Moralisch exterritoriales Gebiet

Erstveröffentlicht: 
08.12.1999

Der Versuch von Kurden, das israelische Generalkonsulat zu besetzen, war berechtigt und hat mit Antisemitismus nichts zu tun.

 

von »Internationalistische Gruppe Berlin«

 

Am 17. November 1999 wurde in der Jungle World eine Kolumne mit dem Titel »Todesschüsse im israelischen Generalkonsulat - Notwehr« veröffentlicht. Israelische Sicherheitsbeamte hatten am 17. Februar 1999 drei Kurden und eine Kurdin erschossen, als diese versuchten, das israelische Generalkonsulat zu besetzen. Der Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses stellte »erheblichen Zweifel an der Notwehrversion« fest; dagegen wandte sich der Autor Dirk Hempel.

 

Kaum ein Erschießung ist so gut dokumentiert wie diese: Vier Videokameras beobachteten, wie ein Sicherheitsbeamter ohne Not zwei Magazine in eine unbewaffnete, wartende Menschenmenge entleerte und dabei zumeist Rücken und Hinterköpfe traf. Das ist Notwehr, so der Jungle-Autor. Denn: »Das gewaltsame Eindringen in ein Generalkonsulat stellt einen Angriff dar.«

 

Nun besetzen Linke in der ganzen Welt seit Jahrzehnten Konsulate und Botschaften, in der Regel haben sie dafür gute Gründe. Hempel schreibt, in diesem Fall hätten antisemitisch aufgehetzte Anhänger des Kurdenführers Öcalan angegriffen. Weil laut dpa angeblich der Mossad in dessen Entführung verwickelt war und die PKK und deren Anhänger für solche antisemitischen Verschwörungstheorien durchaus empfänglich seien. Der gemeine Kurde, ein aufgehetzter Antisemit? Eine Prise Rassismus kann nicht schaden. Woher weiß der Autor, dass die KurdInnen, die das israelische Generalkonsulat besetzen wollten, antisemitisch waren? Ganz einfach: weil sie ein israelisches Generalkonsulat besetzen wollten.

 

Eine Aktion gegen eine Institution des Staates Israel ist für ihn eine Aktion gegen, so seine Worte, die Juden, also unabhängig von Begründung und Zusammenhang an sich antisemitisch. Diese Sicht folgt einem Diskurs, der aus der Verantwortung für den Holocaust begründet, dass Deutsche die Politik des Staates Israel nicht kritisieren dürfen. Eine Kritik von Deutschen wird, unabhängig von ihrem Inhalt, als Akt des Antisemitismus bewertet.

 

Aber bedeutet diese Perspektive, dass auch KurdInnen den Staat Israel nicht angreifen dürfen, obwohl sie gewiss nicht für den Holocaust verantwortlich sind? Vielleicht haben sie gute Gründe dafür. Gründe, die in der Politik dieses Staates liegen. Die Sicht Hempels erlaubt es aber nicht, danach zu fragen, weil das Anerkennen einer anderen Perspektive das eigene ideologische Konstrukt, Kritik am Staat Israel sei an sich antisemitisch, zurechtrücken würde. Da wird lieber der Mord an vier KurdInnen gerechtfertigt. Und jenen, die von der Politik des Staates Israel betroffen sind, das Recht auf Widerstand abgesprochen.

 

Und das betrifft nicht nur PalästinenserInnen in Lagern und besetzten Gebieten. Staatliche Stellen Israels waren bis zuletzt die verlässlichsten Unterstützer des Rassistenregimes in Südafrika und die besten Freunde Pinochets, als die USA sich schon distanzierten. Sie sind einer der wichtigsten Partner der Türkei im Kampf gegen die KurdInnen: Sie liefern Waffen, und israelische Offiziere bilden vor Ort die Anti-Guerilla-Einheiten aus. Das sind Fakten, die auch ein Jungle World-Autor nachlesen könnte. Sie stehen in jeder israelischen Zeitung. Fakten, die sich nicht mit einem Recht des Staates Israel auf Selbstverteidigung erklären lassen. Deshalb war der Versuch der KurdInnen, das israelische Generalkonsulat zu besetzen, berechtigt. Ob die Aktion in ihrer politischen Wirkung wie der Durchführung richtig war, ist eine andere Frage. Aber: Mit Antisemitismus hat das nichts zu tun.

 

Hempel schreibt, das israelische Generalkonsulat sei exterritorial, deshalb könnten die Israelis dort so vorgehen, wie sie es für richtig halten. Da hätten keine Deutschen mitzureden. Und das sei gut so. Ein Gebiet also, in dem vier KurdInnen erschossen werden können, weil es für richtig gehalten wird. Ein nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch exterritoriales Gebiet. Eine interessante Position für eine linke Zeitung. Keine bürgerliche Zeitung würde etwas so Zynisches und Menschenverachtendes veröffentlichen.

 

Es gibt eine Moral, die auch das Leben von KurdInnen achtet, selbst wenn sie versuchen, ein israelisches Generalkonsulat zu besetzen. Aber das ist dem Autor ohnehin fremd: »Als 1967 ein Berliner Polizist den wegrennenden Studenten Benno Ohnesorg erschoss, ging das in Ordnung. Nett war das zwar nicht, aber ein Fall von Notwehr«. Es gab in der Linken einmal eine Moral, für die der Mord an Benno Ohnesorg nicht in Ordnung ging, während sich der Staat und seine Richter mit ihrer Notwehrversion moralisch diskreditierten. Wie eben der Autor mit seinem Kommentar.

 

Abschließend ein Hinweis: Ein weiteres exterritoriales Gebiet ist der Transitbereich des Frankfurter Flughafens, wo Flüchtlinge monatelang unter der Fuchtel des Bundesgrenzschutzes darauf warten müssen, bei ihrer Abschiebung eine Beruhigungsspritze zu kriegen und dabei auch mal zu Tode zu kommen. Nett ist das zwar nicht, aber so regelt es das Gesetz. In Ordnung?

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Gibt es noch mehr Texte von der Internationalistischen Gruppe Berlin? Die hat anscheinend in der damaligen Zeit gute Arbeit geleistet.