Zwischen Eigentor und Aufstand: Ultras in den gegenwärtigen Revolten

Fußball

Im Folgenden handelt es sich um einen Artikel von Ralf Heck aus der vierten Ausgabe der Zeitschrift Kosmoprolet.

Das ist das alte Laster der Intellektuellen, dass für sie das soziale Subjekt schön, gut und wohlerzogen sein muss.
Nanni Balestrini

Oft während der absurden Kriege, die in der Kurve ausbrachen, sah ich mich plötzlich einem anderen »Asozialen« gegenüber, dieselben Haare, dieselbe Wut, aber er spricht keinen Römer Dialekt, hat einen anderen Schal mit anderen Farben. Wer weiß, vielleicht vereinen wir uns eines Tages, anstatt mit Stangen aufeinander loszugehen.

 Geppo, Anführer der AS Roma Ultras, 1982

 

Seit der Revolution habe ich den Fußballhooliganismus für eine größere Sache vernachlässigt: die Revolution. Da kann ich für mich selbst und jeden Ultra sprechen.
Mahmoud, Ultras White Knights, 2012

 

Im letzten Zyklus der Kämpfe betrat eine neue Kraft die Bühne: Organisierte Fußballfans haben sich an vielen Unruhen rund um den Globus beteiligt – vom Aufstand in Griechenland 2008, der Bewegung in Portugal, Occupy in Spanien und Israel 2011/12 über die Istanbuler Gezi-Park-Revolte im Sommer 2013 bis zu den Ausschreitungen in Bosnien-Herzegowina 2014. Und selbst größten Fußballhassern dürfte nicht verborgen geblieben sein, dass nordafrikanische Ultragruppen einen erheblichen Anteil am sogenannten arabischen Frühling hatten. Ein Beobachter geht so weit zu behaupten, die Ultras hätten »eine Schlüsselrolle bei der Überwindung der ›Barrikade der Angst‹ gespielt. (…) Ihre Anziehungskraft auf desillusionierte Jugendliche ist enorm. Wir sprechen von der zweit- oder drittgrößten Bürgerbewegung Ägyptens mit zehntausenden Mitgliedern«.1 Der folgende Text versucht zu erklären, wie dieser oft im besten Fall als völlig unpolitisch oder kommerzabhängig bewertete Akteur entstehen konnte und wie sein Wirken in den Klassenkämpfen einzuschätzen ist. Denn wenn es stimmt, dass wir uns gegenwärtig an der Schwelle zu einer neuen Epoche befinden, dann spricht einiges dafür, dass Teile dieses Milieus auch in den kommenden Revolten eine Rolle spielen werden. Nichts liegt uns allerdings ferner, als der Ultra-Bewegung eine zentrale Rolle zuzuschreiben – sei es in den derzeitigen oder den kommenden Aufständen. Die Fokussierung auf einen angeblich besonders revolutionären Typus, je nach politischer Couleur Massenarbeiter, Jobber, Frau oder Migrant, war schon immer ebenso fragwürdig wie das Beharren auf einem im Voraus festgelegten Ort für die Revolte. Alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, in denen Lohnabhängige zusammenkommen, können sich zu Kampfzonen entwickeln, egal ob es sich dabei um Stadtteile, Suppenküchen, Fabriken oder eben Fußballstadien handelt.2

 

Allerdings lässt sich vermuten, dass die im gegenwärtigen Zyklus in Kairo, Tel Aviv, Tunis, Istanbul und anderswo erprobte Praxis, gemeinsam öffentliche Plätze zu besetzen, mehr als eine zufällige Übereinstimmung darstellt und sich auf triftigere Gründe zurückführen lässt als auf die geteilte Freude an der frischen Luft. Womöglich ist die Wahl dieses Kampfterrains eine Antwort auf die voranschreitende Fragmentierung der Arbeitsprozesse und die Prekarisierung des Lebens der Lohnarbeiter. Nicht unbedeutende Teile der organisierten Fußballfans scheinen von ihrer sozialen Zusammensetzung und teilweise auch von ihrem antiautoritären Anspruch her kompatibel mit diesen neuen Bewegungen zu sein, weshalb sie von den Protestierenden durchaus geschätzt werden. Mit einem Unterschied: Im Gegensatz zu der immensen Beteiligung von Frauen in den derzeitigen Kämpfen handelt es sich bei ihnen immer noch um ein weitgehend männliches Phänomen.

Allein mit der von Soziologen bevorzugten behavioristischen Sichtweise (Hools = sinnlose Gewalttäter, Ultras = fanatische Fußballfans) sind die Veränderungen in der Fußballfankultur, die zum Aufkommen der Ultras geführt haben, nur schwer zu erklären. Erst unter Einbeziehung der historischen Bedingungen und der jeweils besonderen Klassenzusammensetzung lässt sich der Übergang von den Hooligans zur Ultra-Bewegung verstehen. Setzte sich die Ende der 1960er Jahre in England als Massenphänomen auftretende Hooligan-Bewegung größtenteils aus den eher abgehängten Segmenten der Arbeiterklasse – Hauptschüler, Hilfsarbeiter und manuelle Arbeiter – zusammen, so bestanden die kurze Zeit später in Italien aufkommenden Ultras aus wesentlich vielfältigeren Gruppen von klassischen Arbeitern, Schülern, Studenten und Arbeitslosen, die durch die große Weigerung im damaligen Italien oftmals stark politisiert waren. Auch die derzeitigen Ultra-Gruppen lassen sich nicht von den sozialen Bedingungen und besonders ihren Auswirkungen auf die Arbeiterklasse trennen. Der heutige Kapitalismus ist geprägt von einer voranschreitenden Entkoppelung von Akkumulation und Beschäftigung, das heißt einer Zunahme des von uns als Surplus-Proletariat bezeichneten Überschusses an menschlicher Arbeitskraft.3 Mit der damit einhergehenden Zerklüftung der Existenzbedingungen der eigentumslosen Klasse entwickeln sich auch neue Formen des Zusammenschlusses. Ob die Ultra-Organisationen eine Form dieses Zusammenschlusses sind, die unterschiedliche Segmente der Proletarisierten mit düsteren Zukunftsaussichten in rebellischer Art und Weise vereint, oder womöglich nur die durch den Niedergang der klassischen Organisationsformen wie Parteien oder Gewerkschaften gerissene Lücke füllen, ohne über deren Beschränkungen hinauszugehen, wird im Folgenden zu klären sein.

 

Die Anfänge: Die Working Class und der Fußball


Das Fußballspiel, wie wir es kennen, hat seine Ursprünge im England des 19. Jahrhunderts. Dabei ist es völlig nebensächlich, ob irgendwann im 2. Jahrtausend vor unserer Zeit chinesische Soldaten im Fernen Osten zur körperlichen Ertüchtigung gegen ein Spielgerät traten, das dem heutigen ähnelt, und dass sich Ursprünge des Spiels im Fußball-Mutterland bis ins 10. Jahrhundert zurückverfolgen lassen4 – als ein Spiel der sogenannten Bauernlümmel und Gesellen. Der moderne Fußball ist untrennbar mit der Industrialisierung verbunden, die in England bekanntermaßen früher als in anderen Teilen der Welt einsetzte, und die sich herausbildende Fankultur ist nicht ohne die Proletarisierung weiter Teile der Bevölkerung zu verstehen. Von den 29 Mitgliedern des ersten offiziellen Fußballklubs der Welt, der 1857 in Sheffield gegründet wurde, waren noch über ein Drittel Fabrikanten beziehungsweise deren Söhne. Bereinigt von den ärgsten Grobheiten sollte der Wettstreit mit dem Ball die Elite- und Charakterbildung des aufstrebenden Bürgertums des englischen Empire fördern. Die zu diesem Zweck vorangetriebene Vereinheitlichung des Spiels, die sich unter anderem in einer durch den Verband festgelegten Anzahl von Spielern und genauerer Maße des Feldes und der Tore sowie in festen Zeitregeln niederschlug, legte die Grundlage für seine spätere Popularisierung. Die Angehörigen der spielenden Klasse hatten die materiellen Mittel, sich die notwendigen Utensilien zuzulegen, vor allem aber verfügten sie, befreit vom Zwang, ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragen, noch über ein wesentlich bedeutenderes Gut für das Ausüben von Sport: freie Zeit. Von der hatten die Lohnarbeiter, die mittlerweile mehr als 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten, nicht allzu viel. Der Heißhunger des Kapitals nach Mehrarbeit war unersättlich, 12- bis 14-Stunden-Tage die Regel und dies nicht selten bei einer Sieben-Tage-Woche. Erst die allmählich erkämpfte Verkürzung der Wochenarbeitszeit, vor allem die Einführung des freien Samstagnachmittags in den 1860er und 1870er Jahren, bildete das Fundament für die (Wieder-)Aneignung des Fußballsports durch die nun proletarischen Unterklassen.

 

So entstanden die ersten Arbeiter-Fußballklubs, wobei man sich von Romantisierung freimachen sollte: »Die überwiegende Mehrheit der Arbeitervereine wurde nicht von Arbeitern geführt, sondern entwickelte sich unter bürgerlicher Ägide. Arbeitervereine waren sie nur insofern, als ihre Akteure in kurzen Hosen sowie das Gros ihrer Anhängerschaft der Arbeiterschaft entstammten«.5 Große Bedeutung hatten dabei die durch massenhaften Zuzug vom Land entstehenden Wohnviertel, die in einem rapiden Verstädterungsprozess slumartig anwuchsen und mit denen die Klubs eng verwoben waren. Oftmals gründeten sich Klubs um einen Betrieb herum (unter anderem FC Arsenal und Manchester United), wobei es in erster Linie darum ging, die Identifikation der Arbeiter mit »ihrem« Betrieb zu stärken und den sozialen Frieden durch Ablenkungsangebote zu wahren, die die Kapitalisten mit Finanzspritzen, Vergünstigungen für die Spieler und Grundstücken förderten.

So wie die warenförmige Welt mit ihren Trennungen, begünstigt durch eine Verlagerung von der absoluten zur relativen Mehrwertproduktion, erst die Sphäre der Freizeit und damit die Aneignung des Fußballs durch die Proletarisierten hervorbrachte, waren es wiederum kapitalistisch-technische Neuerungen, die es diesem Sport ermöglichten, zur Massenkultur zu werden. Das für die Beförderung von einfachen wie auch der besonderen Waren – den auszubeutenden Arbeitskräften – rasant ausgebaute Eisenbahnnetz stellte erstmals auch für die Arbeiterklasse die nötige Mobilität her, um an den samstäglichen Spieltagen ins nächste Viertel beziehungsweise in die nächste Stadt zu reisen. Einen besonderen Beitrag zur Popularisierung und der sich bald anschließenden Professionalisierung des Fußballspiels leistete der vom Verband ins Leben gerufene Pokalwettbewerb FA-Cup, der bis heute ausgetragen wird, um das beste Fußball-Team des Landes zu küren. Nach jahrelanger Dominanz der dem Amateursport verpflichteten Public-School-Teams gewann 1883 zum ersten Mal ein (Profi-)Arbeiterklub das prestigeträchtige Finale. Infolgedessen wandten sich die Gentlemen und die Public Schools vom Fußballsport ab und den exklusiveren Individualsportarten zu, um unter ihresgleichen zu bleiben. Gleichzeitig entwickelte sich das Fußballspiel zum populären Zuschauersport für die proletarisierten Massen, der sich alsbald über große Teile des Globus ausbreitete.

 

The English Disease: Abgehängt und geil auf Krawall


Massive Erschütterungen im Freizeitspektakel der Lohnabhängigen ereigneten sich in England Mitte der 1960er Jahre und sind unter dem Schlagwort Football Hooliganism bis heute Bestandteil hitziger Diskussionen. Nachdem Großbritannien in den 1950er und 1960er Jahren einen unverhofften Wirtschaftsboom erlebt hatte, der zu Vollbeschäftigung, Reallohnsteigerungen und einer Verschiebung von Blue- zu White-Collar-Jobs führte, zeichneten sich ab 1964 erste Krisentendenzen ab, eine Inflation folgte und die Arbeitslosenzahlen stiegen. Während sich in der Prosperitätsphase einerseits, im Soziologensprech, eine Mittelschicht herausgebildet hatte und immer größere Teile der Bevölkerung an den Bildungsmöglichkeiten teilhatten und besser bezahlte Jobs fanden, wurde anderseits den minderqualifizierten Beschäftigten der untergehenden Industrien spätestens in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation vor Augen geführt, dass ihnen und vor allen ihren Kindern der Aufstieg verwehrt bleiben würde. Letztere blieben von den höheren Schulen ausgeschlossen und es »bildete sich ein bottom-dog-Bewußtsein, das vielleicht seinen besten Ausdruck in der Popmusik fand, in der sich die proletarischen Jugendlichen dieses Jahrhunderts entdeckten«.6 Darüber hinaus strömten Teile der rebellischen Jugendlichen nun massenhaft in die Stadien und erschreckten mit ihrem provokanten Auftreten sowohl die »respektablen« Teile der Arbeiterklasse als auch die neuen Fans aus den bessergestellten Milieus der Lohnabhängigen, für die der Stadionbesuch lediglich eine Option der Freizeitgestaltung neben dem Kinovergnügen, dem Picknick im Grünen oder der Fernsehübertragung im heimischen Sessel darstellte. Denn in diesen Jahren hatten auch die vor Publikum ausgetragenen Fußballspiele ihren Charakter nochmals entscheidend geändert. Der Fußball stand in Konkurrenz zu anderen Sparten der Kulturindustrie, worauf die Klubs mit einer Ausrichtung nach unternehmerischen Gesichtspunkten, mit Strategien zur Steigerung von sportlicher Leistung und Unterhaltungswert sowie mit dem Ausbau von Infrastruktur wie überdachten Tribünen, Sitzplätzen, Bars, neuen Toiletten und ersten Businessseats reagierten. Vor dem Match gab es manchmal schon ein Unterhaltungsprogramm und durch die frisch installierten Flutlichtanlagen mussten die Zuschauer auch im Winter nicht auf Spiele verzichten. Sogenannte Todesspiele durch die Einführung des League-Cups versprachen mehr Spannung, und der europäische Pokalwettbewerb gewann an Bedeutung. Es sei dahingestellt, ob die Anhänger ihre Klubs in früheren Zeiten wirklich für partizipatorische Demokratien hielten. Gesichert ist allerdings, dass der Abstand zwischen den reichen und den armen Klubs nun immer größer wurde und die Kluft zwischen Fans und Spielern sich massiv vertiefte. Doch die Klassen- und Mentalitätsspaltung fand auch unter den Fans eines Vereins statt: Besuchten vormals die Zuschauer noch generationsübergreifend ein Fußballspiel und wurden die Verhaltensnormen von den Alten an die Jüngeren übertragen, so veränderte sich dies nun rapide. Auch in den Stadien setzte die Rebellion gegen die Elterngeneration ein, Jugendliche gestalteten ihre Freizeitaktivitäten allein und sammelten sich auf den günstigen Plätzen, den sogenannten ends. Dies war der Beginn einer selbstständigen, rebellischen Fankultur der Jungen – der Kultur der Hooligans, die sich dann in den 1970er Jahren stark ausbreitete.7


Mit der Ende der 1960er Jahre aufkommenden Skinheadbewegung strömte dann zum ersten Mal eine auch äußerlich homogene Gruppe von Heranwachsenden zum Fußball. Der Look in den ends vereinheitlichte sich und gleichzeitig ging es dort nun organisierter zu.8 Dies manifestierte sich auch in der Gründung der ersten Firms, beispielsweise der Millwall Bushwackers (1972), der Inter City Firm (ICF, 1972) aus West Ham und der Red Army aus Manchester, um nur einige der bekanntesten zu erwähnen. Die überwiegend weißen, in seltenen Fällen aber auch schwarzen Kids aus der Arbeiterklasse scherten sich die Haare kurz, schnürten ihre Stiefel, hörten gemeinsam Ska und Reggae (später auch Street Punk), liebten ihren Klub und waren einer Hauerei nur selten abgeneigt. Die Zeit der ersten Skinheads ab 1968 war eine Zeit, »in der man gegen alles war. Scheiß drauf, wenn du arm warst, ungelernt, einem Leben armseliger Arbeit vorbestimmt, oder dass du in einem Alter warst, in dem deine Meinung nicht interessiert und du keinen Einfluss hattest. Wir zeigten es der ganzen Welt: Wir sind hier! Es gibt uns! Fickt euch!«9 Angewidert vom hohlen Glücksversprechen der Hippies wollten sie die vermeintlich echten und verloren geglaubten Ideale einer Working Class verkörpern, die von solidarischem Zusammenhalt geprägt war. Auf diese Weise setzten sie sich gegen ihren drohenden Absturz zur Wehr und bewegten sich in einer Szene, die ihnen Anerkennung jenseits materiellen Erfolgs bot. Allerdings war dieser Widerstand immer schon rückwärtsgewandt. Er orientierte sich an einer schon fast karikaturartig mystifizierten Arbeiterklasse, die es so nie gegeben hat und deren Ausdrucksformen auch nicht als erstrebenswert gelten können, und ihren überholten Idealen: Rückbesinnung auf die Gemeinschaft, lokalistisches Denken mit einem starken Bezug zum eigenen Territorium, das sich wahlweise in Kämpfen Stadtteil gegen Stadtteil, Süden gegen Norden oder England gegen ein anderes Nationalteam ausdrückte, Männlichkeitskult, sinnlose Gewalt und auch Rassismus. Dass für Frauen in dieser Welt lediglich ein untergeordneter Platz vorgesehen war, versteht sich von selbst. Ob sich die Gewalt nun dumpf gegen andere Fans richtete, rassistisch gegen die asiatische Community (»Paki-Bashing«), mit berechtigtem Hass gegen Autoritäten oder in Riots, Plünderungen und der Verteidigung von Streiks zeigte, war schlechterdings unkalkulierbar: »Niemand kann bei Skinheads die Fahrtrichtung voraussagen: nach links, nach rechts oder geradeaus mit dem Kopf gegen die Wand.«10

 

Die Hooligans waren durchaus entschiedene Anhänger ihres Teams und entgegen der öffentlichen Wahrnehmung sowie der einsetzenden medialen Hetze sehr gut über ihren Klub informiert und am Spiel interessiert. In diesem Punkt weisen sie eine deutlich größere Nähe zu den kontinentaleuropäischen Ultras auf als zu den Wald-und-Wiesen-Schlägern von heute.11 Wie die heutigen Ultras verstanden sie sich gegenüber der ihnen servierten neuen Konsumkultur als Bewahrer des echten Spiels – sie wollten ein aktiver Part des Geschehens sein, zum Kampf um den Sieg, der auf dem Platz ausgetragen wurde, sollte nun ein weiteres Match hinzukommen: Die Ermittlung eines Gewinners auf den Rängen. Die jungen Hools ersetzten die Lieder und Anfeuerungsrufe der 1950er Jahre durch eigene, teils obszöne, den Gegner beleidigende und gewaltverherrlichende Gesten und Chants, was zu ihrer Freude in der Öffentlichkeit große Empörung hervorrief. Sie entdeckten ihr end als eigenes Territorium, das es zu verteidigen galt. War es bislang üblich gewesen, zusammen mit dem Team zur Halbzeitpause die Seiten im Stadion zu wechseln, so hielten die Jungen nun an ihrem Platz fest und versuchten vor und während des Spiels, das gegnerische end zu erobern, dort ihre Schlachtrufe anzustimmen, den gegnerischen Fans die Schals zu klauen und sich, bis zum Eintreffen der Polizei, mit ihnen zu schubsen und zu prügeln. Ein eingenommenes Territorium galt als ultimative Erniedrigung des gegnerischen Anhangs. Die jungen Fans des FC Everton, Manchester Uniteds sowie des FC Liverpool, von der Presse auch gerne als Merseyside Maniacs betitelt, waren die ersten, die massenhaft an Auswärtsfahrten mit dem Ziel teilnahmen, die gegnerischen ends zu erobern – besonders die im Süden Englands. Zu Recht wird darauf verwiesen, dass gewalttätige Ausschreitungen seit jeher mit dem Fußball verbunden waren. Dennoch entwickelte sich in diesen Jahren eine besondere Form des Rowdytums und des Supports von un- und angelernten jungen Männern, also jenen Segmenten der Arbeiterklasse, die sich vom Abstieg bedroht fühlten. So wie die jungen Hooligans allerdings keineswegs nur Schläger waren, die den zufällig gewählten Rahmen des Fußballspiels für ihre Umtriebe nutzten, darf auch die Zahl der gewalttätigen Auseinandersetzungen, die meist in ritualisierter Form auftraten, nicht überschätzt werden.12 Ein ehemaliger Hooligan des FC Liverpool berichtet von zehn echten Massenschlägereien in dreißig Liga-Spielzeiten, die er miterlebte.13 Schlägereien und Gepöbel waren unter Jugendlichen aus der Arbeiterklasse damals ohnehin üblich – in der Familie, im Pub, auf den Straßen und in den Diskotheken.

 

Ab Mitte der 1970er Jahre nahmen die Auseinandersetzungen zu. Vor allem gegen zu Auswärtsspielen reisende Fans ging die Polizei mit immer größerer Gewalt vor und trug so zu einem aufgeheizten Klima bei. Auch die Medienberichterstattung (viele Zeitungen publizierten Ligatabellen der Fangewalt und befeuerten so einen veritablen Ausschreitungswettbewerb) leistete ihren Beitrag dazu, dass sich immer mehr Jugendliche einer Bewegung anschlossen, bei der ihnen Spaß garantiert war. Nach den ersten live im Fernsehen übertragenen Platzstürmungen forderte der Ligapräsident harte Maßnahmen und erklärte: »Die sind schlimmer als Hooligans. Ich kann sie nur als wilde Tiere beschreiben.« Derartige Verteufelungen und die nun installierten Stahlzäune in den Stadien machten es für viele jedoch noch attraktiver, zu einer als so gefährlich betrachteten Bewegung zu gehören; die Hooligans konnten sich als Elite der Fankultur fühlen. So antworteten die in Stahlkäfige verfrachteten wilden Tiere ihren Zoowärtern in den Verbänden und Medien nicht ohne einen gewissen Sinn für Humor mit dem Schlachtruf We hate humans. Die Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen in den Stadien führte darüber hinaus keineswegs zu einer Beruhigung der Lage, sondern verlagerte die Auseinandersetzungen nur nach draußen, beispielsweise an Bahnhöfe und auf die Fähren zum europäischen Festland. Die Kultur der Hooligans hatte eine immense Strahlkraft, an ihren Märschen zu den Stadien und den versuchten End-Stürmungen nahmen nicht selten Hunderte, teils einige Tausend Fans teil und relativ berühmte (Oi-)Bands bekannten sich explizit zum Hooliganismus.14 Auch wenn es keine verlässlichen Zahlen darüber gibt, lässt sich vermuten, dass zu dieser Zeit auch vereinzelt junge Männer aus besser gestellten proletarischen Milieus angezogen wurden. Der allmählich aufkommende Casual Style15 verleitete einige Kommentatoren allerdings zu der grundfalschen Annahme, die Hooligans entstammten zunehmend der Mittelschicht. In Wirklichkeit kamen sie weiterhin überwiegend aus niedergehenden Arbeiterschichten, genossen als Fans aber ein Leben, das für sie eigentlich nicht vorgesehen war – die Fahrten zu Spielen auf dem europäischen Festland traten sie oftmals ohne einen Penny in der Tasche an, es wurden Fahrscheine gefälscht, Eingänge zu den Stadien gestürmt und munter teure Designerklamotten geklaut oder geplündert. Für viele Hools war es wichtiger, in der coolsten und bestgekleideten Crew als in der schlagkräftigsten zu sein. Durch die Fixierung der Medien auf die Gewalt traten die anderen Momente der Hooligan-Kultur aber oftmals in den Hintergrund und die Protagonisten trugen selbst zu diesem Bild bei, indem sie sich mit Prügelgeschichten brüsteten.

 

Der Winter of Discontent, bei dem es zu mehrwöchigen Streiks von Arbeitern kam und teils beträchtliche Lohnerhöhungen erkämpft wurden, läutete dann Thatchers Wahlsieg im Mai 1979 ein, der zu einer massiven Militarisierung und einer weiter voranschreitenden Ungleichheit in der Gesellschaft führte. Mit einem Krieg um ein paar Inseln an der Südspitze Argentiniens und dem Kampf gegen die militanten Teile der Arbeiterklasse, der seinen symbolträchtigsten Ausdruck in der Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks 1984/85 fand, verschärften sich auch die Maßnahmen gegen Fußballfans. Die Auseinandersetzungen in den Stadien gingen aufgrund forcierter Sicherheitsmaßnahmen stark zurück und verlagerten sich weiter nach draußen; Hooligans machten nun mehr und mehr durch teils heftige Zwischenfälle in Bars und Discos von sich reden. Ihre Aktivitäten scheinen in diesen Jahren auch an Spontanität einzubüßen. Die Kerngruppen begannen sich bandenmäßiger und nach außen abgeschotteter zu organisieren und ihre Mitglieder wurden älter. Der Casual Style, der es ihnen ermöglichte, unerkannt zu den Spielstätten zu gelangen, setzte sich weiter durch und es tauchten erstmals Flugblätter auf, die zum Kampf gegen andere Gruppen aufriefen. Dass neben einem 1982 bei Auseinandersetzungen getöteten Arsenal-Fan Visitenkarten mit der Aufschrift »Congratulations. You’ve just met the ICF« gefunden wurden, war möglicherweise eine Lüge der Presse – gegeben hat es diese Karten allerdings durchaus. Es kam zu einer Gewaltspirale, unterstützt von immer übertriebeneren Berichten der Medien. Die Heysel-Katastrophe im Jahr 1985, bei der 39 zumeist italienische Fans ums Leben kamen und Hunderte verletzt wurden, sowie die Katastrophe von Hillsbourough in Sheffield 1989, bei der es 97 Tote und 766 Verletzte zu beklagen gab, leiteten dann das Ende der klassischen Formen des Hooliganismus ein. Die Geschehnisse in Hillsbourough hatten, wie neue Untersuchungsberichte zeigen, allerdings absolut nichts mit Fußballgewalt zu tun, sondern eher mit einem Versagen der Sicherheitskräfte, gepaart mit einer gezielten Medienpropaganda gegen die Fans des FC Liverpool. Auch die Katastrophe in Heysel ist eher auf eine Fehlplanung der UEFA zurückzuführen, selbst wenn es dort bei einer versuchten End-Stürmung zu gezielten Angriffen auf gegnerische Fans gekommen war.16 Die Bewegung verlor nicht zuletzt durch diese tragischen Ereignisse an Strahlkraft, große Teile der Fanszene distanzierten sich von gewalttätigen Auseinandersetzungen und viele proletarische Jugendliche zogen die neu aufkommenden Rave-Partys an den Wochenenden einem Fußballspiel vor. Nachdem die englischen Klubs für fünf Jahre (der FC Liverpool sogar für sieben) von den europäischen Cup-Wettbewerben ausgeschlossen wurden, organisierte der Verband zusammen mit Polizei und anderen Sicherheitsexperten die Stadien neu und einige bekannte Kerngruppen der Hooligans wurden mit neuesten Polizeistrategien der Unterwanderung und Überwachung, die man sonst nur vom Umgang mit Terrororganisationen kannte, zerschlagen – nicht selten landeten ihre Mitglieder für einige Monate, teils für mehrere Jahre im Knast. Das Ende ist bekannt: Ende der 1980er Jahre wurden alle Stadien in England mit Sitzplätzen ausgestattet, das Aufhängen von Transparenten verboten und unliebsames Publikum durch höhere Ticketpreise verdrängt, was zu sterileren Stadien mit schlechterer Stimmung führte.

 

Die seit Anfang der 1990er Jahre zu beobachtenden Schlägereien zumeist alter, besoffener und bierbäuchiger Männer, die ihr Nationalteam begleiten, sind nur noch der Abklatsch eines Phänomens, das knapp 30 Jahre lang das Bild des Fußballs, nicht nur in Großbritannien, prägte. Sie dürften lediglich noch für die Polizei von Interesse sein, die bei diesen Reality-Einsätzen mit immer ausgefeilteren Crowd-Control-Strategien schon einmal für kommende Aufstände proben kann. Das Ende der Hooligan-Kultur sollte nicht betrauert werden. Das Bandenwesen, ihre Gewaltaffinität, Männerbündelei sowie ihr Stammesgehabe standen der Emanzipation schon immer im Weg. Darum mag es wenig verwundern, dass die Hooligans es kaum schafften, sich politisch zu artikulieren. Zwar wollten Hools aus dem Norden es den »Tory-Cunts« aus dem konservativeren Süden zeigen, andere prügelten sich für den Bergarbeiterstreik oder nahmen an Riots teil. Es blieb jedoch immer unklar, ob politische Unzufriedenheit der Grund für die Gewalt war oder nur ein Ventil für Aggressionen gesucht wurde. Halbwegs intelligenten Angriffen auf die Warenbeziehungen (Plünderungen) sowie die Verteidiger der Eigentumsverhältnisse (Bullen) standen schon immer sinnlose Schlägereien, Abzockereien von Passanten, Sieg-Heil-Rufe in den Stadien und auch Übergriffe gegen Migranten und schwarze Briten gegenüber. Keineswegs darf man allerdings Hooligans in ihrer Gesamtheit mit Faschisten gleichsetzen. Seit dem Ende der 1970er Jahre versuchten Faschisten verstärkt hooliganistische Fans zu rekrutieren. Das National-Front-Magazin Bulldog pflegte zu diesem Zweck sogar eine eigene Kolumne mit dem Namen »On the Football Front«. Die teilweise ethnisch gemischte Zusammensetzung der Hooligans und nicht zuletzt die aufkommende Fanzine-Bewegung kritischer Fans sowie neue schlagkräftige Gruppen wie die Anti-Fascist Action verhinderten allerdings einen größeren Einfluss der Faschisten. Beim Battle of Lewisham im August 1977, ausgelöst durch einen Marsch der National Front durch Süd-Ost-London gegen Migration und »schwarze« Kriminalität, mischten auch die Mitglieder der Inter City Firm kräftig mit – auf Seiten der trotzkistischen Socialist Workers Party.

 

Prekäre Arbeiter, Schüler und unterbeschäftigte Intellektuelle: Ultras in Italien


Unter vollkommen anderen gesellschaftlichen Bedingungen entsteht die rebellische Fußballfankultur Italiens. Im Gegensatz zur Hooligan-Kultur in England entwickelten sich die sogenannten Ultras Ende der 1960er Jahre während eines kurzen wirtschaftlichen Booms, der mit einem massiven gesellschaftlichen Aufruhr einherging, was sich auf ihre Verhaltens- und Organisationsformen sowie auf ihre Zusammensetzung niederschlug. Waren die englischen Hooligans sozial weitestgehend homogen, so entstammten die italienischen Ultras einem wesentlich breiteren Spektrum von Studenten, Schülern und Arbeitern, die damals oft stark politisiert waren.

 

Genau hier liegt ein, wenn nicht sogar der entscheidende Unterschied – weniger in der durchaus unterschiedlichen Art des Supports und schon gar nicht in der Anwendung von Gewalt, bei der die Ultras ihrem Pendant von der Insel in nichts nachstanden und -stehen. Die Bewegungen um 1968, in deren Zentrum die Massenarbeiter mit unzähligen wilden Streiks und Sabotageaktionen in den Fabriken herausragten, trafen das Kapital recht unerwartet und ihre Auswirkungen waren in Italien ungemein stärker als beispielsweise in Großbritannien. Keine ökonomische Krise trieb die Menschen zur Rebellion, sondern ein Leben, das nicht mehr zu bieten hatte als lebenslange Schufterei, eine rigide Sexualmoral sowie autoritäre Vorarbeiter, Lehrer und Professoren. In dieser Zeit betraten die Ultras die gesellschaftliche Bühne. Fasziniert vom sozialen Aufbegehren, fanden viele junge Leute ihr Betätigungsfeld auch in den Kurven der Fußballstadien, wo sie sich wie die Hooligan-Bewegung in England von ihren Vätern oder sonstigen Aufpassern freimachten und an den sonntäglichen Spieltagen einen eigenen Raum hinter den Toren verschafften. Vom Verein unterstützte Fanklubs gab es schon vorher, »was es aber vor 1968 wirklich noch nicht gab, was bis dahin niemals Eingang ins Stadion gefunden hatte, ist die antagonistische Dimension des Supports, die sich genau dann entwickelt, als in den Kurven die Beteiligten des sozialen und politischen Widerstands der Straße aufzutauchen beginnen oder besser: sich zeigen. Besonders aus der außerparlamentarischen Linken und aus der Studentenbewegung, denen es um die politische Befreiung über Aktionen im täglichen Leben geht: Sehr oft handelte es sich um Personen aus dem Umfeld der Lotta Continua.«17

 

Vor allem in den nord- und mittelitalienischen Städten, erst später dann auch in Süditalien, entstanden in kürzester Zeit eine Vielzahl von Gruppen.18 Sie übernahmen die Trommeln, die sie von den Arbeiterdemonstrationen kannten, die Melodien der Protestlieder der Bewegung, die Doppelhalter sowie die Megafone und brachten sie in die Stadien. Auch der für heutige Verhältnisse sehr improvisiert anmutende Support änderte sich beträchtlich: Spontane Anfeuerungsrufe wurden durch lang anhaltende, einstudierte Gesänge ersetzt, Flaggen und Fahnen geschwenkt und erste Rauchbomben, die die Kurve in einen bunten Nebel hüllten, eingesetzt. Auch die britische (Hooligan-)Fankultur, die die Ultras durch die Sportpresse, von Auswärtsspielen auf der Insel und vor allem den Europacup-Übertragungen aus dem Fernsehen kannten, übte einen größeren Einfluss aus, als es vielen um Abgrenzung bemühten deutschen Neo-Ultras recht sein dürfte. Auch hier musste das Home-End, in Italien curva genannt, gegenüber gegnerischen Fans verteidigt werden und die überwiegend ritualisierten Kämpfe begannen. Neben dem Wettbewerb um die schönsten Banner, den lautstärksten Support sowie die kreativste Ausgestaltung der Kurve gehörten auch gewalttätige Auseinandersetzungen mit gegnerischen Fans dazu. Auch wenn sie sich zu Beginn noch auf wenige Vorkommnisse pro Jahr beschränkten, kündigte sich hier schon die bis zum Fetisch aufgeblasene Praxis an, hingebungsvoll Feind- und Freundschaften zu pflegen. Dieser Ritus von Feind- und Freundschaften entstand ursprünglich aufgrund regionaler Unterschiede und gab sich später oftmals einen politischen Anstrich, in jedem Fall bildete sich eine eigene Art von Kultur heraus: »Jede Ultragruppe braucht die Beteiligung des Feindes, um den Krieg fortzusetzen. In dieser Frage arbeiten die Ultragruppen zusammen, um ihre gemeinsame Kultur aufrechtzuerhalten – sie begrenzen die Gewalt und nähren die Romantik mit Geschichten über Siege und Niederlagen, Heldentum und Feigheit, Freude und Trauer«.19 Die damals noch relativ kleinen Gruppen waren egalitär strukturiert und das wöchentliche Fußballspiel, samt der Vorbereitungen unter der Woche, diente mehr dem Zeitvertreib dieser fußballverrückten, in ihrer übergroßen Mehrzahl, jungen Männer.

 

Mit der zu Beginn der 1970er Jahre einsetzenden Krise trat an die Stelle des Kampffeldes der Fabrik verstärkt der Bereich der Reproduktion, im damaligen Jargon gesellschaftliche Fabrik genannt – die neue Autonomia-Bewegung zeichnete sich aus durch Hausbesetzungen und Gründungen von Centri Sociali, »proletarische Einkäufe«, kollektive Schwarzfahraktionen, gegenkulturelle Provokationen, Mietstreiks, Zeitschriften- und Radioprojekte. Wahrscheinlich verwirklichte sich an keinem Ort der Welt über einen so langanhaltenden Zeitraum das, was die Situationistische Internationale mit der Revolutionierung des Alltagslebens auf einen Begriff zu bringen versuchte. 1977 war der Höhepunkt und zugleich Beginn der Niederlage der Autonomia. Und nicht von ungefähr war es auch das Jahr der Explosion des Ultra-Phänomens. Tausende neue junge prekäre Arbeiter, Malocher, Schüler, Arbeitslose, Marginalisierte aus den proletarischen Stadtvierteln und unterbeschäftigte Intellektuelle – oftmals aktiv in der sozialen Bewegung – schlossen sich den diversen Gruppierungen an, sodass es gegen Ende des Jahrzehnts kein Serie A- oder B-Team mehr gab, das keine Ultragruppe hinter sich vereinte. Dieses schnelle Wachstum erforderte zunehmend einen höheren Grad an Organisierung, den die Gruppen unterschiedlich herstellten. Alle orientierten sich aber an den Organisierungsmodellen der außerparlamentarischen Opposition, »wie folgende Kennzeichen zeigen: ein dirrettivo, eine Art Politbüro; die versammlungsartige oder demokratische Art der Entscheidungsfindung (…); das starke Engagement mancher Mitglieder unter der Woche (Treffen, Vorbereitung von Bannern und Choreographie, Flugblattverteilung); und sogar die Verwendung von Fahnenstangen als Waffen«.20 Gegen Ende des Jahrzehnts veränderte sich jedoch die gesellschaftliche Situation. Steigende Jugendarbeitslosigkeit, eine Versechsfachung der Heroinabhängigen zwischen 1976 und 1978 sowie die Militarisierung der politischen Gruppen der extremen Linken (und Rechten), die zudem in unzählige Splittergruppen zerfiel und sich teils heftig bekriegte, waren Zeichen eines allmählichen Niedergangs der Autonomia-Bewegung. Eine massive Repressionswelle des italienischen Staates setzte ein – mit Zehntausenden Anzeigen, 15.000 Verhafteten und 4.000 zu Knast verurteilten Aktivisten, was zwangsläufig einen brachialen Klimawechsel mit sich brachte: »Es ändert sich etwas in den gesellschaftlichen Vorstellungen und in den kulturellen Wahrnehmungen bis zum düsteren Sicheinkapseln in die konformistische und betäubende Gleichschaltung der entfalteten achtziger Jahre (…), die Jahre des Zynismus, des Opportunismus und der Angst«.21 Genau zu dieser Zeit ereignete sich, dem allgemeinen gesellschaftlichen Trend folgend, auch eine Militarisierung der Kurven der Spielstätten, die einen der letzten gesellschaftlichen Fluchtpunkte darstellten: Eisenstangen, Messer, Holzstöcke und Ketten fehlten nun bei keinem Stadionbesuch, die Hierarchien innerhalb der größeren Gruppen verstärkten sich, Rollen und Aufgabenfelder wurden klarer herausgearbeitet und interne Aufstiegsmöglichkeiten definiert. Das anarchische, spontaneistische Zusammentreffen der Anfangszeit scheint in diesen Jahren verloren gegangen zu sein. Die Gruppen waren nun »streng hierarchisch organisiert, der Capo gibt den Ton an und die Masse folgt. Diese präzise Befehlskette ist auch sinnvoll, wenn man sich jeden Sonntag mit aufgeheizten Sondereinsatzkommandos oder messerbewehrten gegnerischen Ultrà-Gruppen messen will.«22 Mag sein, dass sich so eine rationale, für den Straßenkampf taugliche, Organisationsform herausbildete, gleichzeitig scheint aber in dieser sich zunehmend autoritär verdichtenden Form auch ein bedeutender Grund für den einsetzenden Niedergang der italienischen Ultra-Bewegung zu liegen.

 

Trotz dieser gesellschaftlichen, aber auch in den Gruppen sich manifestierenden autoritären Wende schafften es die Ultras noch bis Mitte der 1980er Jahre, in den meisten Kurven eine gewisse linke, antifaschistische Hegemonie – zu der allerdings alles zu gehören schien, was irgendwie zwischen Durruti und Stalin anzusiedeln war – aufrechtzuerhalten. Die traditionellen Gruppen erlebten einen weiteren starken Zuwachs, die mitgliederstärksten zählten mittlerweile mehr als 10.000 junge Männer und in geringerer Zahl auch Frauen23; gleichzeitig zersplitterte die Szene zusehends. Angehörige jugendlicher Subkulturen wie beispielsweise Punks, Mods, Skinheads und die Paninari (eine italienische Variante der Popper), aber auch Freundeskreise aus der Nachbarschaft malten ihre eigenen Ultra-Banner und immer mehr sogenannte cani sciolti (»streunende Köter«) gesellten sich zu den großen Gruppen (und zum Teil auch in Opposition zu ihnen) in die Kurven und schwächten damit ihre Dominanz. Dies führte allerdings nicht zu einer Renaissance des Subversiven, denn schon ihre Namen – Wild Kaos, Kolletivo Alcoolico und Sconvolts – ließen erkennen, dass die neuen Fans weniger von politischer Rebellion inspiriert waren als von maskuliner Identität, exzessivem Gebrauch von Drogen und sinnloser Gewalt. Die Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung wich nun verstärkt einer nihilistischen Ablehnung des Bestehenden: Man war gegen den Staat und seine Organe, gegen die Spießigkeit, die ein bürgerliches Leben zu bieten hatte, und verachtete die öffentliche Moral. Der Altersdurchschnitt sank, und die neuen Fans scherten sich immer weniger um über Jahre gewachsene Freund- und Feindschaften, politische Weltanschauungen und um die Selbstkontrolle in der Kurve. Verstärkt kam es zu Angriffen auf »normale« Fans, in den Anfangsjahren noch strengstens verpönt, und auch rassistische Sprechchöre waren immer häufiger zu vernehmen. Vorläufiger Höhepunkt dieser unheilvollen Entwicklung war der erste von Ultras zu verantwortende Tote: Beim römischen Stadtderby im Oktober 1979 feuerten streunende Köter aus dem Roma-Block eine Leuchtrakete ab, die einen Fan im gegenüberliegenden Lazio-Block tödlich am Kopf traf. Dies blieb zunächst ein, im Übrigen auch innerhalb der Szene strikt verurteilter, Einzelfall – einige Jahre später gab es allerdings weitere Tote, woraufhin die Maßnahmen gegenüber Fußballfans stark verschärft wurden: Die Blöcke in den Stadien wurden strikter nach Fangruppen getrennt und teils auch Überwachungskameras installiert, was dazu führte, dass sich die Auseinandersetzungen immer öfter vor die Stadiontore, etwa an Bahnstationen und später auf Rastplätze, verlagerten. Nach wie vor ging es gegen andere Ultra-Gruppierungen, aber immer öfter wurde auch die immer brutaler agierende Polizei zum Ziel. Viele Ältere zogen sich aufgrund verstärkter Repression, aber auch wegen eines beklagten »Werteverlusts« in Form von zunehmender Gewalt und keineswegs mehr nur spielerisch ausgetragener Kämpfe, frustriert ins Privatleben zurück. Aus revolutionärer Sicht war das Verebben der gesellschaftlichen Rebellion und der Rückzug in die Kurven natürlich eine Niederlage, und die Ultras taugen nicht zur Glorifizierung; die zahlreichen regressiven Momente der Bewegung geben dazu wenig Anlass. Eine maximalistische Kritik allerdings, die die Jugendlichen im Nachhinein belehrt, sie hätten besser weiter die Arbeitsämter, Schulen, Universitäten und Fabriken auseinandergenommen, anstatt sich in die Kurven und die Gewalt zu flüchten, argumentiert völlig ahistorisch und verkennt das depressive gesellschaftliche Klima infolge der Niederlage der Autonomia. Außerdem wäre es falsch, die italienischen Ultras ab Mitte der 1980er Jahre nur unter dem Aspekt zunehmender Gewalt zu betrachten. Aufwändige Choreographien und neue Lieder machten die 1980er und 1990er Jahre zugleich zu den lebendigsten Dekaden in den Stadien. Auch standen die Schlachten keineswegs für alle Ultras an erster Stelle; für viele war es beispielsweise mindestens so wichtig, Lieder zu dichten oder Fanzines und Flugblätter herzustellen. »Journalisten und Vereinspräsidenten nennen Ultras wunderbare Zuschauer, wenn alles gut läuft (…), aber Hooligans, wenn es Probleme gibt. Doch in beiden Fällen reden sie über dieselben Leute.«24

 

Aber selbst von den spektakulären Inszenierungen scheint wenig geblieben zu sein, schaut man sich heute in den Stadien Italiens um: Miese Stimmung, grassierende Fangewalt, korrupte Verbände und heftigste Repression bestimmen das Bild. Durch das Verbot von Trommeln, Bannern und Fahnen, durch Spiele ohne gegnerische Fans und durch personalisierte Tickets machen sich Polizei und Verbände momentan daran, die Bewegung komplett auszutrocknen. Auch wirkte sich der in den 1990er Jahren einsetzende Rechtsruck in der italienischen Gesellschaft merklich auf die rebellischen Fanszenen aus; neben ordinärem Rassismus (vor allem auch in den Verbänden25 und Vereinen selbst) nimmt auch die Zahl organisierter faschistischer Ultra-Banden zu. Die gab es zwar von Anfang an, aber nur als absolut minoritäre Strömung. Heute dagegen gelten nicht unbedeutende Teile der italienischen Ultra-Szene als offen rechtsextrem und auch unter dem Deckmantel des Unpolitischen sind die rassistischen Parolen in den Kurven kaum zu überhören. Viele historische Ultra-Gruppen haben sich unterdessen in normale und teilweise auch in zutiefst mafiöse Fanclubs verwandelt, die handfeste wirtschaftliche Interessen verfolgen und mittlerweile ordentlich Kasse machen. Die Dominanz von Männlichkeitskult, Härte und ein funktionierender und im Gleichklang ertönender Massenkörper stehen diesen Entwicklungen sicherlich nicht im Wege und sind aller Kritik wert. Trotzdem bleibt die Szene – nicht nur in Italien – politisch durchaus vielfältig: Viele Ultras haben 2001 an den G8-Protesten in Genua teilgenommen und verorten sich bis heute im Umfeld der Centri Sociali; und während der eine Teil dafür sorgen will, dass keine schwarzen Spieler in ihren Vereinen mehr eingesetzt werden, organisiert ein anderer Fankongresse sowie antirassistische Kampagnen in- und außerhalb der Stadien.

Ultramythen. Gemeinsamkeiten und Grenzen

 

Trotz ihrer wechselvollen Geschichte hatte die italienische Ultra-Bewegung eine immense Strahlkraft und verbreitete sich ab Mitte der 1980er Jahre – nicht zuletzt durch das Privatfernsehen, das die spektakulären Bilder aus den Kurven direkt ins heimische Wohnzimmer übertrug – über ganz Europa (mit Ausnahme Großbritanniens, von neuen sehr kleinen Ansätzen abgesehen). Mit mehreren Zehntausend Anhängern in einigen Ländern kann sie heute als die alles dominierende Fankultur angesehen werden. Die regional unterschiedlichen, in weiten Teilen stark politisierten Ultra-Szenen verbindet neben dem Gefühl der Rebellion oft nur die gemeinsame Art des Supports: Das Spektrum reicht von halbwegs antiautoritären Vereinigungen über sich als unpolitisch verstehende Anhänger bis hin zu mafiösen Zusammenhängen und faschistischen Kampftruppen. Dennoch gibt es inhaltliche Gemeinsamkeiten, die sich in den Slogans »All Cops are Bastards (ACAB)«, »Wir sind der Verein«, »Gegen den passiven Fan« und »Nein zum modernen Fußball« manifestieren. Sie dominieren, wo immer Ultras tonangebend sind – von Kairo bis nach Gelsenkirchen. Was diese Losungen genau bedeuten sollen, lässt sich aber nicht sagen.

 

Die Zukunft wird zeigen, ob sich der Hass auf die Polizeikräfte zu einer Kritik an ihrer Rolle als Staatsorgane, verantwortlich für den Schutz kapitalistischer Eigentumsverhältnisse und die Niederschlagung alles Widerständigen, ausweitet wird. Bislang erschöpft er sich, etwa in Deutschland, in Gejammer über als willkürlich empfundene Einsätze und in Kennzeichnungspflicht-Kampagnen für Polizeibeamte, in Ländern wie Ägypten in Demonstrationen für eine juristische Verfolgung von mordenden und folternden Polizisten. Die Heftigkeit der Attacken auf die Sicherheitskräfte ist dabei sicherlich kein Gradmesser für die Emanzipation. Harte Angriffe setzen eine geradezu militärische Disziplin voraus, weshalb es kaum wundert, dass sie zum Beispiel in Italien vor allem von faschistischen Ultra-Gruppen bekannt sind, während etwa in Deutschland Gruppen mit sehr flachen Hierarchien und einem klaren antirassistischen und antisexistischen Selbstverständnis (unter anderem Schickeria München) einen kritischen Umgang mit dem Thema Gewalt anmahnen.

 

Auch die zum Standardrepertoire gehörende Kritik am passiven, konsumierenden Fan ist zweischneidig. Dieses Feindbild eröffnet kaum Einsichten in eine Gesellschaft, die durchweg von ökonomischen Sachzwängen determiniert wird und alle Mitglieder zu Charaktermasken degradiert – nicht nur im Stadion. Dabei mag die Ablehnung des sich berieseln lassenden Zuschauers, der den Verbands- und Polizeianweisungen bedingungslos Folge leistet, das verlangte Eintrittsgeld ohne Murren zahlt und die Videoüberwachung im Stadion zum Schutz der eigenen Sicherheit akzeptiert, durchaus nachvollziehbar sein. Problematisch wird es, wenn dieser Figur die Aktiven entgegengesetzt werden, die auch noch ihre letzten freien Minuten ihrer arbeits-, schul-, oder universitätsfreien Zeit für den Verein opfern, sich die ganze Woche über mit der kreativen Gestaltung des nächsten Spieltags befassen und an diesem dann selbstverständlich bedingungslosen Einsatz zeigen. Die Kritik verkommt zur Pseudo-Aktivität, wenn der erkämpfte Freiraum in der Kurve nicht Ausgangspunkt einer weitergehenden Revolte wird, sondern selbstreferenziell bleibt und damit im besten Falle an den schlimmsten Auswüchsen der Fußballindustrie herumkrittelt.

 

Die Parole »Wir sind der Verein« mag, vor allem bei höherklassigen Vereinen, geradezu lächerlich anmuten und Ausdruck jugendlicher Selbstüberschätzung sein. Gleichzeitig drückt sie durchaus eine Entfremdung vom Spektakel aus. Weil die völlige Ökonomisierung der Klubs mit dem antikommerziellen Grundverständnis der Ultras nur schwer in Einklang zu bringen ist, werden noch die größten Verrenkungen vorgenommen und allerhand Identitätskonstruktionen bemüht, um die Liebe zum »eigenen« Verein zu rechtfertigen. Dann wird eine (vermeintliche) kosmopolitische oder antikoloniale Vergangenheit herangezogen oder auf eine bunte Fanszene gepocht. So hat sich das Interesse vieler Ultras mittlerweile vom Geschehen auf dem Rasen auf das Leben in der Kurve und die Zugehörigkeit zu einer internationalen, rebellischen Fankultur verlagert, das Spiel selbst ist nur noch Kulisse.

 

Etwas skurril erscheint auch die Parole »Nein zum modernen Fußball«. Denn erstens ist die Ultra-Bewegung ein Kind genau dieses modernen Fußballs – und ohne ihn praktisch kaum vorstellbar –, und zweitens war der organisierte Fußballsport seit seinen Anfängen untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden. Deshalb wird es auch kein Zurück zu einer angeblich besseren Zeit geben. Welche sollte das auch sein? Die, in der Fußball eine Vergnügung der Bourgeoisie war? Die, in der nur Männer die Stadien bevölkerten? Oder aber die Zeit, in der das Fernsehen einen geringeren Einfluss ausübte und die Fans ungestört ihre Ressentiments gegen schwarze Spieler ausleben konnten? Trotz aller Traditionshubereien findet unter der Parole auch Vorwärtsweisendes statt, etwa Fankongresse, Demonstrationen und Supporterstreiks gegen weitere Einschränkungen auf den Rängen, überteuerte Tickets und die völlige Entmündigung der Fanszene. Auch das augenscheinliche Desinteresse an der jeweils »eigenen« Nationalmannschaft sowie den damit verbundenen Welt- und Kontinentalmeisterschaften birgt in Zeiten gleichgeschalteten Nationaltaumels durchaus kritisches Potenzial, werden diese Spektakel doch illusionslos als offensichtlichster Ausdruck einer Eventisierung der Ware Fußball gewertet. Die weitergehenden Motivationen dieser Ablehnung sind jedoch durchaus divers: Verfügen die einen über eine grundsätzlich antinationale, teils auch staatsfeindliche Grundhaltung, schwenken andere lieber die Fahnen der Separatisten (sehr stark ausgeprägt in Spanien – sowohl bei linken wie rechten Gruppierungen) und wieder anderen ist nichts näher als ihr kleines Dorf und die damit verbundene Gemeinschaft.

 

Entscheidend ist aber etwas anderes: das eingangs festgestellte Phänomen, dass Ultras in den letzten Jahren an vielen Unruhen maßgeblich beteiligt waren. Was sie in den 1970er Jahren von politischen Bewegungen übernommen haben – Phantasie, Erfahrungen in der Konfrontation mit den Sicherheitsorganen, autonome Kommunikationsstrukturen, finanzielle und organisatorische Unabhängigkeit – fließt so wieder in Aufstände ein und verlässt den abgesteckten Rahmen der Stadionkurven, wie im Folgenden anhand von Ägypten, der Türkei und der Ukraine gezeigt wird. Namentlich der Fall Ukraine lässt allerdings keinen Raum für Begeisterung. Die gegenwärtigen Unruhen sind ziemlich konfus und am Beispiel der Ukraine zeigt sich, dass sie auch nach rechts kippen können. Ultras treten heute nicht nur bei fortschrittlichen Bewegungen hervor, sondern auch als nationalistische Schlägertrupps.

 

Ultras in Ägypten: Ein organisierter Teil des kämpfenden Surplus-Proletariats?


In den nordafrikanischen Ländern ist der Kursverlust der menschlichen Arbeitskraft tagtäglich deutlich wahrnehmbar. Armut, massenhafte Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bestimmen das Bild, nirgendwo zeigt sich die schwindende Integrationskraft des Kapitalismus klarer als hier. Das Surplus-Proletariat tritt in Nordafrika auch wesentlich stärker als rebellierender Akteur in Erscheinung als in Europa. 2011 wurden dort in einer beeindruckenden Welle von Erhebungen jahrzehntelang regierende Diktatoren hinweggefegt.26 Voraus gingen diesen Revolten allerdings Aufstände der Fabrikarbeiterklasse. Im ägyptischen Mahalla etwa kam es 2008 zu einem bedeutenden Streik der Textilarbeiter27 samt tagelangen Straßenschlachten mit der Polizei. Neben der eher traditionellen Arbeiterklasse sowie der Jugendbewegung des 6. April gab es noch einen weiteren Akteur, der sich schon während der Diktatur aufmüpfig verhielt: junge Fußballfans, die sich in den Stadien sammelten und langsam anfingen, offen zu rebellieren. Existierten in den Ländern Nordafrikas kaum Orte, an denen sich Jugendliche ohne die Kontrolle der Alten oder der Sicherheitskräfte treffen konnten, so bildete das Fußballstadion eine Ausnahme. Die sich noch überwiegend als unpolitisch begreifenden Fußballfans versuchten sich dort einen Freiraum zu schaffen, und so entwickelte sich vor allem in Tunesien28 und Marokko, aber auch in Ägypten und Algerien eine auf Krawall gebürstete Bewegung jüngerer fußballbegeisterter Männer, denen ein Leben zwischen Armut und Geheimpolizei zu begrenzt erschien. Wie ein Ultra erklärte: »Zum Klub zu gehören ist das Einzige in unserem Leben, was wir selbst gewählt haben.«

 

Stark beeinflusst von der Ultra-Bewegung Italiens gründeten sich dann 2007 mit den Ultras Ahlawy, den Ultras Devils (beide al Ahly), den Ultras White Knights (UWK, al Zamalek), den Ultras Yellow Dragons (Ismaily SC/Ismailia) und den Ultras Green Eagles (al-Masry/Port Said) die ersten Gruppierungen in Ägypten. Sie bekamen regen Zulauf, da gerade junge Fans den starren und korrupten Fanclubs die wesentlich bunteren, tendenziell antiautoritär und säkular ausgerichteten Ultra-Gruppierungen vorzogen. Recht schnell gerieten sie dabei in Opposition zu den Verbänden, Vereinsbossen sowie den weniger engagierten Fans, denen sie vorwarfen, das Spiel lediglich konsumieren zu wollen. Die Konflikte drehten sich um das unerlaubte Abfackeln von Bengalos sowie Verbote von Choreographien, den Ausschluss von Fans, Restriktionen gegenüber Besucherinnen und um als zu hoch empfundene Spielergehälter. Von ihren Ultrafreunden aus Europa, zu denen teils persönliche Kontakte bestanden (wie auch zu denen in Tunesien), übernahmen sie die Ablehnung des modernen Fußballs, indem sie beispielsweise gegen die Erhöhung von Ticketpreisen und die Monopolisierung von Fernsehübertragungen protestierten. Allah spielte eine untergeordnete Rolle, doch die Autonomie ihrer Kurve wie auch ihre kollektive Identität war ihnen heilig. Gestärkt durch ihre Gruppe und durchaus auch von einem Ethos der Rebellion angetrieben, widersetzten sie sich deshalb oftmals den Anweisungen der Egyptian Football Association (EFA) und, anfänglich allerdings noch zaghaft, den Sicherheitskräften. Ein Ultra berichtet: »Es gab überhaupt keine Vorstellung von irgendeiner unabhängigen Organisation, seien es Gewerkschaften oder politische Parteien. Dann haben wir angefangen, Fußballultras zu organisieren (…) für sie [die Polizei] waren es die Jugendlichen – sehr gewiefte Leute –, die sich schnell in großer Zahl in Bewegung setzen konnten. Sie hatten Angst vor uns.«29 Selbstverständlich gab es auch Kämpfe zwischen den diversen Ultra-Gruppen, sie beschränkten sich aber auf eher harmlose Prügeleien, Beschimpfungen sowie das Klauen von Fan- und Gruppenutensilien. Das Jahr 2008 gilt dann als entscheidender Wendepunkt: Bei einem Spiel in Port Said versuchten die Sicherheitskräfte wieder einmal, ein Banner aus der Kurve der Ultras Ahlawy zu konfiszieren. Diese wehrten sich jedoch und gingen ihrerseits mit Holzlatten bewaffnet zum ersten Mal offensiv gegen die Polizei vor. Dieses Ereignis sowie viele weitere, die ihm an den allwöchentlichen Spieltagen folgten, führten zu einer massiven Hetze der Medien. Die Ultras wurden verunglimpft als Anhänger einer rassistischen Ideologie, die an die Nazis erinnere, als Verrückte, die sich für nichts anderes interessierten als für ihren Club und dabei westliche Jugendkulturen nachäfften, aber auch als Atheisten, Homosexuelle, Krawallmacher und Drogensüchtige bezeichnet. Vereinzelt gab es auch andere Protestformen, die den vermeintlich unpolitischen Charakter der Ultras konterkarierten. Nachdem ein UWK-Mitglied von der Polizei in Alexandria gefoltert wurde, trugen seine Fußballfreunde im November 2010 beim Spiel gegen al-Masry als Geste der Solidarität schwarz und im gleichen Jahr kam es einmal zu »Nieder mit Mubarak«-Rufen im Stadion. In anderen Fällen störten sie Wahlkampagnen von Abgeordneten, die sich gegen die Ultra-Bewegung stellten beziehungsweise mit dem korrupten Fußballverband in Verbindung gebracht wurden. Mitunter äußerten sich Ultras auch zu Palästina und zur stagnierenden Ökonomie, was zu einigen Verhaftungen führte. Dennoch »ist es wichtig, das politische Engagement von Ultras in den Jahren vor der ägyptischen Revolution nicht übermäßig zu betonen. Ultras, die sich vor 2011 politisch äußerten, taten dies weitgehend als Einzelne, nicht als Gruppenvertreter.«30 Sowohl die Ultras als auch die Sicherheitskräfte waren damals noch bemüht, die Lage nicht vollends eskalieren zu lassen.

 

Nahezu alle Kommentatoren attestieren den Ultra-Gruppierungen eine klassenübergreifende Zusammensetzung: Sie »vereinen Gebildete und Analphabeten, Reiche und Arme«.31 Die Ultras White Knights, bei denen minoritär auch Frauen beteiligt zu sein scheinen32, erklärten in Reaktion auf den Vorwurf, »Lumpen« zu sein: »Wir sind kein Haufen von Verlierern. Wir sind ein echter Cocktail der ägyptischen Gesellschaft, in dem man auch Anwälte, Doktoren, Ingenieure, Geschäftsmänner und Studenten findet.«33 Fakt scheint zu sein, dass die ägyptischen Ultras es verstehen, unterschiedliche – tendenziell überflüssige – Bevölkerungsteile in disziplinierten Vereinigungen zu organisieren, anfänglich vor allem Leute im Alter zwischen 16 und 25 Jahren. Trotz aller berechtigten Kritik an der alleinigen Fokussierung eines bestimmten – nämlich des gebildeten und zukunftslosen – Typus von Protestierenden scheint dieser bei der Gründung der ersten Ultra-Gruppen in Kairo mit ihren damals weniger als hundert Mitgliedern tatsächlich eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Doch schon kurze Zeit später strömten andere Desillusionierte hinzu, sodass er in den nun jeweils mehrere tausend Mitglieder umfassenden Organisationen mit ihrer zigfach höheren Mobilisierungskraft kaum noch eine zentrale Bedeutung einnahm. Vielmehr scheint sich die Klassenzusammensetzung mittlerweile in Richtung städtischer Armer zu verschieben; die Ultra-Gruppierungen sind auch eine der wenigen, wenn nicht sogar die einzige organisierte Kraft, die revoltierende Straßenkinder in ihre Reihen integriert, sodass inzwischen auch schon 14-jährige Jungs bei ihnen mitmischen. Trotz gewisser Hierarchien sind die Gruppen relativ horizontal organisiert, aufgrund der Vielzahl ihrer Mitglieder aber in Sektionen gegliedert. Vor allem die Ultras Ahlawy haben Untergruppierungen im ganzen Land, die sich in den verschiedenen Vierteln der Städte organisieren – in extrem armen, eher traditionellen Arbeitervierteln wie auch in etwas wohlhabenderen Quartieren. Die Auswärtsfahrten und die teils sehr aufwendigen Choreographien finanzieren sie durch den Verkauf von Fan-Shirts und CDs sowie aus den nach Einkommen gestaffelten Mitgliedsbeiträgen. Ihre Kommunikationsstrukturen (Mobiltelefon und Facebook, Treffpunkte an Straßenecken, in Cafés, Schulen und Universitäten) sind nur schwer durchschaubar, durch persönliche Kontakte sowie einen starken Zusammenhalt – vor allem auch im Alltag – geprägt. Es drängen keine Repräsentanten ins Rampenlicht und das anonyme Agieren bietet einen relativen Schutz vor staatlicher Repression. Die Führungskader, die nicht als autoritäre Bosse34 zu verstehen sind, bilden sich gewöhnlich nach Bildungsgrad, Länge der Gruppenzugehörigkeit, Alter, Mut in Auseinandersetzungen mit der Polizei und Engagement heraus. Teilweise werden sie auch gewählt, beispielsweise bei den Ultras Yellow Dragon von Ismaily SC, die so versuchen, informellen und undurchsichtigen Hierarchien das Wasser abzugraben.35 Für die Capos gilt jedoch wie für den Rest der Mitglieder, dass sie sich in Sachen Fußball bedingungslos in den Dienst des Kollektivs zu stellen haben und ihnen bei Zuwiderhandlung der Ausschluss droht. Dazu gehört in erster Linie, sich an gemeinsame Absprachen zu halten, für sein Handeln Verantwortung zu übernehmen, sich nicht persönlich über die Gruppe zu stellen und vor allem keine Interna an die mit großem Misstrauen beäugte Presse weiterzugeben.

 

»Als am 25. Januar die ägyptische Revolution ausbrach, stellten Beobachter fest, dass die einzige organisierte Gruppe im Land, die über die nötigen Kampferfahrungen verfügte, um mit den Sicherheitskräften fertigzuwerden, die Ultras waren – und nicht die Muslimbrüder, die Jugendbewegung des 6. April oder die Nationalversammlung für Wandel«.36 Viele Menschen beteiligten sich in diesen Tagen zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt an Protesten, waren also völlig unerfahren, und tatsächlich wussten selbst die Aktivisten der Jugendbewegung des 6. April, die durchaus Erfahrungen mit Polizeigewalt hatten, dieser nicht effektiv entgegenzutreten. Die diversen Ultra-Gruppierungen stellten es ihren Mitgliedern frei, sich an den geplanten Protesten zu beteiligen, riefen allerdings nicht aktiv zur Demonstration am 25. Januar auf.37 Dennoch fanden sehr viele Ultras an diesem Tag auf den Straßen zusammen. Nachdem es zu hunderten von Festnahmen und massiven Übergriffen der Sicherheitskräfte gekommen war, entschieden die Ultra-Gruppierungen, sich klar zu positionieren und gemeinsam am Widerstand gegen das Mubarak-Regime zu beteiligen – am »Tag des Zorns« riefen sie dann auch offiziell zu den Protesten auf. In den militanten Auseinandersetzungen, besonders bei der sogenannten Kamelschlacht, spielten sie eine entscheidende Rolle und trugen so in Alexandria, Suez und Kairo ihren Teil zum Sturz Mubaraks bei.38 Ultras beteiligten sich aber auch an der Aufrechterhaltung der Infrastruktur, versuchten das Ägyptische Museum vor Plünderern zu schützen und etablierten Graffitis durch unzählige Sprühaktionen als eine neue Kommunikationsform. Sprühten sie zuerst die Namen ihrer Gruppen und Parolen gegen Fußballkommerz, korrupte Verbände und das Fernsehen an die Häuserwände, so wurden Graffitis nun zu einem der wichtigsten Kanäle, der Botschaften der Revoltierenden an den Rest der Bevölkerung übermittelte und damit wesentlich bedeutender gewesen sein dürfte als Facebook und Twitter zusammen. Aber vor allem sorgten sie mit Gesängen für Zuversicht auf den besetzten Plätzen und bei den Angriffen auf die Ordnungskräfte. Aus Liedern, die bisher fast ausschließlich von der Liebe zum eigenen und dem Hass auf den gegnerischen Verein handelten, wurden nun Protestlieder gegen staatliche Korruption, die Macht der Militärs und Polizeibrutalität. Die zunehmende Politisierung zeigte sich auch sofort in den Stadien, als im April 2011 die Spielzeit wieder aufgenommen wurde und die Ultras lautstark Parolen gegen die Militärherrschaft riefen. Außerdem versuchten sie, Spieler und Vorstände aus den Vereinen, die der Staatspartei NDP nahestanden, durch körperliche Angriffe und erzwungene Rücktritte zur Verantwortung zu ziehen. Die Transformation in eine sich deutlich politisch artikulierende und handelnde Vereinigung, die sich sowohl in Opposition zum Militärrat als auch zu den aufstrebenden Muslimbrüdern verortete, machte sie zu einem klar definierten Angriffsziel für die immer noch regierenden Militärs. Gleichzeitig drückte sich in der zunehmenden Politisierung ein Widerspruch aus, der sich auf lange Sicht nicht auflösen lässt und bis heute für reichlich Diskussionsstoff innerhalb der Gruppen sorgt. Während ein Großteil darauf pochte, den Fokus der Proteste wieder in die Stadien zu verlegen – sie fühlten sich nach eigenem Bekunden wie ein »zappelnder Fisch an Land, der wieder schleunigst zurück ins Wasser muss« – und damit in erster Linie Ultra bleiben wollte, sahen andere ihre Berufung mittlerweile darin, weiterhin auf allen »Straßen der Revolution« zu agieren. Einige Ältere verließen dann auch die Gruppen, um sich anderen außerparlamentarischen Oppositionsgruppen anzuschließen. Der massenhafte Zustrom vom Aufstand begeisterter Jugendlicher nach dem Sturz Mubaraks sorgte gleichzeitig dafür, dass die Ultra-Gruppen »wahrscheinlich zur zweitgrößten zivilen Organisation nach den Muslimbrüdern« (James Dorsey) anwuchsen; allerdings vertieften sich damit auch die inneren Widersprüche. Die neuen Mitglieder brachten nämlich auch Chaos in die Gruppen – es kam beispielsweise zu nicht abgesprochenen Platzstürmen und die Capos verloren mehr und mehr die Kontrolle über ihre Schäfchen. Viele fanden es einfach cool, Ultra und damit Teil der Rebellion zu sein; der Klub war nur noch nebensächlich. Dies muss man keineswegs bedauern, aber für die Ultra-Gruppierungen mit ihrem ausgeprägten Kollektivstolz ist eine vereinigende Klammer unabdingbar. Dies sind normalerweise die Farben des Vereins und für einen kurzen Moment war es der Aufstand mit einem klaren, gemeinsamen Feind, dem Militär.39 Aber schon vor der ersten Wahl nach dem Sturz Mubaraks kamen Streits unter den Ultras auf, beispielsweise darum, welchen Kandidaten sie präferierten.

 

Die Klammer sollte jedoch wesentlich schneller wieder heften, als ihnen lieb war: 74 Tote und knapp tausend Verletzte waren die Folgen des Massakers von Port Said bei einem Spiel der beiden als Erzrivalen geltenden Fußballklubs al-Ahly Kairo und al-Masry. Nicht nur das Datum – fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Kamelschlacht auf dem Tahrir-Platz – deutet auf einen Vergeltungsschlag der Sicherheitsorgane gegen die beim Aufstand hervorstechenden Ultras Ahlawy hin. Aufgrund dieses Ereignisses, das die Ultras als Angriff auf ihr Kollektiv verstanden, betraten sie erneut geschlossen die politische Bühne; zu einer Zeit, in der sie sich intern eigentlich schon längst wieder auf einen Rückzug in die Stadien verständigten. Massive, tagelange Straßenschlachten und Angriffe auf Polizeistationen, aber auch Belagerungen von Banken, Presseerklärungen, Zusammenarbeit mit Anwälten, politische Demonstrationen und mehrwöchige Sit-Ins folgten – gemeinsam mit einem ihrer größten Rivalen, den Ultras White Knights, die ihre Solidarität auf vielfältige Art zum Ausdruck brachten, und anderen außerparlamen1tarischen Oppositionsgruppen.

 

Die Rechnung des Militärs schien jedoch aufzugehen: Ein empörter Aufschrei der mittlerweile revolutionsmüden ägyptischen Bevölkerung blieb aus; stattdessen erschallte laut der Ruf nach Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Vor allem in konservativen und religiösen Kreisen gelang es, den Ultras die Schuld in die Schuhe zu schieben, sie als Krawallbrüder zu diskreditieren und das Militär erneut als Wahrer der öffentlichen Ordnung ins Spiel zu bringen. Aber auch die organisierten Fußballfans handelten sehr widersprüchlich und gingen trotz eines massiven Aufbäumens letztendlich als Verlierer aus diesem todernsten Spiel fernab des grünen Rasens hervor. Einerseits prangerten sie das Militär für das Massaker an, andererseits kooperierten sie mit den Sicherheitskräften, um Täter zu identifizieren, für die sie auch lauthals die Todesstrafe forderten. Auch ihre Staatsfeindlichkeit zeigte Grenzen. So sehr sie die Staatsorgane verachten, glaubten sie doch daran, mit Hilfe der Justiz Gerechtigkeit herstellen zu können – selbst für eine Reform des Polizeiapparates setzten sie sich ein. Kaum ein ranghoher Polizist und schon gar nicht das Militär wurde letztendlich für das Massaker zur Verantwortung gezogen, aber viele Anhänger von al-Masry – die recht willkürlich dafür verantwortlich gemacht wurden – wurden zum Tode verurteilt, was bei den Ultras in Kairo zu Jubelstürmen und in Port Said, Suez und Ismaila zu schwersten Ausschreitungen mit Dutzenden von Toten und einer Verhängung des Ausnahmezustandes führte. Der Glaube an die Justiz scheint mittlerweile allerdings verloren gegangen zu sein. Nach Zusammenstößen mit der Polizei im Februar 2015, die nun auch bei ihnen mehr als zwanzig Todesopfer forderten, erklärten die Ultras White Knights in einem Facebook-Eintrag schlicht, dass sie mit der Justiz weder zusammenarbeiten werden noch irgendeine Art von Gerechtigkeit von ihr erwarten. Eine Einschätzung, die treffender nicht hätte sein können: Obwohl die Polizei mit Gas und Schrot in die Menge gefeuert und dadurch die tödliche Massenpanik ausgelöst hatte, wurden einige UWK-Mitglieder dafür verantwortlich gemacht und mit unter Folter erpressten Geständnissen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Im Juni 2015 wurden alle Ultra-Gruppierungen Ägyptens zu terroristischen Vereinigungen deklariert und verboten. Das deutsche Bundeskriminalamt honorierte diese klare Linie ordentlich: mit einer Schulung für die neue ägyptische Sicherheitsbehörde National Security Sector, inklusive Hospitation beim letzten DFB-Pokalfinale in Berlin.

 

Ultra per se ist ein recht fragiles Konstrukt, vollkommen abhängig von der sich verändernden Zusammensetzung der Gruppen wie auch den politischen und sozialen Rahmenbedingungen. Besonders deutlich zeigt sich dies an der ägyptischen Szene: in einem Land, das vom Sturz Mubaraks über die Machtteilung zwischen Islamisten und Generälen bis hin zum erneuten Coup des Militärs seine Geschichte des Aufstandes und der Konterrevolte im Zeitraffer durchlebte. Ohne klare Agenda und voller politischer Widersprüche bewegen sich die ägyptischen Ultras darin genauso konfus wie der Rest – aufgrund ihrer Organisationsweise agieren sie aber höchst flexibel. Zum einen verhalten sie sich wie die »sozialen Nicht-Bewegungen« (Asef Bayat) der städtischen Armen und Marginaliserten, also jenen Teilen der Klasse, die häufig nicht streiken können und politisch kaum vertreten werden: Sie eignen sich durch ständige Regelverletzungen den öffentlichen Raum an und verschieben dabei unter anderem repressive Moralvorstellungen. Wenn sich die Gelegenheit bietet, beteiligen sie sich auch an Riots – seit jeher die Kampfform der Ausgeschlossenen und Überflüssigen. Die meisten Ultras agieren außerhalb des Fußballstadions auf diese Art und Weise, auch massenhaft, aber nicht als Ultra-Kollektiv. Der soziale Zusammenhalt steht dabei über der politischen Gesinnung und jeder kann frei entscheiden, inwieweit er sich daran beteiligt. Zum anderen aber übernehmen sie Verhaltensformen von politischen Organisationen und NGOs, etwa Demonstrationen und klare, politisch vermittelbare Forderungen. So flexibel sie ihr Verhalten den äußeren Umständen anpassen, so diffus bleibt die inhaltliche Stoßrichtung. Nicht nur in Geschlechterfragen zeigt sich das deutlich. Einerseits setzten sich Ultras gegen Restriktionen gegenüber Stadionbesucherinnen ein, andererseits berichteten feministische Teilnehmerinnen der Sit-Ins, Ultras hätten ihnen in paternalistischer Manier nahegelegt, um 22 Uhr nach Hause zu gehen und das Rauchen zu unterlassen. Auch kam es im einen oder anderen Fall zu Zerwürfnissen mit anderen außerparlamentarischen Gruppierungen, beispielsweise bei einer Demonstration gegen Militärgewalt: Als Aktivisten Parolen gegen die Muslimbrüder skandierten, versuchten Ultras dies aus Sorge um den Zusammenhalt ihrer Gruppen, die in Anhänger und Gegner Mursis gespalten waren, zu unterbinden. Viele Ultras beteiligen sich als Individuen weiter an den militanten Auseinandersetzungen, teils auch in etwas formelleren Zusammenhängen von (ehemaligen) Ultras, die sich keinem Verein mehr zugehörig fühlen – den Ultras Freedom in den Anfangstagen der Revolution, später an dem durch europäische Anarchisten inspirierten Black Bloc, der als entschiedener Gegner des Mursi-Regimes auftrat, aber den Coup des Militärs im Sommer 2013 begrüßte, und an den Ultras Nahdawy, die bei den neueren Studentenprotesten und den freitäglichen Riots gegen das Militär in den Armenvierteln eine bedeutende Rolle spielen.40 Aktuell kämpfen die verschiedenen Ultra-Gruppen, da seit dem Massaker von Port Said die allermeisten Wettbewerbe unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, verstärkt um erneuten Einlass in die Stadien und versuchen somit, wieder in die Rolle der Fans zu schlüpfen. Obwohl die organisierten Fans eine nicht unbedeutende Rolle in den Aufständen spielten, hat es wenig Sinn, sie als Speerspitze der Revolte zu glorifizieren. Dafür sind sie politisch viel zu verworren und in letzter Konsequenz wird ihr Verhalten weniger von internen Diskussionen abhängig sein als vom Charakter zukünftiger Aufstände. Ganz sicher befinden sie sich jedoch in direkter Konkurrenz zu einer anderen Kraft, die ebenfalls perspektivlose Subjekte anzieht: dem »Islamischen Staat« und anderen djihadistischen Gruppierungen. Die Ultras bieten nach wie vor ein Bollwerk gegen islamistische Heilsversprechen, wobei sich – glücklicherweise bisher noch sehr leise – vor allem bei den neu hinzuströmenden jungen Wilden aus den Armutsvierteln wachsende Begeisterung für die islamistischen Terrorgangs vernehmen lässt.

 

Istanbul United: Die Hippie-Hools vom Gezi-Park


Auch an der Revolte in der Türkei im Sommer 2013 waren Ultras maßgeblich beteiligt. Sie entzündete sich an der geplanten Abholzung von ein paar Bäumen, wuchs aber schnell zum Aufstand gegen eine zunehmend islamistisch auftretende AKP an, die den Menschen ihren geliebten Rakı madig machen und Frauen vorschreiben wollte, wie viele Kinder sie zu gebären hätten. Dagegen ging auch die Ultra-Gruppe Çarşı auf die Straße. Ursprünglich als Unterstützergruppe für den Verein Beşiktaş Istanbul gegründet, steht Çarşı zumindest seit 1993 für weit mehr, als man es gemeinhin von Fußballanhängern erwarten würde. Seit vielen Jahren sind sie fester Bestandteil der 1. Mai-Demonstrationen und kritisieren den Rassismus in der türkischen Gesellschaft, sie standen den Erdbebenopfern in Izmit wie auch den Bergarbeitern beim Grubenunglück in Soma tatkräftig zur Seite und melden sich auch in anderen Angelegenheiten immer wieder lautstark zu Wort, beispielsweise gegen Tierversuche, Frauenunterdrückung, den Irak-Krieg und Atomenergie. Aufgrund des eingekreisten »A« in ihrem Namen werden sie fälschlicherweise immer wieder als Anarchisten tituliert, doch obwohl sich ein nicht unbedeutender Teil tatsächlich so definiert, ist das bei ihnen vertretene politische Spektrum wesentlich breiter gefächert – ihr Schlachtruf »Wir sind gegen alles!« wird von der Mehrheit um den Zusatz »Alles außer Atatürk« ergänzt. Ein Çarşı-Ultra beschreibt die politische Haltung wohl am besten: »Wir sind die einzigen sozialdemokratischen Anarchisten der Welt.« Angesichts ihrer bewegten Geschichte und ihrer Beheimatung im linksintellektuell geprägten Stadtteil Beşiktaş nahe dem Gezi-Park verwundert es kaum, dass sie sich von Anfang an an den Protesten beteiligten. Çarşı war mit mehreren Zelten und Bannern im Park vertreten, ihre Anhänger schlichteten Streit zwischen den Teilnehmern, und sie waren an unzähligen Sprühaktionen um den Taksim-Platz beteiligt – selbst die Initiative für die ersten Stadtteilversammlungen, die sogenannten Parkforen, ging von ihnen aus. Gemeinsam mit militanten linksradikalen Gruppen kämpften sie an vorderster Front an den Barrikaden gegen die bewaffneten Büttel des Staates und kaperten dabei sogar einen Bulldozer, mit dem sie einen Wasserwerfer in die Flucht schlagen konnten: »Die Beşiktaş-Ultras haben die Revolte (…) nicht initiiert, aber ihre Beteiligung trug entscheidend dazu bei, dass aus den Protesten ein Volksaufstand wurde.« (Der Spiegel) Es scheint aber noch einen anderen gewichtigen Grund für die immensen Sympathien zu geben, die ihnen entgegengebracht werden: Sie können singen – und das lautstark und phantasievoll. Im Vergleich zum Italien der späten 1970er und der Türkei der 1980er Jahre, wo es auch im staatlichen Interesse lag, die Wut in geordnete Bahnen und damit unter anderem ins Fußballstadion zu lenken, und wo die Fans in den Kurven die Widerstandslieder in Zeiten des Niedergangs der Bewegungen eher folklorisierten, können wir heute einen gegenläufigen Trend beobachten: Die Phantasie und Wut aus den Kurven hält Einzug in die Protestbewegungen. Die von Çarşı komponierten, aber von allen Beteiligten der Proteste voller Inbrunst geträllerten Lieder »Tränengas olé« und »Los, sprüh dein Gas / Los, sprüh dein Gas / Wirf den Knüppel weg / Zieh den Helm aus / Zeig, dass du dich traust«, halfen den jungen Männern und Frauen – viele von ihnen waren zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demo –, ihre Angst vor einer brutal agierenden Polizei zu überwinden. Die Songs erzeugten eine wesentlich enthusiastischere Stimmung als Sprechchöre wie »Erdoğan, verschwinde!«, »Taksim ist überall, überall ist Widerstand« und der mehr als angestaubte ML-Spruch »Schulter an Schulter gegen den Faschismus«. Die Çarşı-Anhänger zeigten aber noch eine weitere Fähigkeit: Sie schafften es, viele Fußballfans der unterschiedlichen Klubs, darunter auch zahlreiche weibliche, in einer riesigen Demonstration gegen das Erdoğan-Regime zu vereinen – der größten, die während des Aufstandes überhaupt stattfand.41 Und dies war alles andere als vorhersehbar. Denn die diversen Fangruppen sind sich teils spinnefeind, nicht selten kam es in der Vergangenheit zu mitunter heftigen Auseinandersetzungen bis hin zu tödlichen Messerstechereien. Hatte Çarşı schon vorher freundschaftliche Verbindungen zu den explizit linken und antirassistischen, aber in ihren Kurven minoritären Ultra-Gruppierungen, beispielsweise zu Tekyumruk (Galatasaray) und Sol Açık sowie Vamos Bien (Fenerbahçe)42, so schlossen sich nun auch viele der in den größeren Fangruppen43 organisierten Anhänger dem Aufstand an. Istanbul United war geboren. Im Moment des Aufstandes scheint ein gewaltiges Umdenken eingesetzt zu haben und die Fußballanhänger von Beşiktaş »avancierten endgültig zu Volkshelden« (taz), obwohl sie ihre Rolle selbst wesentlich bescheidener und realistischer einschätzen: »Wir wollen bis zum Ende in der Bewegung dabei sein und unseren Beitrag leisten, uns dabei aber nie an die Spitze stellen und keine Linie vorgeben. Çarşı kennt keinen Rückwärtsgang, das gehört zu unserer Philosophie.«44


»Dass Çarşı zu einer solchen Projektionsfläche wurde, zeigt (…) das Bedürfnis nach einer anderen Opposition«, meinte ein Beobachter der Revolte.45 Es drückte aber zugleich eine deutliche Schwäche der Bewegung aus, nämlich ihre politische Unklarheit. Sie war von Anfang an fragil. Im Aufstand gegen die AKP vereinten sich beispielsweise türkische Nationalisten, kurdische Separatisten, Sozialisten und Queer-Aktivisten – durchaus mit Sympathien bedacht von großen Teilen der kemalistischen Bourgeoisie. Aus Angst vor einer Spaltung ging man politischen Konflikten bewusst aus dem Weg und zelebrierte stattdessen eine Peace-and-Love-Kultur. Das mag angesichts des vorherigen Status quo in der türkischen Gesellschaft sympathisch sein, spiegelte aber ein entscheidendes Unvermögen wider, nämlich Streits um unterschiedliche soziale Interessen und politische Anliegen auch offen auszutragen. Genau darin dürfte auch ein bedeutender Grund für den Niedergang der Bewegung liegen; weniger in der gewaltsamen Räumung des Taksim-Platzes und kurz darauf des Gezi-Parks. Die hippiesken Hooligans von Çarşı stellten dabei nur einen besonders deutlichen Ausdruck der allgemeinen Konfusion dar. Das nicht näher definierte Çarşı-Gefühl, von dem allerorten gesprochen wird und unter das anscheinend alles gefasst werden kann, was irgendwie links daherkommt, verpflichtet in allererster Linie zu gegenseitigem Respekt und Toleranz, und so verdeckte die Fähigkeit Çarşıs, einen ganzen Platz zu hegemonisieren, genau die genannte Schwäche – wenn auch sehr spektakulär, insofern die Leuchtraketen, bengalischen Fackeln, Banner, und Lieder nicht anders als im Stadion eine Einheit stifteten.

 

Auch am Beispiel der Türkei zeigte sich so, dass Teile der organisierten Fußballfans durchaus in der Lage sind, von der Vereinsmeierei zum Aufstand überzugehen, und auch beim nächsten Mal dürften sie wieder vorne mit dabei sein. Ihre durch die Revolte nochmals verstärkte politische Positionierung – für den Aufstand und gegen Erdoğan – gefällt jedoch nicht allen Anhängern von Beşiktaş, und so gründeten einige AKP-Getreue kurz nach den Gezi-Park-Unruhen eine neue Gruppe mit dem Namen 1453 Kartalları (die Zahl verweist auf das Jahr der Eroberung Konstantinopels durch das Heer des Osmanischen Reiches).46 Ähnliches gibt es auch bei Galatasaray zu beobachten – dort allerdings unter umgekehrtem Vorzeichen. Inspiriert durch die Gezi-Park-Revolte, gründete sich dort eine neue sozialistische und basisdemokratische Fangruppe mit dem Namen KızılAslan, die bei der feministischen 8. März-Demonstration einen eigenen Block stellte, streikende Arbeiter in Istanbul unterstützte und sich explizit in Opposition zur dominanten Fangruppierung ultrAslan verortet.

 

Das Erdoğan-Regime rächt sich unterdessen mit ausufernder Repression für die Revolte. Mehr als 90 Verfahren gegen knapp 6.000 Menschen wurden eingeleitet, teils unter abstrusen Vorwürfen bis hin zu »Bildung einer terroristischen Vereinigung«. Darunter befinden sich auch 35 Çarşı-Mitglieder, denen unter anderem ein »Putschversuch« vorgeworfen wird.47


Ukraine: Vom Maidan an die Front


Das Vermögen, in der Revolte aufzugehen, zeigten auch die organisierten Fußballfans in der Ukraine – wobei die dortige Revolte kaum Anlass zum Optimismus gibt. Auch wenn ihr Auslöser die Wut auf ein immer autoritärer und korrupter agierendes Regime war, schien sie vor allem vom Wunsch nach einer starken Nation getrieben zu sein.48 Mit großer Wahrscheinlichkeit steht am Ende eine weitere Abschleifung des Sozialstaates durch eine EU-freundliche Regierung, verbunden mit fortdauernd bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Osten des Landes. Dass trotz Massenarmut und Oligarchenmacht praktisch keine sozialen Forderungen laut wurden, dürfte den neuen Machthabern die angesichts des drohenden Staatsbankrotts unausweichlichen Sozialkürzungen erheblich erleichtern. Auf die vermeintliche Freiheit, die sich mit dem Sturz Janukowitschs durchsetzte, folgt nun die Austerität.

 

Im Gegensatz zu Çarşı und den relativ antiautoritären Ultragruppen in Nordafrika gehören unter Ultras im Osten Europas faschistische Symbole und ein offen zur Schau gestellter Antisemitismus ebenso zum guten Ton wie heftigste Prügeleien. Ultras des Vereins Dynamo Kiew, aber auch die Ultra-Gruppe Banderstadt49 von Karpaty Lwiw, einem bis in die höchsten Führungsgremien hinein rechtsextremen Verein50, kontrollierten in der Vergangenheit die Tickets an den Eingängen der Stadien, um sicherzustellen, dass nur »weiße« Ukrainer hineingelangen, Feindseligkeit gegenüber Tartaren, Nationalismus und slawischer »Rassenstolz« sind keine Seltenheit.51 Einem Aufruf der Swoboda-Partei in Lviv gegen die »Überfremdung« der ukrainischen Liga folgten 5.000 Fans – unter großer Beteiligung der dortigen Ultras. Dies ist auch ein Indiz dafür, dass sich hinter der Parole »Gegen den modernen Fußball« und den »Fuck off Euro 2012«-Bannern der ukrainischen Ultra-Szene im Vorfeld der Europameisterschaften, die gemeinsam von der Ukraine und Polen ausgetragen wurden, auch viele regressive Momente finden lassen. Eine Kritik an der zunehmenden Kommerzialisierung des Sports und der persönlichen Bereicherung von korrupten Verbandsfunktionären ist durchaus kompatibel mit rechtem Gedankengut. Die Entwicklungen im Fußball werden als Konspiration des internationalen Finanzkapitals interpretiert, der man eine Re-Regionalisierung und Re-Nationalisierung entgegensetzen müsse sowie eine völkische Identität fernab des »Multikulti-Diktats« von UEFA und FIFA. Abgesehen von den Fans des (mittlerweile insolventen) Vereins Arsenal Kiew52, die sich antifaschistisch positionierten und während der Saison inner- wie außerhalb der Stadien oftmals heftiger Angriffe erwehren mussten, scheint sich die dortige Fanszene eher in den Schattierungen des Rechtsseins zu unterscheiden, was allerdings nicht bedeutet, dass alle Ultras über ein stramm faschistisches Bewusstsein verfügen. Obwohl es vielerorts Sympathien für den Rechten Sektor und die Swoboda-Partei, zum Teil auch personelle Überschneidungen und Zusammenarbeit mit ihnen gibt, handelt es sich bei den Ultras um eigenständige Gruppen, auch wenn die taz verschwörungstheoretisch davon ausgeht, dass »diese Leute von irgendjemandem gesteuert (werden): Die Aggressivität von Fußballfans, die sich da auf dem politischem Feld entlädt, ist für die Ultras eine Entscheidung, die sie kaum selbstständig getroffen haben dürften.«53

 

Die ukrainischen Ultras stehen eher rechts, sie sind autoritärer und bandenmäßiger organisiert als in anderen Ländern und erinnern in ihrer sozialen Zusammensetzung eher an die Hooligans. Dennoch eint sie (neben dem Hass auf die Ordnungskräfte) etwas mit den Fußballfreunden aus der Türkei und Nordafrika. Im Augenblick des Aufstandes schlossen 34 Ultragruppen aus den drei ersten Ligen ein Friedensabkommen, das gegenseitige Angriffe und Beleidigungen auf unbestimmte Zeit aussetzte, um sich gemeinsam am »Widerstand« zu beteiligen.54 Die ehemals verfeindeten Gruppierungen fanden sich auf der gleichen Seite der Barrikade zusammen und erklärten kurze Zeit später in einem gemeinsamen Aufruf, nicht für einen Anschluss an Europa oder »für Julia, Vitali, Arseniy oder Oleh, nicht gegen Russland und die Russen« auf die Straße zu gehen, sondern »für die Kiewer, für unsere Stadt, für unser Land, für unsere Ehre!«. Mag die Beteiligung der Ultras aus dem westukrainischen Kiew und Lviv an den Maidan-Protesten keine große Überraschung sein, so ist es erstaunlich, dass sich auch die Gruppen im Osten und Südosten des Landes sowie auf der Krim, ob russisch- oder ukrainischsprachig, hinter den Aufruf stellten. Hinter der Botschaft, nicht im Dienste eines der Oppositionspolitiker zu stehen, und der Haltung zu Russland, die einen Kontrast zu den faschistischen und russophob ausgerichteten Parteien bildet, verbirgt sich ein kleinster gemeinsamer Nenner der diversen Strömungen innerhalb der Ultra-Szene: das bedingungslose Eintreten für die nationale Unabhängigkeit. Während des Aufstands schützten sie Demonstranten vor regimetreuen Schlägerbanden, und es ist fraglich, ob der relativ schnelle Sturz Janukowitschs auch ohne ihre Beteiligung vonstattengegangen wäre. Sicherlich waren die massiven Übergriffe der Polizei auf die Demonstranten der Auslöser, auf den Maidan zu strömen und gemeinsam gegen die Sicherheitskräfte vorzugehen. Sehr schnell wurden die Proteste jedoch von einem vehementen Nationalismus dominiert, den die Ultras mit ihrem Geschwätz von »unserem Land« und »unserer Ehre« selbst befeuerten. Entsprechend gibt es keinen Grund, sich Illusionen über einen emanzipativen Charakter ihres Treibens zu machen. Ein Sprecher der Ultras von Dynamo Kiew erklärte denn auch, dass sich einige ihrer Mitglieder dem Rechten Sektor und anderen »Selbstverteidigungsgruppen« angeschlossen hätten.55 Und während die Gefolgschaft für Politiker in dem Ultra-Aufruf noch abgelehnt worden war, flankierten diese Gruppen während des Aufstands nun die Interessen genau jener Politiker und wachten streng darüber, dass keine sozialkritischen, die nationale Einheit gefährdenden Slogans verbreitet wurden. Linke und anarchistische Aktivisten wurden mit dem Vorwurf vom Maidan verdrängt, sie wollten die Proteste für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren. Auch an dem für zahlreiche Menschen tödlichen Angriff auf das Gewerkschaftshaus in Odessa, in dem sich Anti-Maidan-Aktivisten verbarrikadiert hatten, waren viele Ultras beteiligt. Die Transparente in den Stadien, die seit dem Sturz des Regimes in den Stadien flattern, verheißen ebenso nichts Gutes. Kein Wort über die soziale Misere, stattdessen: Freiheit oder Tod, Krim ist Ukraine und Ukraine über Alles. Einige Fußballfans setzen dies auch praktisch in die Tat um und organisieren gegenwärtig die nationale Mobilmachung in einem der zahlreichen Rekrutierungszentren des Landes. Andere befinden sich schon an der Front im Osten56 in Donezk, wo sie sich unter anderem mit serbischen, auf der russischen Seite kämpfenden Hooligans auf dem wirklichen Schlachtfeld fernab der Fußballplätze blutig duellieren.

 

Zum Spannungsverhältnis zwischen Eigentor und Aufstand


»Die Tore auf dem Fußballfeld sind die Eigentore der Beherrschten«.57 Man müsste arge ideologische Verrenkungen vornehmen, um das Fußballspektakel dem Reich der Freiheit zuzuordnen. In kaum einem anderen Bereich der Freizeit tritt der repressive Charakter der Gesellschaft derart zugespitzt hervor wie hier: absoluter Leistungszwang, verbunden mit einem individuellen Aufstiegsversprechen und einer immer brutaleren Konkurrenz, bei der sich nur die Besten und Stärksten durchsetzen können. Der Fußball ist bis in seine letzten Winkel dem Verwertungsinteresse unterworfen, wird komplett warenförmig organisiert. Wie sollte es auch anders sein? Spätestens seit dem Aufkommen der Kulturindustrie, die noch die letzten gesellschaftlichen Bereiche kommodifiziert, kennt die kapitalistische Totalität keine unberührten Orte mehr. Dies gilt nicht zuletzt für die Ligen in Europa und Japan, in denen Milliardenbeträge durch Merchandising, Ticketverkäufe und Übertragungsrechte erwirtschaftet werden. Ein italienischer Fußballverbandsfunktionär brachte diese ökonomische Dimension nach dem Tod eines Polizisten bei Ausschreitungen 2007 in geradezu bemerkenswerter Aufrichtigkeit auf den Punkt: »Das Spektakel muss weitergehen, es handelt sich um einen der wichtigsten Industriezweige Italiens, eine Industrie, welche die von ihr hervorgerufenen Kosten zahlt. Die Toten des Fußballsystems zählen leider zu diesem grandiosen Spiel dazu, das die Ordnungskräfte noch nicht zu kontrollieren in der Lage sind«. Diese Entwicklung wird innerhalb der existierenden Produktionsweise unumkehrbar sein, und die Zuschreibungen, mit denen die Anhänger ihren Klub von anderen unterscheiden, stellen für das Durchschauen dieses Verblendungszusammenhangs eher eine Schranke dar. Es ist trotz aller nicht wegzuredender Unterschiede in Geschichte und Gegenwart letztlich egal, ob man dem FC Bayern München, Celtic Glasgow, dem FC St. Pauli oder AS Livorno zujubelt – die als Klubs bezeichneten Unternehmen unterscheiden sich vor allem in ihrer Kapitalkraft. Die grundlegenden Mechanismen sind die gleichen, trotz aller ideologischen Überhöhungen, die in der Rede von »den Kleinen«, von Bonzen- und Arbeitervereinen oder Kiezklubs ihren Ausdruck finden. Firmen müssen zur finanziellen Unterstützung als sogenannte strategische Partner gewonnen werden, Spieler werden als Waren gehandelt, vernutzt und, wenn möglich, mit Profit weiterverscherbelt.

 

Die dressierten Spieler, die sich wie gut geölte Maschinen über den Platz schieben, sind lediglich Projektionsflächen für unerfüllte Träume der Lohnabhängigen und stehen für ein Aufstiegsversprechen, das sich für die allermeisten niemals realisieren ließ und lässt. Die Passivität des Konsumenten findet ihren deutlichsten Ausdruck vor dem Fernseher und in der Verehrung des Stars. Aber auch der Zuschauer im Stadion verfolgt das Geschehen auf dem Rasen letztlich rein passiv. Er wedelt mit der im Fanshop erworbenen Fahne, nutzt euphorisch die ihm zur Verfügung gestellte Klatschpappe und verfällt in helle Verzückung, wenn Ribéry, Balotelli oder auch Mattuschka eines ihrer Kunststückchen vollbringen. Für einige Momente können sie die alltägliche Misere vergessen machen, allerdings unter Ausblendung aller Klassengegensätze. Wüste Beschimpfungen von Spielern, die nicht die erwartete Leistung bringen, und gellende Pfeifkonzerte gegenüber dem Team, wenn dieses nicht wie gewünscht spurt, dienen als Kompensation für die nicht nur am Arbeitsplatz erlittene Erniedrigung. Die Jubelstürme, die ausbrechen, wenn das Team gewinnt, sorgen auf der anderen Seite dafür, dass man sich wenigstens für kurze Zeit als Gewinner fühlen darf – als Sieger eines von der Mannschaft stellvertretend ausgefochtenen Kampfes. Das falsche Wir-Gefühl zeigt sich am krassesten bei Fußballweltmeisterschaften, bei denen sich die Zuschauer hemmungslos dem Phantasma der Zugehörigkeit zu einer Nation hingeben dürfen. Wie Guy Debord schrieb: »Was die Zuschauer miteinander verbindet, ist nur ein irreversibles Verhältnis zum Zentrum selbst, das ihre Vereinzelung aufrechterhält. Das Spektakel vereinigt das Getrennte, aber nur als Getrenntes. Die Entfremdung des Zuschauers zugunsten des angeschauten Objekts (…) drückt sich so aus: je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er; je mehr er akzeptiert, sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen, desto weniger versteht er seine eigene Existenz und seine eigene Begierde.«58

 

Die Begierde nach disponibler Zeit, also nach Zeit zur freien Entfaltung jenseits der Arbeit, führt aber nicht zur erhofften Freiheit, sondern in eine durch Warenproduktion und Zwang geprägte Freizeit, die nicht unwesentlich vom organisierten Fußballsport ausgefüllt wird. Selbstverständlich geschieht dies nicht völlig ungebrochen, denn »eine Gesellschaft, die ihre tragenden Antagonismen ungemindert reproduziert, kann die in ihr lebenden Menschen nicht völlig integrieren. Ihre realen Bedürfnisse und Interessen weisen noch immer zu viel Substanz auf, um die totale Erfassung zu erlauben.«59 Es ist interessant, dass die heute vielleicht rebellischste Jugendbewegung genau dort entstanden ist, wo viele es am wenigsten vermutet hätten – in den mittlerweile häufig als Arenen bezeichneten Fußballstadien Europas und Nordafrikas. Die Übergänge zwischen Spektakel und Rebellion sind fließend, als Theater mit imposanten Zuschauerrängen bieten die Stadien eine perfekte Bühne für die Inszenierung einer Rebellion. Die britischen Hooligans spuckten den kapitalistischen Modernisierern noch gehörig in die Suppe, als diese anfingen, den Fußball kulturindustriell aufzubereiten. Mit einem eigenen Spektakel der Regelverletzung und Gewalt reagierten sie auf eine voranschreitende Entfremdung, die nun im Begriff war, auch den Bereich der Freizeit komplett zu erfassen. Die Naivität der meisten Fans gegenüber den aufkommenden Stars war ihnen zwar fremd – mehrheitlich waren die Hooligans jedoch viel zu konservativ, um die Grundlagen der spätkapitalistischen Gesellschaft ernsthaft infrage zu stellen.

 

Weniger klar ist dies bei der heute die allermeisten europäischen und nordafrikanischen Kurven dominierenden Ultra-Bewegung. Auch sie rebelliert gegen eine zunehmende Kommerzialisierung der Fußballwelt – allerdings in einer historisch neuen Phase. Die gegenwärtige kapitalistische Dynamik produziert eine ungeheure Menge an überschüssigen Arbeitskräften. In eigentümlicher Weise spiegelt sich diese Tendenz der Produktionsweise auch in den Fußballstadien. Das Fußballspektakel nimmt seinen Lauf, scheint aber immer weniger auf die Beteiligung derer angewiesen zu sein, die für sich in Anspruch nehmen, elementarer Bestandteil des Sports zu sein. Kritische und weniger zahlungskräftige Teile werden tendenziell ausgeschlossen und die Passivität des Zuschauers, der sich nicht völlig affirmativ dem Gegebenen unterwerfen will, durch allerlei Repressionsmaßnahmen erpresst. Den davon betroffenen Fans schwant schon längst, dass das Spektakel auch ohne sie wunderbar weitergehen wird, weil es weniger denn je ihre Anwesenheit braucht. Die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft nach Katar ist sicherlich der deutlichste Ausdruck einer Entwicklung, die nicht aufzuhalten sein wird.

 

Wie kaum eine andere Kraft verstehen es vor allem die nordafrikanischen Ultras aber, verschiedene Teile des Proletariats in einer eher rebellischen Perspektive zu vereinen – ein nicht gering zu schätzender Fakt, auch wenn es sich ganz überwiegend um Männer handelt. Aus ihren objektiv lausigen Zukunftsaussichten folgte bisher jedoch keine subjektive Konsequenz; sie verharren bei einer speziellen Kritik des Konsums, der als besonders drastisch empfundenen Auswüchse der Kapitalwelt sowie – ganz deutlich – der ausufernden Polizeigewalt. Damit liegen sie allerdings voll im Trend der heutigen konfusen Unruhen, die sich bisher nicht gegen das Lohnsystem richten. Obwohl die Ultras sicherlich die erste Massenbewegung von Fans sind, die eine Kritik am Fußballspektakel und einer völlig von der Warenform bestimmten Freizeit zumindest ansatzweise formulieren60, ist diese Kritik begrenzt und in diesem Rahmen auch zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Ihr verbindendes Hobby, der gemeinsame Besuch eines Fußballspiels, ist auf Gedeih und Verderb genau an jene Industrie gebunden, deren Ausuferungen sie so vehement kritisieren. Und so lavieren sie hin und her zwischen radikaler Ablehnung und politischer Vermittlung, zwischen antispektakulärem Stachel und spektakulärem Anhängsel. Wenn sie es in Zukunft weiterhin ablehnen, die ihnen zugedachte Rolle als befriedeter, singender und hüpfender Teil der Fußballindustrie wahrzunehmen, vielleicht sogar einschließlich des Zugeständnisses einer quasi gewerkschaftlichen Interessenvertretung für den politisch mündigen und weniger zahlungskräftigen Teil der Fanszene, werden sie eher über kurz als lang komplett aus den Stadien verdrängt – auch wenn ein letztes Zucken in Form von ausufernder Randale auf den Anfahrtswegen und mächtiger Feuer- und Rauchspektakel in den Stadien noch deutlich zu vernehmen sein sollte.

 

Die Wut der Ultras wird sich allerdings nicht in Luft auflösen und ihre zu beobachtende Beteiligung an den gegenwärtigen Unruhen ist vielleicht bereits ein Indiz dafür, dass hinter der meist spielerisch ausgetragenen Rebellion auf den Zuschauerrängen mehr stecken könnte, als es der zelebrierte Gemeinschaftskult testosterongesteuerter Männer im ersten Moment vermuten lässt. Deutlich war jedenfalls, dass das Gerede von »Mein Verein, meine Stadt und meine Gruppe« in den Momenten des Aufstandes in den Hintergrund getreten ist. Wie ein -Ultra meinte: »Wir haben uns keine besondere Rolle zugeschrieben. So wie alle hier beteiligen wir uns am Widerstand. (…) Aber eins müsst ihr wissen: Ich habe mir vom ersten Tag an nie etwas Schwarz-Weißes angezogen und zwar aus folgendem Grund: Alle Menschen hier haben ihre Uniformen abgelegt. (…) Trikots und Farben haben keine Bedeutung.«61 Bisher haben sich die Ultras in die diversen Bewegungen eingefügt, ohne einen Führungsanspruch zu reklamieren. Dabei ist es sicherlich kein Zufall, dass genau die Gruppen eine besondere Rolle spielten, deren Klassenzusammensetzung und politische Haltung tendenziell dem Charakter der jeweiligen Revolte entsprachen. Es deutet zudem einiges darauf hin, dass Ultra-Gruppen, die sich aus verschiedenen Teilen der Klasse zusammensetzen, tendenziell progressiver agieren als solche, die eher homogen aus klassischen Arbeitermilieus stammen. Ob sie ihre Stärken weiterhin in soziale Aufstände einbringen – dafür spricht sicherlich ihre große Sensibilität gegenüber zunehmender Polizeigewalt sowie ein ausgeprägtes Solidaritätsgefühl mit anderen davon Betroffenen – und der Versuchung widerstehen werden, wie in der Ukraine Polizeiaufgaben zu übernehmen, für die sie andererseits aufgrund ihres Erfahrungsschatzes prädestiniert erscheinen, wird nicht zuletzt von der Dynamik genau dieser Bewegungen abhängen. Die »Verwirklichung der aktiven, direkten Mitteilung, wo die Spezialisierung, die Hierarchie und die Trennung aufhören«62, wird dabei der Gradmesser sein; die Delegation bestimmter Bereiche an (vermeintliche) Spezialisten und die Akzeptanz einer militanten Schutzmacht hingegen verlängern nur die herrschende Passivität und Arbeitsteilung. Gleichzeitig stellt der ungebrochene Glaube ans Kollektiv seinerseits eine Schranke für eine emanzipierte »Einheit des Vielen ohne Zwang« (Adorno) dar. Ein Kollektivismus, der sich nicht der Befreiung des Individuums verpflichtet sieht, sondern das Verschwinden des Einzelnen in der Masse verfestigt, führt stets in die affirmative Revolte, die ein blinder Aktionismus nur mäßig zu kaschieren vermag. Nirgends hat sich das deutlicher als in der Ukraine gezeigt, wo die Alltagsflucht des Fan-Daseins nahtlos in den Irrsinn des Nationalismus überging. Vermutlich hatten Ultras in den jüngeren Unruhen nicht zuletzt deshalb ein solches Gewicht, weil ihr Weltbild und ihr Verhalten genauso zwischen Subversion und Konformismus changieren, wie es für diese Unruhen gilt.

 

Die Ultras befinden sich im Spannungsverhältnis zwischen Eigentor und Aufstand: In der Zukunft wird sich zeigen, ob sie ihre Identität als Fußballfans und Liebhaber ihrer Stadt und die damit verbundenen Freund-/Feind-Schemata auch längerfristig werden überwinden können. Da diese Identität vollständig auf einem alternativen Lifestyle aufbaut – ideologisch legitimiert durch die sagenumwobenen Ultra-Werte und habituell von einem Hauch der Subversion umgeben –, würde das allerdings kaum weniger bedeuten als die Aufhebung genau dieses Ultra-Daseins: Spielabbruch durch Platzsturm und Beginn der dritten Halbzeit.

 

Ralf Heck

  • 1. James M. Dorsey im Interview mit dem Südwind Magazin 5 (2013).
  • 2. Es ist allerdings mehr als verwunderlich, dass über die Bedeutung des Gemüsegartens für die Überwindung des Kapitalismus weithin ernsthaft debattiert wird (Commons-Ideologie), während eine kritische Auseinandersetzung über die Rolle von Fußballfans in den derzeitigen Aufständen, zumindest im deutschsprachigen Raum, noch in den Kinderschuhen steckt.
  • 3. Für weitere Ausführungen siehe: Mike Davis, Planet der Slums, Berlin/Hamburg 2006; Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, Reflektionen über das Surplus-Proletariat, in diesem Heft.
  • 4. Im Frühmittelalter wurde in England eine Vorform des heutigen Fußballspiels praktiziert, bei der zwei Dörfer versuchten, einen Ball in das gegnerische Stadttor zu befördern. Das »Spielfeld« lag immer zwischen zwei Dörfern, selbst wenn diese mehrere Kilometer auseinanderlagen.
  • 5. Dietrich Schulze-Marmeling, Fußball. Zur Geschichte eines globalen Sports, Göttingen 2000, 38.
  • 6. Eric Hobsbawm, Industrie und Empire II, Frankfurt am Main 1969, 129.
  • 7. Vgl. John Clarke, Football and Working Class Fans: Tradition and Change, in: Roger Ingham u.a. (Hg.), »Football Hooliganism«. The Wider Context, London 1978.
  • 8. Nicht alle damaligen Hooligans waren Skinheads; die rebellischen Fans des FC Chelsea zum Beispiel waren sehr darauf bedacht, sich davon abzuheben und pflegten ein anderes Image: »smart and violent«.
  • 9. Cass Pennant, Congratulations You have just met the ICF: Die Geschichte der West Ham Intercity Firm, Hamburg 2006, 21.
  • 10. B.M.BLOB, Zehn Tage die England veränderten, Stuttgart/Berlin 1986, 41.
  • 11. Dies sind Gruppen von Schlägern, die sich auf irgendwelchen Äckern fernab von Fußballplätzen verabreden, um sich dort gegenseitig die Fresse einzuhauen. So dumm wir dies finden, so wenig gibt es dagegen allerdings einzuwenden.
  • 12. Vgl. Peter Marsh, Life and Careers on the Soccer Terraces, in: Ingham u.a. (Hg.), »Football Hooliganism«.
  • 13. Vgl. Nicholas Allt, The Boys from the Mersey: Unterwegs mit der Annie Road End Crew Liverpool, Quickborn 2007.
  • 14. Genannt seien an dieser Stelle Cockney Rejects, Cock Sparrer, The Business und die wohl bekannteste, die es mit einigen Songs sogar in die britischen Top 10 schaffte: die Streetpunk-Band Sham 69.
  • 15. Eine Textzeile von The Libertines trifft den Casual Style wohl am besten: »Poor kids dressing like they’re rich«. Damals begannen Hooligans auszusehen wie junge Männer auf dem Weg zu einem Tennismatch, mit Shirts von Lacoste und Sergio Tacchini, den Adidas-Turnschuhen »Samba« und ihren an David Bowie erinnernden Haarschnitten.
  • 16. »Binnen dreißig Jahren von Hooliganschlägereien (…) waren relativ wenige Todesfälle und schwere Verletzungen in direkter Folge dieser Gewalt zu verzeichnen. Die Todesopfer der Katastrophe im Heysel-Stadion waren zwar das Resultat eines Angriffs von Hooligans, allerdings kam es dazu durch den Einsturz einer Stützmauer und nicht, weil sie erschlagen oder erstochen worden wären.« (John H. Kerr, Understanding Soccer Hooliganism, Berkshire 1994, 108.)
  • 17. Giovanni Francesio, TIFARE CONTRO: Eine Geschichte der italienischen Ultras, Freital 2010, 30.
    Auch der italienische Soziologe Antonio Roversi betont: »Es lohnt sich zu vergegenwärtigen, dass die Bezeichnung ›Ultra‹ im damaligen Italien vor allem für Linksextremisten verwendet wurde« (Antonio Roversi, The Birth of the ›Ultras‹, in: Richard Giulianotti/John Williams (Hg.), Game without Frontiers: Football, Identity and Modernity, Aldershot 1994, 368.)
  • 18. Den Anfang machten die Fossa dei Leoni (1968) vom AC Mailand. Die Ultras Tito Cuchiaroni (Sampdoria Genua), Ultras (FC Turin), Commandos Tigre, die (faschistisch gesinnten) Boys S.A.N. (Inter Mailand), Brigate Gialloblu Verona, Ultras Granata Turin, Commando Ultra (SSC Neapel) und viele weitere folgten.
  • 19. Alessandro Dal Lago/Rocco De Biasi, Italian Football Fans, Culture and Organization, in: Richard Giulianotti (Hg.), Football, Violence and Social Identity, London 1994, 87.
  • 20. Ebenda, 81ff.
  • 21. Nanni Balestrini/Primo Moroni, Die goldene Horde, Berlin 2002, 423ff. und 443.
  • 22. Kai Tippmann, Die Hände der Ultras im Geschäft mit dem Fussball, online abrufbar unter: altravita.com.
  • 23. Es gab sogar einige Frauen in Führungspositionen, allerdings herrschte überwiegend eine geschlechtliche Arbeitsteilung: Frauen kümmerten sich eher um die Finanzen der Gruppen, Männer führten die Verhandlungen mit den Klubverantwortlichen und beteiligten sich an den Kämpfen
  • 24. Dal Lago/De Biasi, Italian Football Fans, 83.
  • 25. »In England schaut man sich Spieler genau an, wenn sie kommen. Sie müssen Lebenslauf und Stammbaum vorzeigen (…) Bei uns bekommen wir einen Opti Poba, der vorher Bananen gegessen hat und dann plötzlich in der ersten Mannschaft von Lazio spielt«, so der derzeitige italienische Fußballverbandschef Tavecchio – nur eins von vielen Beispielen.
  • 26. Vgl. Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, Arabischer Frühling im Herbst des Kapitals, Kosmoprolet 3 (2011), 16ff.
  • 27. Vgl. dies. (Hg.), Vier Jahre Wirren in Ägypten, Berlin 2015.
  • 28. Den Anfang machten 1995 die African Winners des Vereins Africa in Tunis, die zahlreichen anderen gründeten sich auch dort erst nach der Jahrtausendwende.
  • 29. James Montague, Egypt‘s Politicised Football Hooligans, 2012, online abrufbar unter: aljazeera.com.
  • 30. Connor T. Jerzak, Ultras in Egypt: State, Revolution, and the Power of Public Space, Interface 2 (2013), 245.
  • 31. Ebenda, 243.
  • 32. Es ist nicht ganz klar, ob die Zamalek Girls eine Untergruppe darstellen oder eine eigenständige Ultra-Vereinigung sind. Vgl. hierzu auch: Paul Amar, The Street, the Sponge and the Ultra in Egypt, 2014, online abrufbar unter: projectcontentiouspolitics.files.wordpress.com
  • 33. Philipp Natzke/Georg Maier, Umbruch in Ägypten – Ein Blick über den Nil, Blickfang Ultra 20 (2011).
  • 34. Wahrscheinlich etwas blumig beschreibt dies ein Ultra so: »Es gibt bei uns keine Führer, aber Einzelne, die Treffen leiten und den jüngeren Mitglieder Orientierung geben. Wir haben keine Hierarchie, die Organisatoren sind einfach Leute mit Verstand.« (Maha El-Nabawi, Beyond Football: The Creative Transformation of Egypt‘s Ultras, Egypt Independent, 13.11.2012.
  • 35. Vgl. Mohamed Elgohari, The Ultras Political Role and the State in Egypt, 2013, online abrufbar unter: fordifp.net
  • 36. Ashraf el-Sherif, The Ultras‘ Politics of Fun Confront Tyranny, 2012, online abrufbar unter: jadaliyya.com.
  • 37. Wenige Tage vor dem Aufstand skandierten Ultras beim Basketball-Match zwischen Al-Itihad und Al-Jazira allerdings schon laut »Tunesien, Tunesien, Tunesien«, während sie sich mit den Sicherheitskräften kloppten; die Ultras Ahlawy hissten bei einem Spiel die tunesische Flagge in ihrer Kurve.
  • 38. Allerdings sollte man ihre Rolle auch nicht überbewerten. Zum einen gingen hunderttausende Schüler, Studentinnen, Marginalisierte aus den Slums und viele andere auf die Straße, zum anderen dürften für den vom Militär erzwungenen Rücktritt Mubaraks die Streikdrohungen der Arbeiter am Suez-Kanal mindestens genau so wichtig gewesen sein wie die Straßenschlachten.
  • 39. Dalia Abdelhameed Ibraheem legt in einer Arbeit am Beispiel der Ultras Ahlawy dar, dass eine weitere Klammer für sie der positive Bezug auf die ägyptische Nation darstellt, da sie sich vollkommen affirmativ mit der »glorreichen nationalen« Vergangenheit ihres Vereins identifizieren. Die unkritische Haltung zur Nation war allerdings ein allgemeines Problem der Revoltierenden in Ägypten. Unseres Wissens nehmen die Ultras von Zamalek keine andere Haltung zur Nation ein als die Ultras Ahlawy, obwohl ihr Verein als der der Ausländer und englischen Kolonisatoren gilt. (Vgl. Dalia Abdelhameed Ibraheem, Ultras Ahlawy and the Spectacle: Subjects, Resistance and Organized Football Fandom in Egypt, 2015, online abrufbar unter: dar.aucegypt.edu
  • 40. Die Ultras Nahdawy stellen eine Ausnahme dar. Sie eint eine klare politische Haltung: Sie verorten sich auf Seiten der Muslimbruderschaft und des abgesetzten Präsidenten Mursi.
  • 41. Laut Deutschlandfunk vom 21.9.2014 folgten 174.000 Menschen dem Demonstrationsaufruf.
  • 42. »Wir sind entschieden gegen Sexismus. Das Recht von Frauen, ihren Verein zu unterstützten, ist für uns genauo selbstverständlich wie das von Männern. (…) Deshalb akzeptieren wir keinerlei diskriminierende Sprache, die sich gegen Frauen, Schwule und Transsexuelle richtet. (…) Wir verstehen sportliche Aktivitäten als eine Gelegenheit, eine geographisch transversale Solidarität zu stärken – gegen die selbstisolierende Politik des Nationalismus.« (Aus der Selbsterklärung von Vamos Bien, vollständig nachzulesen unter: rebelultras.com.)
  • 43. Dies sind die sich als unpolitisch verstehenden Genç Fenerbahçeliler (Fenerbahçe) und in geringerem Maße ultrAslan (Galatasaray), in deren Kurven allerdings rassistische und homophobe Sprechchöre keine Seltenheit sind. Aber auch Schals und Trikots von Trabzonspor und vielen anderen Klubs aus den unteren Ligen waren zu sehen.
  • 44. Ralf Heck, Çarşı – Wir sind gegen Alles, Blickfang Ultra 29 (2013), online abrufbar unter: footballuprising.blogsport.eu.
  • 45. Deniz Yücel, Taksim ist überall. Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei, Hamburg 2014.
  • 46. Die neue Gruppe wendete sich gegen das Bild, dass die Beşiktaş-Tribünen links wären: »Wir sind rechts, nationalistisch. Viele Menschen unter uns beten oder fasten. Dass Çarşı bei den Gezi-Park-Protesten politisch so in den Vordergrund gedrängt ist, hat uns gestört (…) Beşiktaş ist etwas, das über der Politik steht.«
  • 47. Vgl. genauer: Ralf Heck, Die Hippie-Hools vom Gezi-Park, Blickfang Ultra 34 (2014), online abrufbar unter: footballuprising.blogsport.eu.
  • 48. Keinesfalls soll hier der russische Nationalismus samt seiner Expansionsgelüste verharmlost werden. Wir lehnen ihn genauso strikt ab wie den ukrainischen, aber er ist an dieser Stelle nicht unser Thema.
  • 49. Benannt nach Stepan Bandera, ukrainischer Nationalist, Antisemit und Nazi-Kollaborateur.
  • 50. Als das Stadion des Vereins bis 2018 für Länderspiele gesperrt wurde, weil auf den Zuschauerrängen nationalistische Symbole gezeigt wurden, erklärte der Verein, dass er fortan auswärts in Rot-Schwarz (den Farben der Faschisten) auflaufen werde: »Unser Club wird sich niemals und unter keinen Umständen von dem lossagen, worauf unsere Großväter und Väter stolz waren. Ehre den Helden.«
  • 51. Vgl. Olaf Sundermeyer, Tor zum Osten: Besuch in einer wilden Fußballwelt, Göttingen 2012.
  • 52. Diese Gruppierung ist allerdings mit ihren maximal 150 Anhängern sehr klein.
  • 53. Die größte Gefahr lauert in der Provinz, die tageszeitung, 27.1.2014.
  • 54. Vgl. David McArdle/Manuel Veth, Ukrainian Ultras and the Unorthodox Revolution, online abrufbar unter: futbolgrad.com.
  • 55. Revolution in der Ukraine: Interview mit Ultras Dynamo Kiew, Blickfang Ultra 20 (2014).
  • 56. So auch die Ultras von Arsenal Kiew. Vgl. Daniel Ryser/Philipp Natzke, Krieger in coolen Turnschuhen, WOZ, 2.10.2014.
  • 57. Gerhard Vinnai, Fußballsport als Ideologie, Bremen 2006, online abrufbar unter: psydok.sulb.uni-saarland.de.
  • 58. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, 26.
  • 59. Gerhard Vinnai, Fußballsport als Ideologie, Bremen 2006, 105.
  • 60. Es gibt selbstverständlich auch die sogenannten kritischen Fans, auch die (britische) Fanzine-Szene war sehr wichtig, aber die Ultras sind die ersten, die in der Lage sind, eine gewisse Hegemonie in den Kurven herzustellen.
  • 61. Ralf Heck/James Steen/Bob Dilan, Die Hippie-Hools vom Gezi-Park (Radio-Feature 2015), online abrufbar unter: footballuprising.blogsport.eu.
  • 62. Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, 104ff.

 

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