Politikforscher: Grüne und Linke bagatellisieren die autonome Szene

Erstveröffentlicht: 
10.06.2015

Der Politik- und Extremismusforscher Professor Eckhard Jesse (66) fordert im LVZ-Interview eine stärkere Polizeipräsenz in Leipzig und wirft Grünen und Linken eine Bagatellisierung des militanten Linksextremismus vor.

 

Leipzig. Seit Jahresbeginn erlebt Leipzig eine Serie von Gewaltausbrüchen, die sich gegen Polizei, Justiz und Ausländerbehörde richten. Wieso gegen die und nicht mehr wie früher gegen Neonazis?


Man will die Repräsentanten des Staates treffen. Das ist kein Phänomen des Jahres 2015, das beobachten wir schon seit einigen Jahren. In Sachsen ist Leipzig, speziell Connewitz, die Hochburg der Autonomen. Ein grundsätzlicher Wandel hat sich nicht vollzogen. Es vollzieht sich aber in der Tat ein Wandel insofern, als die sogenannten Anti-Deutschen schwächer geworden sind und die Anti-Imperialisten im Vordergrund stehen, die den Kapitalismus der USA ablehnen ...

 

... und die Gewalt als Mittel des politischen Kampfes betrachten?


Früher hieß es zu Recht, Rechtsextremisten wendeten stärker expressive Gewalt an, Linksextremisten instrumentelle Gewalt, also als Mittel zum Zweck. Mittlerweile zeigen diese Aufmärsche und Zusammenrottungen aber, dass das instrumentelle Faktum sehr stark in den Hintergrund gerückt ist. Die Autonomen wollen provozieren und legen Gewalttätigkeiten an den Tag. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, wenn wir dieses oder jenes Problem beseitigt hätten, wäre Ruhe. Die Feinde des Systems finden immer neue Anlässe.

 

Der SPD-Innenexperte Pallas sprach von einer militanten Gruppe, die Leipzig in Schach hält. Übertreibt er?


Nein, das ist eindeutig eine militante Gruppe. Den Begriff verwenden die Linksextremisten sogar selbst. Sie sind sehr gut vernetzt über Internet und Handys. Das sind auch keine spontanen Demonstrationen, vielmehr exakt geplante. Allerdings: Diese Kräfte können zwar vorübergehend schwere Sachschäden anrichten, aber eine „Massenmilitanz“ fehlt ihnen.

 

Warum ist ausgerechnet Leipzig heute ein Zentrum der gewaltbereiten Autonomen?


Das hat sich in den letzten zehn, 15 Jahren so entwickelt. Ursprünglich waren sie in Dresden durch dortige rechtsextremistische Bestrebungen stärker. In Leipzig, speziell in Connewitz, sammelte sich eine Szene, die dem Staat den Kampf ansagt. Sie betrachtet Connewitz als ihren Stadtteil. Linksextremismus finden wir deutschlandweit vor allem in den Großstädten Hamburg und Berlin, aber eben auch in Leipzig und Freiburg. Das sind alles Universitätsstädte. Dresden und Chemnitz haben Technische Universitäten, da spielt linkes Protestpotenzial augenscheinlich keine so große Rolle. Aber Universitäten wie in Leipzig mit starker geisteswissenschaftlicher Ausrichtung ziehen ein bestimmtes Milieu an. Beim Rechtsextremismus ist es genau umgekehrt. Die Hochburgen sind eher ostdeutsche Kleinstädte.

 

In den vergangenen Jahren war die Politik sehr auf den „Kampf gegen Rechts“ fokussiert – Stichwort NPD-Verbotsverfahren, Worch-Demos. Wird die Bedrohung durch den Linksextremismus unterschätzt?


Eindeutig ja, wobei man sagen muss, das eine schließt das andere nicht aus. Ein demokratischer Verfassungsstaat muss jede Links- und Rechtsaußen- oder islamistische Bewegung bekämpfen, ob die antidemokratischen Kräfte nun Gewalt anwenden oder nicht. Union, SPD und FDP halten dagegen, aber die Grünen ducken sich weg, die Linke ohnehin. Ich erwarte auch von solchen Parteien, dass sie die Dinge beim Namen nennen: Wir haben es hier mit einer militanten Form des Linksextremismus zu tun! Eines stört mich in der politischen Debatte: Es wird der Eindruck erweckt, dass der Rechtsextremismus aufgewertet wird, sobald sich eine Stimme gegen Linksextremismus erhebt. Man stelle sich vor, die Krawalle hätten nicht Links-, sondern Rechtsextremisten ausgelöst! Unsere Gesellschaft ist durch den Nationalsozialismus auf Rechtsaußen fixiert.

 

Grüne und Linke bagatellisieren Ihrer Meinung nach den Linksextremismus?


Ich sehe da eine gewisse Bagatellisierung. Sie unterstützen solche militanten Kräfte zwar nicht, aber sie haben Angst, klar Stellung zu beziehen. Sie denken, das käme den Konservativen zugute. In Wirklichkeit würden sie ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie sich ohne Wenn und Aber distanzieren, sich nicht nur taktisch-strategisch, sondern prinzipiell abgrenzen und darauf achten würden, dass sich demokratischen Demonstrationen keine Linksextremisten anschließen. Das sind Feinde des Staates, und jede Nachgiebigkeit wird von ihnen als Schwäche des Staates ausgelegt.

 

Trägt die Kommunalpolitik Mitverantwortung für diese Entwicklung?


In den letzten Jahren haben sich diese Krawalle beständig wiederholt. Ich wundere mich darüber, dass viele so überrascht tun, wenn Gewalt Leipzig überschattet. Nach jeder Ausschreitung heißt es: Wir wollen etwas ändern, und im Grunde passiert wenig. Wenn man in Connewitz sagt „Wir sind eine Nazi-freie Zone“, dann wird das zum Teil ignoriert. Allerdings: Patentrezepte gibt es nicht.

 

Ist das Problem mit mehr Polizei zu lösen?


Es ist wichtig, dass die demokratischen Kräfte zusammenhalten, sich klar distanzieren und nicht untereinander bekämpfen. Und wir brauchen mehr Polizei, die Präsenz zeigt. Es müssen Vorkehrungen getroffen werden – Stichworte: Sonderkommission, Personen in die Szene einschleusen. Viele Bürger können das nicht mehr nachvollziehen: Da wenden über 100 Leute Gewalt an, und die Polizei ist nur in der Lage, eine einzige Person festzunehmen, die ein paar Stunden später wieder freigelassen wird.           

 

Interview: Klaus Staeubert
 
Eckhard Jesse hat bis 1958 in Borsdorf gelebt. Der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft ist seit 1989 Herausgeber des Jahrbuchs Extremismus & Demokratie. Er lehrte von 1993 bis 2014 an der TU Chemnitz Politikwissenschaft.

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