Anti-WTO-Demo: Bericht und Analyse

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Dieser Text ist ein subjektiver Bericht zur Anti-WTO-Demo, die am 28. November 2009 in Genf stattfand. Diese sollte nicht vergessen werden, mehrere Aspekte laden nämlich zum Nachdenken ein.

 

Um halb zwei startete der zwei- bis dreihundert Leute starke Studentenblock an der Uni Mail. Unterstützt von der guten Laune der Clown Army waren Stress, Müdigkeit und Kater schnell vergessen. Unser organisatorischer Trumpf blieb der gleiche wie bis anhin: radikale Improvisation. Es wusste nämlich niemand genau, wie wir denn an den Place Neuve gelangen würden. Durch den Flohmarkt, meinten die einen, schliesslich sei das was sehr Proletarisches, auf den Tramgeleisen wieder andere, das ginge sicher am einfachsten. Die Vernunft siegte: Eine Demo durch den Markt wäre sinnlos gewesen, den öffentlichen Verkehr blockieren ziemlich bescheuert. Wir machten es so wie es sich gehört: Wir nahmen uns die Strasse!

 

Der Plan funktionierte perfekt. Keine Bullen weit und breit, keine genervten AutofahrerInnen, einfach eine kleine, radikale und ziemlich charmante Spontandemo, die wie geplant den Place Neuve erreichte. Dort angekommen fielen mir gleich drei Gestalten im trockenen Teich auf. Der eine hatte die Hasskappe schon um 13 Uhr 45 auf, der zweite versuchte verzweifelt, sich elegant zu vermummen, das alles währenddem der dritte fröhlich am Handy plauderte. Auch die unerfahrensten rochen den Bullengestank.

 

Der im Bullencommuniqué zitierte, 200-Leute starke Block war beim besten Willen nicht auszumachen. Nicht, dass niemand vermummt war, ganz im Gegenteil, aber der Mythos vom homogenen Block wurde von der Realität wohl noch selten so gekonnt ad absurdum geführt. Es gab nämlich, je nach Stellungnahmen, zwei oder drei Blöcke, die ganz offensichtlich alles andere als von einem ZK koordiniert wurden. Im Bankenquartier Bel-Air konnte man kaum hinschauen, so schnell waren alle Scheiben kaputt. Recht haben sie schon, die Bullen, das wirft Fragen auf: Wie schafften es apolitische, testosterongesteuerte Riot-Kiddies aus den Vorstädten derart „effiziente Arbeit“ zu leisten? Wieso schwafeln die Bullen gleichzeitig von apolitischen Idioten und professioneller Organisation? Was lief schief im Wahrheitsministerium?

 

Nachdem ich am Montag im Radio hörte, dass die GeschäftsbesitzerInnen entschädigt würden, begriff ich natürlich sofort, wieso die Bullen nicht eingriffen. Einerseits hätte Tränengas im Einkaufsquartier den wirtschaftlichen Schaden noch vergrössert, andererseits wurde die kapitalistische Orthodoxie respektiert: Der Öffentlichkeit wird genommen, den Reichen gegeben. Denn, sind wir ehrlich, ein getrashter und geplünderter Schmuckladen kommt wohl teurer zu stehen als ein brennendes Auto. Und im Pâquis haben sie ja eh schon den Menschenhandel, die Kokainmafia und die alltägliche Gewalt, ein bisschen Tränengas mag die wohl kaum beeindrucken, müssen sie sich gesagt haben.

 

Am Gare routière verliess ich die Demo. Nein, liebe Polizei, falls sie mitgelesen haben, da sie glaubten, der Text stamme aus der Feder des Anführers des Schwarzen Blocks, haben sie sich leider getäuscht. Lesen sie lieber nicht weiter, ich habe nämlich wirklich langsam den Eindruck, sie glauben ihre eigenen Lügen. „Keine Verletzte“, diese kleine Phrase, wie eine Faust in die Fresse. Ihr habt sie alle gehört, geschätzte echt menschliche LeserInnen, die düsteren Geschichten, oder gar selber erlebt.

 

Vielleicht sollte man wirklich wiederholen, dass Gummischrot tatsächlich verletzen kann. Nicht alles, das das Wort „Gummi“ im Namen trägt, ist Spielzeug und/oder lustig. Auch Gummiknüppel schmerzen. Man braucht wohl kaum ein Prophet zu sein, um sagen zu können, dass die Pflastersteine von morgen schon dabei sind, in Richtung eurer Fressen zu fliegen. Und dass sie wohl von Leuten geworfen werden werden, die sowas nie zu tun planten.

 

Alles in allem ist es natürlich beängstigend, wenn nun plötzlich kriegsstrategische Demoanalysen auftauchen. Nur waren Demos für die Bullen schon immer Low Intensity Warfare, dass sich die Leute irgendwann anpassen würden – auch sprachlich –, war absehbar. Diese Demo könnte in mehrerer Hinsicht ein Paradigmenwechsel gewesen sein: Radikalisierung auf Seiten der DemonstrantInnen, Militarisierung auf Seiten der Polizei. Noch selten in der Schweiz waren polizeiliche Gewalt und Lügenpropaganda so dreist. Innerhalb der Demo waren nur wenige überrascht ob der jugendlichen Gewalt, mehrere ältere Leute äusserten Verständnis für die Frustrationen einer „Jugend ohne Perspektiven“. Auch das ist eher neu...