Paris gegen das loi travail

 

(7) Bericht der BZ zu den Geschehnissen am "Dorfplatz"

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freu mich drauf, das zu lesen. finde es allerdings schon etwas dreist, das werk unangefragt nach dem titel eines rocksteady-instrumentals zu benennen, den ich vor jahren für eine meiner ex-bands geschrieben habe. https://www.discogs.com/Rolando-Random-The-Young-Soul-Rebels-Fistful-Of-...

 

aber böse bin ich euch jetzt auch nicht wirklich.

 

apropos buch:

heut abend releast papenfuß in der baiz den ersten teil von knofos memoiren. siehe http://www.stressfaktor.squat.net/termine.php

ist daran gar nichts. Der Titel "Begrabt mein Herz am Heinrichplatz" war die Überschrift eines Artikels in der Radikal Anfang der 80iger. Oder von einem Flugblatt aus der Zeit. So genau erinnere ich mich nach all der Zeit nicht mehr. Auf jeden Fall stammt der Spruch genauso wie "Schade das Beton nicht brennt" aus jener Zeit. Wobei letzterer urspruenglich aus der Schweiz kam. Und "die Bewegung" kannte kein Copyright.

der spruch stammt tatsächlich aus den frühen 80ern und ich weiß auch noch sehr genau, wer ihn in anlehniung an das indianerzitat "begrabt mein herz an der biegung des flusses" seinerzeit zum allgemeinen amusement aller anwesenden rausgehauen hat. wenn den danach nochmal irgendwer tatsächlich zu papier gebracht hat- weiß ich nicht so genau, aber ich bin mir zu fast 100% sicher, daß er nicht in der radi war- dann war das schon ein zitat. ich hingegen hab den song garnicht so genannt, das war n bandinterner putsch unseres posaunisten.

 

geht ja auch garnicht ernsthaft um irgendein copyright, war ja eher ne "tongue in cheek"-anmerkung zu dem thema. obwohl, bei licht betrachtet wäre es in  hinsicht auf kapitalistischen cash-in durchaus sinnvoll gewesen, sich mancherlei schützen zu lassen. weil es eben nicht gemacht wurde, hat heute beispielsweise die firma sony - ich glaub sogar weltweit- die rechte an dem wörtchen "punk", was sie aber gnädigerweise nicht ausnutzen...

und danke für die vorbereitung!

auch schon wieder 6 jahre - da wollten einige verhandler*innen sich als widerständige darstellen...

 

und dazu gab es seinerzeit recht nette text über das kreuzberg der 80er:

 

begrabt mein herz am heinrichplatz

ketzerische thesen zum aufstand in berlin 1980 bis 1982

 

aneignung jetzt...

Wie heisst denn der Verlag und wo bekommt mensch das Buch?

bahoe books heisst der VERLAG: http://www.bahoebooks.net/

 

Das Buch dürfte in ungefähr zwei Wochen lieferbar sein.