Deutsche Gründlichkeit

Erstveröffentlicht: 
08.09.2015

Von David Klein. Ein Kommentar - Kommentare Flüchtlinge damals und heute. Erinnerungen an die deutsche Politik während des Zweiten Weltkriegs.

Lange schwieg Kanzlerin Merkel zur Flüchtlingsfrage. Die jährliche Fragestunde für Hauptstadtjournalisten in Berlin wurde um sechs Wochen verschoben, offiziell wegen der Griechenlandkrise. Ein Kommentator auf «zeit.de» vermutet jedoch, dass die «Kanzlerette» wohl eher auf die neusten Umfrageergebnisse wartete, um zu wissen, «in welchen Wind sie ihr Fähnchen hängen muss.» Als die Landesmutter am 31. August schliesslich vor die Mikros im Saal der Bundespressekonferenz trat, ergoss sich der gewohnte Merkel-Mix aus medienwirksamen Worthülsen, Durchhalteparolen, deren Konsequenzen ausschliesslich die Bürger zu tragen haben sowie Ermahnungen an EU-Mitgliedstaaten, die Merkels Auffassung nicht teilen, in den Äther.

 

Dass die Kanzlerin bezüglich der Flüchtlingskrise ausgerechnet eine altbekannte deutsche Tugend bemühte, hinterliess einen schalen Nachgeschmack. Mit «deutscher Gründlichkeit» wäre der Krise nicht beizukommen, liess die Kanzlerin verlauten, «ganz Europa muss sich bewegen.» Wie es sich anfühlt, wenn «ganz Europa» sich «bewegt», sollte der «Wagner-Kanzlerin» («Bild»), die alljährlich auf den grünen Hügel zu Bayreuth pilgert, um verzückt der Musik des bekennenden Antisemiten Richard Wagner zu lauschen, eigentlich geläufig sein. Denn vor nicht allzu langer Zeit stand Europa schon einmal vor der Herausforderung, Menschenmassen durch den Subkontinent zu «bewegen». Eine Aufgabe, die einer von Merkels Vorgängern, ein gewisser Adolf Hitler (auch er war bei Wagners ein gern gesehener Gast und soll beim Musikgenuss sogar ein Tränchen verdrückt haben) mit Bravour und einem gerüttelten Mass an «deutscher Gründlichkeit» meisterte.

 

«Passagiere dritter Klasse»

 

Es handelte sich damals jedoch nicht um Flüchtlinge, sondern um sogenannte «Volksschädlinge», wie Juden im Nazijargon genannt wurden. Ohne Computer, Mobiltelefone, Satelliten oder sonstiges High-Tech, lediglich mithilfe von Papier und Bleistift, vollbrachten die Nazis eine logistische Meisterleistung, die bis heute Ihresgleichen sucht. Selbstverständlich wurde jeder Aspekt dieser Grossaktion mit «deutscher Gründlichkeit» dokumentiert, registriert und archiviert. «Schlepper» waren keine vonnöten, diese Aufgabe übernahmen staatliche Eisenbahnen aus allen Teilen Europas.

 

Mit christlich-antijüdischer Hingabe prügelten die Beamten der jeweiligen Staatsbetriebe ihre «Passagiere dritter Klasse» in fensterlose Viehwaggons, allerdings nicht ohne die wehrlosen Männer, Frauen und Kinder vorher misshandelt und ausgeraubt zu haben. Derartige «Entgleisungen» waren vermutlich der Tatsache geschuldet, dass dem tausendjährigen Reich jeder deportierte Jude gerade mal zwei Reichspfennig pro Kilometer wert war. Wohl auch deshalb hat die französische SNCF die Bezahlung selbst nach der «Befreiung» weiter eingefordert.

 

Am anderen Ende der Menschlichkeitsskala

 

Von «spontanen Aktionen» mit denen die deutsche Bevölkerung den am Bahnhof München zusammengetriebenen Juden mit Essen, Spielsachen oder Hygieneartikeln ihr «Mitgefühl» zum Ausdruck gebracht hätte, ist ebenso wenig bekannt, wie dass die Juden, allesamt deutsche Staatsbürger, sich ihren Peinigern, unter denen sich auch ehemalige Freunde, Bekannte oder Geschäftspartner befanden, durch Stürmen der Züge oder Prügeleien mit der Waffen-SS widersetzt hätten. Hingegen wurde beobachtet, dass wer auch immer es schaffte, sich abzusondern, von den Bahnangestellten denunziert wurde. Auch wurde den «umgesiedelten» Juden keine Sozialhilfe in Aussicht gestellt. Ganz im Gegenteil verlor gemäss der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 jeder Jude «mit der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland» die deutsche Staatsangehörigkeit, sein gesamtes Vermögen fiel «beim Überschreiten der Grenze» an den deutschen Staat, wobei auch das Vernichtungslager Auschwitz als «Ausland im Sinne der 11. Verordnung» eingestuft wurde.

 

Zugegebenermassen war für Merkels Amtskollegen Hitler die «Menschenwürdigkeit» des durch ganz Europa beförderten Transportguts nicht von Belang, was den reibungslosen Ablauf des Vernichtungsfeldzugs gegen die europäischen Juden erheblich erleichterte. Auch mit der «Integration» der «fremdvölkischen Personen» musste der Führer sich nicht herumschlagen: Die «zur Abwanderung gebrachten» Juden wurden bei ihrer Ankunft im «Ausland» an Ort und Stelle umgebracht.

 

Ob sich die europäische Flüchtlingskatastrophe als «deutsches Sommermärchen» eignet, bleibt abzuwarten.

Zeige Kommentare: ausgeklappt | moderiert

lesen schlägt das Herz jedes wirklichen Anti-Deutschen höher.

Ohne Computer, Mobiltelefone, Satelliten oder sonstiges High-Tech, lediglich mithilfe von Papier und Bleistift, vollbrachten die Nazis eine logistische Meisterleistung, die bis heute Ihresgleichen sucht.

Die Nazis hatten Computer, allerdings mechanische. Ohne Lochkarten wäre der Holocaust nicht möglich gewesen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Lochkarte

diese "mechanischen Computer", ich rechne da jetzt einfach mal das ENIGMA mit rein, waren wohl fast nur dem Militär vorbehalten. Gut, unter Hitler war Deutschland ja ein einziges Militär ...

Aber an den einzelnen Stätten des stattgefundenen Holocaust ging es noch penibel mit Bleistift und Schreibmaschine zu. Zumindest, was die Verwaltung anging.

Ich lasse mich gerne eines besseren belehren, aber wo bitteschön gibt es überlieferte Lochkarten mit irgendeinem Bezug zum Holocaust ? Buchenwald, Auschwitz, Dachau ... gab es da je irgendein "Rechenzentrum" ?

 

Sollte mich schon arg überraschen !

eigentlich war Conrad Zuse der ... also wirklich *der* Erfinder des heutigen Computers. Lochkarten gabs schon länger, aber was die mit dem Holocaust zu tun haben sollen, will sich mir nicht recht erschliessen.

Es mag überraschend sein (und die noch immer weit verbreitete Unkenntnis finde ich gefährlich), aber damals standen in nahezu jedem Büro in Deutschland und in jedem KZ Hollerith-Maschinen: http://www.ibmandtheholocaust.com

 

Die Volkszählung 1933 basierte auf diesen mechanischen Computern (eigentlich waren es mechanische Datenbanken). Damals wurden Herkunft und Religionszugehörigkeit abgefragt, so dass eine Liste aller "Ostjuden" erstellt werden konnte — den ersten Opfern der antisemitischen Vernichtungsmaschinerie. Mit der Volkszählung 1939 wurden dann ganze Stammbäume erstellt, die für die systematische Vernichtung der Jüdinnen und Juden unabdingbar waren:
https://de.wikipedia.org/wiki/Volkszählung_im_Deutschen_Reich_1939

 

Der CCC wies in einem Statement 2005 auf den Zusammenhang hin:

Auch angesichts der Tatsache, daß die Logistik des Holocausts durch Hollerith-Lochkartenmaschinen vorangetrieben wurde...

Quelle: http://www.ccc.de/de/updates/2005/unvereinbarkeitserklaerung

man lernt wohl nie aus.

 

Habe schon einige Bücher über Holocaust, Konzentrationslager, SS-Staat usw gelesen. Bin da wirklich noch nie über Hollerith & Co gestolpert. Mag sein, dass das Augenmerk der Autoren eher auf die Bestialität statt einer trocken technischen Seite gelegen hat.

Die Gefährlichkeit der Unkenntnis über die damalige EDV sehe ich jetzt nicht so akut, aber ich hab mal wieder was zum reinlesen. Insofern erstmal ein Dankeschön.

Ich sehe die Gefährlichkeit nicht so sehr bei in dieser Sache unwissenden linksunten-LeserInnen, sondern bei ignoranten Autoren wie David Klein. Ohne eine Analyse der Bedeutung der damaligen technischen Möglichkeiten für den Holocaust dürfte beispielsweise die Bewertung der NSA-Datensammlung anders ausfallen. Die Nazis haben nämlich nicht nur auf ihre eigenen Datenbestände zugegriffen, sondern benutzten zum Beispiel die akkuraten Daten, die vor dem Einmarsch der Wehrmacht in den Niederlanden mittels Hollerith-Maschinen erhoben wurden, für eine schnelle und gründliche Vernichtung der niederländischen Jüdinnen und Juden.

Wahnsinn, wie perfide perfektionistisch da vorgegangen wurde.

 

hab einen guten Link gefunden :

 

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-18479607.html

 

Da gewinnt das Nachdenken über den Zensus von vor paar Jahren ganz neues Gewicht. Mir sträuben sich die Nackenhaare !

 

Nochmals Danke für den wertvollen Input.