Linke Medien setzen Kritik an kultureller Aneignung mit neurechten Konzepten gleich. Die Frage nach Macht und Ausbeutung wird ignoriert.
Der Antirassismus sei kurz davor, in sein Gegenteil umzuschlagen, warnen derzeit linke deutsche Zeitungen. Vermeintlich reaktionäre Entwicklungen wie „linke Identitätspolitik“ und Critical Whiteness seien dafür verantwortlich, dass Antirassist_innen inzwischen selbst rassistisch agierten, lautet die Kritik. Der Anlass der aktuellen Debatte, die auch mit dieser Reihe in der taz geführt wird, ist eher unspektakulär: Es geht um Kritik an kultureller Aneignung. Ausgelöst wurde die Debatte durch einen Artikel im Missy Magazin über Kostümierung, Frisuren und Essen auf einem Festival.
In dem Text spottete Hengameh Yaghoobifarah darüber, dass etliche weiße Besucher_innen der „Fusion“ amerikanischen Federkopfschmuck als Kostümierung verwendeten, Kimonos und Dreadlocks trugen und dass die Essensstände zwar (ungewürztes!) Essen aus aller Welt anboten, aber fast nur weiße Menschen beschäftigten, um dieses zu verkaufen. Der Kernpunkt ihres Textes: Hier wird Kultur aus der ganzen Welt auf ignorante Art von einem hauptsächlich weißen Publikum angeeignet.
In fast allen linken Zeitungen, von der Graswurzelrevolution über die Jungle World bis hin zum Neuen Deutschland und der taz, ist eine ganze Reihe von Artikeln mit erstaunlich ähnlichem Tenor erschienen. Sie nutzen Einzelbeispiele, teilweise falsch dargestellt, um eine gesamte Forschungsrichtung lächerlich zu machen, sie übertreiben das Ausmaß des Streits und schließlich stellen sie Kritik an kultureller Ausbeutung fälschlicherweise so dar, als würde damit kultureller Austausch insgesamt abgelehnt, und nicht etwa die ungleichen Machtverhältnisse, in denen eben kein Austausch, sondern Ausbeutung stattfindet. Sie kommen zu dem Schluss: Hier agieren Linke wie die Neue Rechte.
Kulturelle Aneignung untersucht, wie Objekte und Praktiken von ihrer kulturellen und politischen Bedeutung losgelöst, auf ein konsumierbares Stereotyp zusammengestampft und kapitalistisch verwertet werden, also vermarktet, verkauft und konsumiert. Beispiele gibt es Unmengen. Von billigen Che-Guevara-Shirts bis zur Ausnutzung schwarzer Musikstile wie Reggae oder Hiphop durch große Musiklabels zur Vermarktung weißer Künstler_innen. Menschen, die sich in der Tracht – oder dem Klischee einer Tracht – aus einer anderen Gesellschaft (ver-)kleiden oder auch religiöse Symbole wie Buddhastatuen aufstellen, von denen sie nur den Hauch einer Ahnung haben, als Deko oder fürs Wellnessmarketing.
Es ist nicht egal, wer was macht
Das Konzept der „Kulturellen Aneignung“ kritisiert die Vereinnahmung von Kultur aus marginalisierten Communitys und ihre Verwertung und ihren Konsum durch mächtigere Gruppen, insbesondere durch Weiße. Während manche Schwarze beispielsweise am Arbeitsplatz für das Tragen von Dreads oder Cornrows verwarnt werden, signalisieren weiße Popstars damit ihre vermeintliche Street Credibility. Weil sich rassistische Strukturen sehr unterschiedlich auf Menschen auswirken, ist es also nicht gleichgültig, wer was macht.
Die Autor_innen, die diese Kritik in Frage stellen, bemühen eine Reihe abseitiger Anekdoten. Hier haben sich US-Student_innen gegen ihr Mensa-Essen aufgelehnt, dort wurde ein Uni-Yogakurs eingestellt, in einem Blog werden Karnevalskostüme kritisiert und so weiter. Kulturelle Aneignung als Konzept erscheint als eine Reihe von US-Campusskandälchen und Artikeln in Onlinemedien, von denen ein paar – ob nun eigentlich unspektakulär oder tatsächlich absurd – als Punching Bags herhalten müssen. Das aber geht am Kern der Kritik vorbei und diskreditiert eine ganze Forschungsrichtung.
Die Konzepte von „Kultureller Aneignung“ und „Critical Whiteness“ – auf die sich nicht nur die Jungle World eingeschossen zu haben scheint – stammen aus einer jahrzehntealten, vielfältigen Strömung der nordamerikanischen Rassismusforschung, deren Literatur in der medialen Debatte in Deutschland aber kaum rezipiert worden ist. Mit ihr analysieren Forscher_innen Rassismus nicht nur bei seinen Opfern, sondern auch bei jenen, die von ihm profitieren – auch in und für Deutschland.
Es gibt zahlreiche Formen des kulturellen Austauschs, die nicht als Aneignung kritisiert werden – und dennoch tun die Autor_innen dieser Artikel so, als würde hier Austausch insgesamt abgelehnt. Der Fehlschluss ist absurd, so als würde man Menschen, die Arbeitsverträge für scheinselbstständige Amazon-Arbeiter_innen einfordern, vorwerfen, sie wollten die Selbstständigkeit allgemein abschaffen. Doch nichts dergleichen ist der Fall: Niemand verbietet Weißen, beispielsweise, mit der Null zu rechnen oder Tee zu trinken – obwohl auch das ursprünglich Kulturtechniken anderer Gesellschaften sind.
Ein gegeneinander Ausspielen
Einige Autor_innen ziehen sogar den abwegigen Vergleich mit dem „Ethnopluralismus“. Das neurechte Konzept des „Ethnopluralismus“ ist ein Versuch, Rassismus zu verschleiern. Weil es inzwischen politisch meist schwer vermittelbar ist, Menschengruppen anhand von ausgedachten „Rassen“ diskriminieren zu wollen, hat die Neue Rechte am Wording gefeilt: Jedes Volk habe ein angestammtes Fleckchen auf der Erde, auf dem es zu bleiben habe. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass zum Beispiel alle weißen Amerikaner_innen zurück nach Europa gehen sollen, sondern dass nicht-weiße Menschen nicht in mehrheitlich weiße Länder ziehen sollen.
Die Kritik an kultureller Aneignung und Ethnopluralismus würden sich ähneln, weil beide „Jedem Stamm seine Bräuche“ fordern würden, heißt es in den Artikeln. Doch während die Kritik an kultureller Aneignung sich dafür einsetzt, dass vor allem die durch Kolonialismus, Völkermorde und Sklavenhandel marginalisierten Kulturen nicht weiter ausgebeutet und unterdrückt werden, versucht Ethnopluralismus die weltweite Vorherrschaft von Weißen als Ist-Zustand festzuschreiben.
Dass die Kritik an kultureller Aneignung jeglichem Austausch entgegenstünde und selbst regressive Identitätspolitik sei, heißt im Umkehrschluss: Wer auf einem Festival in „indianischem Federschmuck“ herumläuft, bedient nicht etwa ein ignorantes Klischee, sondern löst ganz progressiv und postmodern Identitäten auf. Aber wer so feiern geht, bekämpft keine Diskriminierung. Im Gegenteil, die Karikatur trägt zur Diskriminierung bei.
Die Autor_innen verteidigen dieses Verhalten aber implizit und spielen verschiedene Kämpfe des Antirassismus gegeneinander aus. Wenn weiße Menschen ihre Dreadlocks abschneiden würden, sei noch nichts gegen rassistische Polizeikontrollen getan, heißt es. Den North Dakota Sioux sei nicht geholfen, wenn sich ein Spiegel-Online-Kolumnist den Iro abrasieren würde; und koloniale Ausbeutung sei nicht damit abgegolten, wenn man sich keine Maori-Tätowierung stechen lasse, schreiben sie.
Mehrebenen-Effekt
Aber wer sagt, dass sich das gegenseitig ausschließt? Und wer hat behauptet, dass mit ein bisschen Selbstreflexion bereits alles erledigt ist? Strukturelle Unterdrückung wird mit kulturellen und sprachlichen Mitteln unterstützt und legitimiert. Und wenn die Welt im Kleinen etwas weniger rassistisch wird, werden vielleicht auch die Kämpfe im Großen beschleunigt.
Bei den weißen Demonstrant_innen jedenfalls, die sich derzeit tatsächlich in North Dakota an die Seite der amerikanischen Indigenen stellen, um gemeinsam gegen den Bau einer Pipeline zu kämpfen, sieht man solches Verhalten nicht. Keiner der weißen Demonstrant_innen läuft mit Warbonnets herum und selbst wenn sie an einer Heilungszeremonie teilnehmen, gerieren sie sich nicht als „Ehrenindianer“, sondern übernehmen Verantwortung für die Verbrechen ihrer Vorfahren.
Nicht-Weiße scheinen für diese Autor_innen linker Zeitungen eher als rassistische Fantasie anderer Linker zu existieren. So als könnten Nicht-Weiße nicht selbst unter Linken sein und für sich sprechen. Linke, die kulturelle Aneignung kritisieren, hätten ein seltsames Bild von „beleidigten Exoten“ oder „sensiblen Dauerbeleidigten“, heißt es in den Artikeln. Obwohl sie behaupten, besser zu wissen, was Minderheiten wirklich denken, lehnen sie Konzepte aus marginalisierten Perspektiven ab, was Kulturelle Aneignung und Critical Whiteness ja sind.
Statt sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen, arbeiten sich einige Journalist_innen lieber an grob verzerrten Anekdoten ab, um stellvertretend eine Form von Antirassismus lächerlich zu machen – inklusive der billigen Gleichsetzung von antirassistischer Kritik mit rassistischen Theorien.