Editorial: Internationalismus ist die Perspektive, die versucht sich den auferzwungenen Konzepten von Grenzen und Staaten zu entledigen, da der Kampf und die Solidarität der Feinde jeglicher Herrschaft über jegliche Grenze und Barriere der Macht hinaus getragen werden muss.
Internationalismus heißt sowohl die internationale Dimension lokaler Geschehnisse und Prozesse zu betrachten, als auch die internationalistische Dimension der anarchistischen Idee, also die einer befreienden Perspektive für alle Menschen unabhängig von Herkunft und Ort, zu erfassen. Da in dieser Welt Befreiung immer etwas mit Zerstörung zu tun hat, ist der Boden auf dem wir uns kennen lernen und diskutieren können und fernab von Identitäten und Klischees, von Masken und Scham begegnen können, auch der, auf dem wir von unseren Kämpfen erzählen, vom Erkämpfen von Freiheit und vom Zerstören unserer Unterdrückung. Davon, wie wir unsere Feindlichkeit gegen jegliche Herrschaft versuchen in praktischen Begriffen und Dynamiken auszudrücken.
Die Idee dieser Publikation ist es, verschiedene Beiträge zu versammeln, in denen die Autoren und Autorinnen aus ihrer eigenen Perspektive ihren Blickwinkel auf vor Ort stattfindende Kämpfe und Entwicklungen mitteilen und es so einer internationalistischen Leserschaft ermöglichen, diese nachzuvollziehen.
Gleichzeitig ist die Avalanche der Versuch, so einen sich gegenseitig nährenden Diskurs anzuregen und ein Rahmen für sich eventuell entwickelnde Korrespondenzen zu sein. Korrespondenz im Sinne der Idee und Möglichkeit, Fragen und Perspektiven vorangegangener Beiträge aufzugreifen und in Bezug auf die eigene Realität weiterzuspinnen und fortzutragen oder zu kritisieren und zu hinterfragen. So kann potentiell eine Anregung, eine Intensivierung von Perspektiven und eine Klärung von Ideen entstehen. Allerdings ist dies eine große Herausforderung, da es der aktiven Beteiligung von verschiedenen Gefährten bedarf. Vielleicht ist gerade dies grundlegend für den Internationalismus: Beziehungen entstehen nicht einfach dort, wo man sich gegenseitig gefällt und konsumiert, und trotzdem von Entfernungen getrennt bleibt, nein, sondern eher dort, wo man einander fordert – und sich mit der Herausforderung konfrontiert, zusammenzukommen und miteinander auseinanderzusetzen, also ehrlich und direkt die eigenen Ideen, Vorschläge und Kritiken auszudrücken.
In diesem Sinne wollen wir uns auch mit der Realität der internationalistischen Beziehungen konfrontieren und sehen, von wem Beiträge, also neue Texte oder bereits publizierte Texte mit einer kurzen Einleitung, zugeschickt werden, und mit wem es möglich ist über potentielle Beiträge – z.B. auch Interviews – zu diskutieren, anstatt diese Beteiligung künstlich zu konstruieren, indem wir bereits publizierte Artikel aus anderen Publikationen oder dem Internet abdrucken. Und natürlich ist es eher auf der Basis realer Beziehungen möglich, nach Beiträgen zu diesem Projekt nachzufragen und nachzuhaken. Vielleicht ist dieses Nachhaken ein wichtiger Aspekt, der in vielerlei Hinsicht in der Welt des Internets verloren geht. Ein Nachhaken in Bezug auf „was passiert gerade? Wohin wollen wir? Und zwar wie und auf was für Wegen?“. Die grundlegenden Fragen, die am Anfang jedes Projektes und jeder affinitären Beziehung stehen, und denen man sich immer wieder gegenüber findet. Und gerade da diese Fragen etwas grundlegendes und individuelles sind, kann die Klärung dieser Fragen durch niemand anderen als einen selbst übernommen werden. Diejenigen, die wirklich vor Ort und innerhalb der Kämpfe sind, können wohl am besten davon erzählen und reflektieren, was vor sich geht und wohin sie wollen. Die Rolle derjenigen, die denken, anderen alles erklären oder Kämpfe für sich vereinnahmen zu können, öffnet der Ideologisierung und Delegation Tür und Tor. Eine Beziehung kann sich nicht auf der Basis von vorgefertigten Erklärungsmustern und einer voreingenommenen Wahrnehmung, auf der Abstraktion von konkreten Realitäten und der Objektifizierung von Individuen entwickeln, sondern nur dort, wo jeder für sich spricht. Das ist die Basis, auf der wir uns dieses Projekt vorstellen und die Basis auf der wir all diejenigen, die Affinität zu diesem Projekt verspüren, dazu auffordern, dazu beizutragen.
Das Übersetzen, das Lesen und Verbreiten verschiedener Texte, das Reisen und Diskutieren, das Zusammenkommen und teils das Organisieren unterschiedlicher Vorhaben sind alles Sachen, die viele Gefährtinnen in einem internationalen Rahmen teilen und praktizieren. Doch oft verweilt die gemeinsame Ebene auf der eines gegenseitigen Austausches von Informationen und Geschichten, was zwar inspirierend und wichtig ist, doch allerdings nicht das Gefühl durchbrechen kann, in voneinander getrennten Welten zu leben. Eine Trennung, die wir nicht durchbrechen können, indem wir uns vortäuschen, einen Kampf gemeinsam zu führen, obwohl nach dem Gemeinsamen, nach dem, was wir an individuellen Analysen und Methoden, an Perspektiven und Vorstellungen wirklich teilen, nicht gefragt und gesucht wird.
Ist der Vorschlag, den wir einander machen, einfach nur ebenfalls das zu tun, was wir selbst hier vor Ort tun? Oder ist es möglich auf der Basis einer Korrespondenz und einer so entstehenden Kenntnis von spezifischen Kontexten und individuellen Erfahrungen und Perspektiven einen gemeinsamen Vorschlag zu entwickeln? Nicht als fixes Konstrukt, sondern als Kern gemeinsamer Analysen und Affinitäten – wie es nun möglich wäre, eine reale Verbindung zwischen Kampfprojekten zu entwickeln? Nicht um der Illusion zu verfallen, dass wir uns dann endlich alle einig wären, dass wir mehr werden müssten oder wir so stärker und mächtiger wären – nein, der asymmetrische Konflikt, der es stets ablehnt das Modell und die Methode der Herrschaft nachzuahmen, ist eine Grundlage unserer Anarchie. Sondern deswegen, weil wir in der Tat die selbe Kugel unter den Füßen haben, und die Prozesse der Macht, nicht nur den Rahmen einzelner Länder überschreiten, sondern eine ganzheitliche, eine globale Projektion in sich tragen.
Tiefgreifende infrastrukturelle Veränderungen der Macht sind im Gange, beispielsweise ist es innerhalb weniger Monate gelungen, die wenigen verbliebenen Lücken in den Grenzen Europas zu schließen, mittels Polizei und Militär zu kontrollieren und ein länderübergreifendes Rückführungs-, Abschiebe- und Lagersystem zu installieren, welches die unerwünschten Fliehenden nun vor den Toren Europas konzentriert. Und auch andere Prozesse, die sich zwar – je nach Ort – spezifisch zeigen, aber international und beinahe ungestört entwickeln, sind dabei die Realität unserer Kontexte weit über die Errichtung einer neuen, spezifischen Herrschaftsmanifestation hinaus umzuwälzen (gucken wir nur auf die Pläne im Bereich der zukünftigen Energieversorgung, der neuen Technologien und „intelligenten“ Städte). Doch genauso wie diese Projekte über Grenzen hinweg realisiert werden, benötigen sie für ihre Realisierung über den Rahmen einzelner Grenzen hinweg die gleichen ungestörten Bedingungen und Infrastrukturen, die gleiche fantasielose Resignation und Initiativlosigkeit der Unterdrückten... vielleicht ist dieses Terrain, das versucht die Realitäten und Bedingungen der sich vollziehenden Veränderungen zu verstehen, auch eine Basis, um von den Kernen der spezifischen Analysen ausgehend, gemeinsame Elemente zu finden und zu erproben, wie der grenzübergreifende Kontrollverlust der Herrschaft und die Verknüpfung von Kämpfen bewerkstelligt werden kann.
Mit dem Versuch die Redaktion dieser Publikation rotieren zu lassen, stehen wir ebenfalls vor einem Versuch von praktischen Internationalismus – eine Dezentralisierung und ein Experiment. Vielleicht kann auch das uns dabei helfen herauszufinden, was es heutzutage heißen könnte, eine aufständische internationalistische Projektualität zu entwickeln.
Einige irgendwo in Deutschland lebende Anarchisten
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