Nächsten Sonntag wird die neue Bundespräsident*in gewält. Favorisierte kandidat*in ist Frank Walter-Steinmeier (SPD). Doch Frank-Walter findet wie viele seiner zurückgetretenen Vorgänger*innen nicht nur Krieg zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen gut. Mit ihm wird eine ehemalige Geheimdienstkoordinator*in Staatsoberhaupt, die mit massenhafter illegaler Überwachung massiv so ungefähr alle Grundrechte verletzen ließ. Und auch das Folterverbot scheint Steinmeier egal zu sein.
Die Präsident*in und das Grundgesetz
Mit großem Tamtam tritt nächsten Sonntag die Bundesversammlung im Reichstag zusammen, um die Bundespräsident*in zu wählen. Im Amtseid kommt mit den Worten: „ „Ich schwöre, (…) [dass ich] das Grundgesetz und die Gesetzes des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde“ die Rolle der Präsident*in als oberster Hüter*in des Grundgesetzes zum Ausdruck. Zum Grundgesetz gehört auch der erste Artikel „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, der unter anderem ein Folterverbot zur Folge hat.
Folterverbot?
Über dieses Folterverbot soll ab nächste Woche Frank-Walter Steinmeier wachen. Steinmeier war 1999 bis 2005 unter Kanzler*in Gerhard Schröder (SPD) Chef*in des Kanzerler*innenamts und damit (neben seiner Verwicklung in die Hartz4-Reformen) oberste Geheimdienstkoordinator*in in D-Land. In seine Amtszeit fällt der 11. September 2001 und der danach sofort darauf gestartete massive Ausbau der Komplett-Überwachung aller Telekommunikation in D-Land und die damit verbundenen illegalen staatlichen Übergriffe und Grundrechtsverstöße (welche Edward Snowden über 10 Jahre später aufdecken wird). Wie viel von Steinmeiers Amtseid nach diesen massiven illegalen Grundrechtseingriffen zu halten sein wird, sollte hier schon deutlich sein (mehr dazu: https://netzpolitik.org/2016/steinmeier-politik-ohne-skrupel/ ).
Steinmeier und Murat Kurnaz
Aber Frank-Walter Steinmeier war auch in die tragische Affäre um die illegale Inhaftierung des Bremer Deutsch-Türken Murat Kurnaz verwickelt. Murat Kurnaz wurde 1982 in Bremen geboren und von 2001 bis 2004 unschuldig als angebliche Terrorist*in von der US-amerikanischen Regierung in als „Black sides“ bezeichneten Folterknästen in Pakistan, Afghanistan und Guantanamo festgehalten. In Guantanamo wurde er u.a. von zwei Mitarbeiter*innen des Bundeskriminalamtes und einer Mitarbeiter*in des Bundesamtes für Verfassungsschutz verhört, was diese natürlich so lange abstritten, bis es ihnen erst im Mai 2010 in Untersuchungsausschüssen bewiesen werden konnte.
Unschuldig im Folterknast
Ein Untersuchungsausschuss der Europäischen Union fand heraus, dass im Jahr 2002 sowohl die amerikanische Regierung als auch die Bundesregierung zu dem Schluss gelangt waren, dass sie wohl einen Unschuldigen durch die Mangel drehen. Die amerikanische Regierung bot der Bundesregierung deshalb die Auslieferung und Freilassung des zu Unrecht inhaftierten an (Punkt 84 im Abschlussbericht). Doch Frank-Walter Steinmeier sagte „Nein.“ Obwohl er bisher sogar Ermittlungsbeamte nach Kuba geschickt hatte, befand Steinmeier nun, dass er nicht zuständig sei, sondern die türkische Regierung. Steinmeiers Ausrede dafür war die Behauptung, das Herr Kurnaz ja eigentlich türkische Staatsbürger*in sei.
2 Jahre extra dank Steinmeier?
Und so ließ der ab nächste Woche dem Art.1 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) per Eid ganz besonders verpflichtete Foltermeier den unschuldigen Murat Kurnaz noch zwei weitere Jahre im Folterknast von Guantanamo schmoren. Erst Angela Merkel befreite Kurnaz 2006 aus Guantanamo. Im sogenannten „BND-Untersuchungsausschuss“ zur Kurnaz-Affäre behauptete Foltermeier steif und fest, dass es das Angebot der amerikanischen Regierung nie gegeben habe.
Reue?
Wie sieht es heute aus? Reue? Keine Spur. Leute wie Foltermeier machen keine Fehler. Er sagte in einem Interview 2007 dem Spiegel: „Ich würde mich heute nicht anders entscheiden“. In bester postfaktischer Trump-Logik des Mauern-Bauens gegen Muslime schiebt er nach: „"Man muss sich ja nur vorstellen, was geschehen würde, wenn es zu einem Anschlag gekommen wäre".
Was zählt das Folterverbot für Foltermeier?
Eigentlich sollte damit der Fall klar sein: Wenn das Gerede im Grundgesetz von der Menschenwürde und das daraus abgeleitete Folterverbot ernst gemeint wäre, müsste jemand wie Foltermeier irgendwo weit weit weg in den düsteren Wäldern und unwegsamen Sümpfen hinterm S-Bahnring wohnen, und als Schreckgespenst in Gruselmärchen für Kinder oder Horrorfilmvorlagen dienen, anstatt kommende Woche ins Schloss Bellevue einzuziehen.
Breiter Konsens für Folter
Doch trotz des eigentlich absolut eindeutigen Folterverbots konnten sowohl Foltermeier selbst als auch beide Untersuchungsausschüsse des Bundestags zum Thema kein Fehlverhalten finden. Und auch sonst gibt es in D-Land einen breiten Konsens für Folter. Zuletzt groß in der Öffentlichkeit debattiert wurde das Folterverbot 2006 im Fall der Frankfurter Polizeipräsident*in Wolfgang Daschner. Dieser hatte aktenkundig einen wegen Kindesentführung Verdächtigten mit Folter gedroht und konkrete Vorbereitungen für die Aussageerpressung getroffen. Ergebnis: Geldstrafe auf Bewährung. Und eine breite Debatte, in der sich eine große Öffentlichkeit für Folter von schlimmen Leuten ausspricht.
Terrorist*innen foltern ist Ok?
Auch der aktuelle Fall des Berliner Terrorverdächtigen Navid B. Fügt sich ins Bild. Dieser wurde im Dezember nach dem LKW-Anschlag am Breitscheidplatz unschuldig verdächtigt. Nach seinen Angaben folterten ganz normale Berliner Beamte ihn während der Haft. Die Berliner Polizei dementiert natürlich, aber wer sich mit der Geschichte der RAF auskennt, gewinnt leicht den Eindruck , dass das Durchprügeln von „Terroristen“ direkt nach der Verhaftung in Deutschland zum guten Ton gehört.
Ganz normale U-Haft als Folter?
Und worüber niemand im Bildungsbürger*innentum reden möchte, ist der Fakt, dass jede normale U-Haft de facto sogenannte „Weiße Folter“ enthält. So verglichen die Anwälte des Pleite-Bankers Thomas Middelhoff dessen ganz normale U-Haft-Bedingungen übers Ziel hinausschießend sogar mit Guantanamo. „Aufgrund unhaltbarer Haftbedingungen wie permanentem Schlafentzug sei der ehemalige Arcandor-Manager "sehr krank", heißt es in einer Haftbeschwerde, aus der die Welt am Sonntag zitiert. (...)Während der ersten vier Wochen in der Essener Justizvollzugsanstalt habe der 61-Jährige unter permanenter Kontrolle gestanden, schreiben die Verteidiger; das Licht in seiner Zelle sei meistens eingeschaltet gewesen, wodurch Schlaf unmöglich gewesen sei. Man habe Middelhoff zudem über einen Zeitraum von 672 Stunden alle 15 Minuten geweckt – Tag und Nacht“ berichtet die Zeit über den Fall.
Die Lebenslüge des liberalen Bürger*innentums
Die Folter-Debatte und Foltermeiers voraussichtliche Beförderung zur obersten Anti-Folterer*in der Republik zeigt zweierlei auf. Zum einen zeigt es die Lebenslüge des liberalen Bürger*innentums auf. Im liberalen Bürger*innentum denkt man, dass, wenn man Leuten eine Uniform, Knarre und Schlagstock gibt, und ihnen erlaubt, diese zu benutzen, sie diese Machtmittel dann nur benutzen würden, wenn das Schießen und Schlagen die Menschenwürde der Betroffenen nicht antastet. Eigentlich sollte klar sein, dass dort, wo Macht ist, diese auch benutzt wird. Ist es aber nicht, wie die erwartete Zustimmung der Grünen und der FDP zu Foltermeiers Beförderung zeigt.
Herrschaft als Kontinuum
Aus einer eher analytischen Perspektive betrachtet, zeigt der Fall, dass Herrschaft kein kategorialer Begriff ist. Worte wie Demokratie, defekte Demokratie, Autokratie, Totalitarismus und noch deutlicher Rechtsstaat und Unrechtsstaat sind diskursive Kategorien, die keine reale empirische Entsprechung haben. Herrschaft ist viel eher beschreibbar als ein mehrdimensionales Kontinuum. Auf diesem Kontinuum kann man ähnlich wie auf einem Mischpult die einzelnen Variablen (Pressefreiheit, freie Wahlen, Grundrechtsgeltung, usw.) beliebig hin und her regeln, ohne etwas am Kern von Herrschaft zu ändern: Egal, um welche Art von Herrschaftssystem es sich handelt, immer sorgt dieses System dafür, dass einige wenige einen dauerhaft abgesicherten privilegierten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen haben, während Gewalt und Folter gegen andere, weniger privilegierte Menschen angewandt werden, um dieses System zu stabilisieren.
Mehr Infos:
Warum Polizeigewalt ein elementarer Bestandteil demokratischer Herrschaft ist:
http://maqui.blogsport.eu/2016/02/21/polizei-gewalt-als-teil-der-demokratie/
Was ist das Besondere an demokratischer Herrschaft?
http://maqui.blogsport.eu/2015/09/07/das-besondere-an-demokratischer-herrschaft/
Korrigierte Wahlplakate am Polizeirevier Tempelhofer Damm:
hinweis
Bei Frank Walter S. ist das Geschlecht klar. Da wird nicht gegendert.
defma
vlt sieht das walter anders. wie auch bei kolonisierten Gemüs*innen ist die subjektive Betroffenheit entscheidend!
anonym
danke