Die Tatort(be-)reiniger im Mordfall Kassel. Der V-Mann-Führer Andreas Temme und sein Team

Andreas Temme (Bildmitte)

Der neunte Mord in Kassel 2006 - der Schlüssel für das Ende der NSU-Mordserie liegt nicht in Zwickau

In Kassel ereignete sich am 6. April 2006 der neunte Mord, der dem Nationalsozialistischen Untergrund/NSU zugeordnet wird. Dieses Mal wurde der Besitzer des Internet-Cafés Halit Yozgat kaltblütig ermordet. Wie in den vorangegangenen Morden wurde ›zufällig‹ auch dieser ins ausländische Milieu abgeschoben. Wieder aus Zufall wurde »nie Richtung Rechtsextremismus ermittelt« (FR vom 24.11.2011). Ebenso zufällig wurden Täter im familiären und beruflichen Umfeld des Ermordeten gesucht.

 

Der Mord in Kassel weist zwei Besonderheiten auf: Zur Tatzeit war der hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme in besagtem Internet-Café – selbstverständlich zufällig. Ein Verfassungsschutzmitarbeiter, der den Spitznamen ›Klein-Adolf‹ trug, einen ortsbekannten Neonazi als V-Mann ›führte‹, mit dem er am Mordtag in telefonischem Kontakt stand. Und es gibt eine weitere Besonderheit: Nach dem Mord an den Besitzer des Internet-Cafés Halit Yozgat bricht die rassistische Mordserie ab. Aus der Logik der Täter ist dies nicht zu erklären. Es können nur andere Umstände sein, die dafür ausschlaggebend waren. Ist es die »Kasseler Problematik«, vor der der Vorgesetzte von Andreas Temme warnte?

 

Die Tatort(be-)reiniger im Mordfall Kassel.

 

Der V-Mann-Führer Andreas Temme und sein Team. In diesem Beitrag geht es darum, zu belegen, dass die Nicht-Bereitschaft zur Aufklärung dieses Mordes alles andere als zufällig war und ist. Außerdem belegt dieser Fall sehr eindringlich, dass an der Nicht-Aufklärung, an der Verwischung von Spuren und Beweisen alle Behörden beteiligt waren/sind und – entgegen der Legende vom Behördenwirrwarr- alle an einem Strang zogen, bis heute: Von der Polizei, über den Verfassungsschutz bis hin zum hessischen Innenministerium und der Generalbundesanwaltschaft. Das Internetcafé ist am 6. April 2006 durchschnittlich besucht, als ein Mann das Geschäft gegen 17 Uhr betritt, an die Theke tritt, eine Pistole mit Schalldämpfer zieht und kurz darauf mit zwei Schüssen in den Kopf den Internetbesitzer Halit Yozgat schwer verletzt. Halit Yozgat stirbt noch am Tatort. Die Mordkommission sichert kurze Zeit später den Tatort. Man hält die Personalien der noch anwesenden Internetbesucher fest, sichert die Spuren, die Internetbenutzerdaten. Dem Aufruf der Polizei, sich als mögliche ZeugInnen des Mordes zu melden, folgen fünf Personen, die einen weiteren Besucher erwähnen. Die Polizei kann die Identität dieser Person feststellen: Es ist Andreas Temme mit dem dienstlichen Aliasname Alexander Thomsen, der sich im Internet als ›Jörg Schneeberg‹ ausgegeben hatte. Daraufhin setzen interne und staatsanwaltschaftliche Ermittlungen ein. Dabei zeigt sich seine Erinnerung als äußerst flexibel oder anders gesagt: er änderte je nach (ihm zugänglich gemachten) Ermittlungsstand seine Aussagen: »Erst kannte er – in den Glauben, die Anwesenheit sei ihm nicht nachweisbar – das Café angeblich nicht, dann war er zu einem anderen Zeitpunkt, am 5.4.2006, dort und schließlich will er von den maßgeblichen Vorgängen nichts mitbekommen haben.« (Beweisantrag der Nebenkläger vom 12.11.2013) Nachdem er nicht mehr leugnen konnte, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein, erinnerte er sich wieder ganz genau: er habe dort als Privatperson in einem Erotik-Portal gesurft. Und er erinnerte sich wieder an den Grund des Nicht-Erinnerns: Er wollte nicht als User eines Erotik-Portals entdeckt werden. Mit diesen Aussagen macht sich die Mordkommission an die Arbeit. Sie bringt in Kenntnis, dass Andreas Temme neben behaupteter ›Chat-Affäre‹ zur selben Zeit im operativen Einsatz war. Auf seinem Handy werden Verkehrsdaten sichergestellt, die belegen, dass er sowohl vor als auch nach seinem Internetbesuch Telefonkontakt zu Neonazis hatte. Damit konfrontiert erklärt Andreas Temme, dass er V-Mann-Führer dieses Neonazis sei. Um aufzuklären, welche Rolle seine Anwesenheit am Tatort, die Telefonate mit einem Neonazi spielen, beantragt die Polizei u.a. eine Aussagegenehmigung für den vom VS-Mitarbeiter Temme geführten Neonazi. Diese Amtshilfe wird zuerst vom Chef des hessischen Verfassungsschutzes, wenig später vom hessischen Innenminister Volker Bouffier abgelehnt: »Ich bitte um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen … zu einer Erschwerung der Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz führen würden.« (Brauner Terror – Blinder Staat – Die Spur des Nazi-Trios, ZDF-Sendung vom 26.6.2012). Auch weigerte sich der Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) in einer Innenausschusssitzung vom 17. Juli 2006, zum Stand der Ermittlungen Stellung zu nehmen. In der Folge wurde die ermittelnde Polizei mit unvollständigen, also manipulierten Aktenbeständen versorgt. Die Akten zum Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner waren geschwärzt. Klarakten bekamen die Ermittler nie zu Gesicht. Außerdem behauptet der hessische Verfassungsschutz allen Ernstes, dass es von V-Mann Führer Temme angefertigte Treffberichte mit Benjamin Gärtner gäbe, nur keine für das Jahr 2006. Und das, obwohl Andreas Temme selbst bestätigt, dass er den Neonazi ein bis zwei Mal im Monat, also sehr regelmäßig und ergiebig getroffen habe, was dem V-Mann Benjamin Gärtner die Note ›B‹ einbrachte, die zweithöchste Bewertung für Quellenglaubwürdigkeit. Dermaßen mit Verschleierungen der Umstände konfrontiert, liefen alle Bemühungen um Aufklärung ins Leere. Beschützt, gedeckt und abgeschirmt, wurden die Ermittlungen gegen den VS-Mann Temme im Januar 2007 eingestellt. Eine Meisterleistung in Sachen Behinderung der Aufklärung und des Verschwindenlassens von taterheblichen Beweismitteln. Was haben den Chef des hessischen Verfassungsschutzes und den damaligen Innenminister Volker Bouffier als oberster Dienstherr, dazu bewogen, dem ›Schutz‹ des Verfassungsschutzes einen höheren Rang einzuräumen, als der Aufklärung eines Mordes? Was hätte der Neonazi und V-Mann des Verfassungsschutzes aussagen können, was den Verfassungsschutz hätte gefährden können?

Eine Antwort darauf zu geben, ist keine große Detektivleistung: Hätte der als V-Mann geführte Neonazi weder etwas mit dem Mord an dem Internetcafébesitzer zu tun, noch mit dem NSU, wäre er geradezu als Entlastungszeuge des in Nöten geratenen VS-Mitarbeiters Temme aufgerufen worden! Gefährden kann dieser Neonazi den hessischen Verfassungsschutz nur, wenn das Risiko besteht, dass er eine Verbindung zu dem Mord, zu den Mördern herstellt, wenn man ihn nicht für befragungsresistent einstufte!

 

Über vier Jahre lang gab es für diese naheliegende Schlussfolgerung keine Belege, keine Indizien. Alle an dem Mordfall beteiligten Behörden hielten dicht - von dem ansonsten so viel beschworenen Behördenwirrwarr keine Spur. Das änderte sich erst, als Beate Zschäpe als Folge der tödlichen Ereignisse am 4. November 2011 – mit der Versendung der Video-Kassetten – dafür sorgte, dass die Existenz des NSU nicht mehr geleugnet werden konnte. Seitdem wissen wir zwar noch lange nicht alles, aber genug, um die Behinderung, um die Verhinderung der Aufklärung dieses neonazistischen Mordes belegen zu können. Fast nichts stimmte, was damals als offizielle Version bekannt gemacht wurde: Andreas Temme war kein Verfassungsschützer, sondern ein staatlich verbeamteter Verfassungsfeind. In seiner Jugend gab man ihm den Namen ›Kleiner Adolf‹, dem er auch als V-Mann-Führer von Neonazis gerecht wurde. In seiner Wohnung fand man Auszüge aus Hitlers ›Mein Kampf‹ und weitere neonazistische Propaganda. »In T.s Büro fanden sich Bücher wie ›Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung der SS‹, ein Lehrplan des SS-Hauptamts oder ›Judas Schuldbuch‹.« (stuttgarter-nachrichten.de vom 3.12.2013) Und was das hessische Innenministerium über fünf Jahre erfolgreich zu schützen versuchte, ist mittlerweile auch bekannt: Andreas Temme hat am Tattag nicht mit irgendjemand telefoniert, sondern mit dem Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner, einmal um 13:06 Uhr und ein weiteres Mal um 16:10 Uhr, eine Stunde vor der Mordtat. Benjamin Gärtner wurde als Gewährsperson ›GP 389‹, also als Spitzel geführt. »Benjamin G. hatte offenbar über seinen Stiefbruder, der in der Kasseler Szene ein bekannter Rechtsextremist gewesen sein soll, Zugang zu Neonazigruppen. Der Stiefbruder soll zum Beispiel im rechtsradikalen Netzwerk ›Blood & Honour‹ aktiv gewesen sein. Bitten der Polizei, auch diese Quellen befragen zu dürfen, um so einen ausländerfeindlichen Hintergrund des Yozgat-Mordes abzuklären, seien vom Verfassungsschutz aber abgebügelt worden, heißt es. Der ›Spiegel‹ zitiert in seiner aktuellen Ausgabe einen Verfassungsschützer, wonach derlei Geheimhaltung für ›das Wohl des Landes Hessen‹ bedeutsam gewesen sei. Der Mord an Halit Yozgat sei demgegenüber nicht so wichtig gewesen.« (Hessische/Niedersächsische Allgemeine/HNA vom 9.9.2012)

Benjamin G. heißt Benjamin Gärtner, geboren am 23.11.1980 in Kassel und wohnt jetzt in Helsa bei Kassel. Er hatte sehr gute Kontakte zur Neonaziszene in Kassel. Dazu gehörte auch sein Stiefbruder Christian Wenzl, der eine führende Rolle in der ›Kameradschaft Kassel‹ (ehemals ›Nationalistische Front‹) spielte.

 

Nahe an der Wahrheit - das System der Deckungs- und Verdunklungsarbeit

 

Mittlerweilen kann man das Tun des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme, die Dienstwege und Deckungsarbeiten deutscher Behörden einigermaßen konsistent rekonstruieren: Der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme traf sich mit seiner Quelle ›GP 389‹, mit dem Neonazi Benjamin Gärtner am 6.4.2006. Danach erledigte er Bürotätigkeiten. Dann kommt es zu den besagten zwei Telefonaten, das letzte ist zehn Minuten lang: » … um 16.10 Uhr, etwa eine Stunde vor dem Anschlag, rief T. auf dem Handy von G. an.« (welt.de vom 22.10.2013). Dann machte er sich auf den Weg nach Hause, wo seine schwangere Frau wartete, überlegte sich‘s jedoch anders und stoppte für eine ›Chat-Affäre‹ an einem Internetcafé in der Holländischen Straße. Ein Internetcafé, wo ein Deutsch-Nationaler so auffällt, wie ein Bettler im Schlosscafé. Am Rechner war er von 16:51 Uhr bis 17:01 Uhr eingeloggt – also zur Tatzeit. Der Internetbesitzer Halit Yozgat lag bereits ermordet hinter seinem Schreibtisch, als der VS-Mann seinen Platz am Computer verließ. Ohne irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt zu haben, ohne die ›Tropfspuren‹ auf dem Schreibtisch gesehen zu haben, bezahlte der ca. 1.90 Meter große Geheimdienstmitarbeiter: »Er legte die 50 Cent für die Computernutzung auf die Ladentheke, hinter der wohl schon die Leiche lag. Die Polizei fand diese 50 Cent am Tatort.« (FR vom 24.11.2011) Nachdem der Mordfall auch die Mitarbeiter und Vorgesetzten im LfV erreichte, kam es am 10.4.2006 zu einer Befragung von Andreas Temme durch die Kollegin und Quellenführerin Frau Ehrig: Auf diese Ereignisse angesprochen erklärte Andreas Temme, das er weder das besagte Internetcafé, noch das Opfer kenne. Danach wurde es wieder kollegial und dienstlich. Sie beauftragte ihn, den Namen des Opfers ›abzuklären‹, was Andreas Temme mit einer – überraschend kenntnisreichen – Bemerkung kommentierte: Temme gab ihr gegenüber an, »dass der Mord offensichtlich keinen regionalen Bezug hätte, da die Waffe bereits bei mehreren Taten im gesamten Bundesgebiet eingesetzt worden sei.« (Beweisantrag des Rechtsanwaltsbüro b|d|k aus Hamburg vom 6.11.2013) Abgesehen von der Frage, woher der ahnungslose Verfassungsschützer seine detailreichen Kenntnisse hatte, nahm dieser Vermerk (Komplex Temme, Band 6, Blatt 81) ein merkwürdiges Ende: Die Bundesanwaltschaft unterschlug diesen Vermerk gegenüber dem in München tagenden Senat. Dass Andreas Temme von Anfang wusste, wo er sich am 6.4.2006 aufgehalten hatte, geht auch aus einem Vermerk des KHK Wetzel vom 22.4.2006 hervor: »Wir haben ihm vorgehalten, dass er Kollegen gegenüber im Vorgespräch der Vernehmung sagte, dass ihm schon – bevor die Polizei zu ihm kam – bewusst war, dass er am Tattag am Tatort war.« (Mord Yozgat SA | Hauptakte Bd. 2075, Bl.15) Am 9.5.2006 kam es zu einem Telefonat zwischen dem Geheimschutzbeauftragten Herrn Hess vom Landesamt für Verfassungsschutz/LfV und den vor Vernehmungen stehenden LfV-Mitarbeiter Andreas Temme: »Herr Hess gibt den Rat, was er auch grundsätzlich bei der Arbeit sagt, so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.« (Komplex Temme, Band 15) – d.h. seine Falschaussage so nahe wie möglich an das tatsächliche Geschehen anzulehnen, damit eine Aufdeckung erschwert wird. Eine professionelle Anleitung zu Falschaussagen. Eine Arbeitsmethode, die der Geheimschutzbeauftragte für die gesamte Arbeit des Verfassungsschutzes verstanden wissen wollte.

Tatsächlich folgte der Verfassungsschutzmitarbeiter dieser Anweisung vorbildhaft: Fortan erinnerte er sich daran, am Tattag in besagtem Internetcafé gewesen zu sein - ohne etwas vom Mord und/oder Tätern mitbekommen zu haben. Der V-Mann Führer Andreas Temme bekommt noch mehr Rat und Beistand:

 

Am 29. Mai 2006 kommt es zu einem Telefonat zwischen ihm und seinem Vorgesetzten Herrn Irrgang. Dieses Telefonat wurde protokolliert, als die Ermittlungsbehörden Andreas Temme als Tatverdächtigen führten und aus diesem Grunde seine Telefonanschlüsse abhörten. Den Inhalt des Gespräches gibt die Tageszeitung DIE WELT wie folgt wider, wobei die Zeitung den Behördenchef Irrgang als ›Herr F‹ legendierte: »Das abgehörte Gespräch der beiden Verfassungsschützer klingt nach einer vertraulichen Plauderei unter Freunden. Herr F. spricht am 29.Mai 2006 zu seinem untergebenen V-Mann-Führer Andreas T. über den Mord an Halit Yozgat. Was die beiden nicht wissen: Die Polizei hört jedes Wort mit, da sie Andreas T. als Verdächtigen führt. Verfassungsschützer F. schärft seinem Schützling Andreas T. ein, dass er zu der Situation und dem Verlauf der Ermittlungen der Polizei gegen T. nichts sagen dürfe. Dann sagt er noch, dass es nicht um ihn oder ›um alle‹ gehe. Es gehe um die ›Kasseler Problematik‹ und in dieser Problematik ›sitzt du ja ein bisschen drin, ne?, so F. Schließlich spricht F. noch ein Gespräch an, dass Andreas T. mit dem Direktor des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, Lutz I., geführt habe, und teilt T. anerkennend mit: ›Und wie du das bei dem I. gemacht hast und hast dich nicht so verhalten, wie mir das gesagt wurde, so restriktiv wie bei der Polizei, also du hast denen alles dargestellt. Ich darf und will es nicht wissen. Ich hoffe, dass es für dich gut ausgeht.

Im Klartext: Andreas T. hat seinen Vorgesetzten im Amt mehr erzählt als der ermittelnden Kriminalpolizei, wurde dafür gelobt und ist diesem ›restriktiven‹ Aussageverhalten über die Jahre treu geblieben.« (Die Welt vom 29.1.2014)

 

Ein gut angelegtes und gesteuertes Wissensgefälle

 

Fakt ist demnach: Andreas Temme lügt. Er weiß mehr als er gegenüber den Ermittlungsbehörden, gegenüber den Untersuchungsausschüssen und vor dem OLG in München preisgegeben hat. Seine Erinnerungsfähigkeit ist also nicht dem Gedächtnis geschuldet, sondern einem klar kalkulierten Vorgehen. Fest steht auch: Andreas Temme hat dabei nicht alleine handelt, sondern in bestem Einvernehmen mit seinem Abteilungsleiter und dem Chef des LfV Hessen. Beide halten demnach Wissen zurück und behindert aktiv und mit Vorsatz die Aufklärung dieses Mordes. Dass es dabei nicht alleine um die Person Andreas Temme geht, hat sein Vorgesetzter zwar vieldeutig und doch treffend genug umschrieben: es geht um die ›Kasseler Problematik‹. Fakt ist auch, dass das OLG dieses äußerst wichtige Protokoll nicht in den Prozess eingeführt hat. Erst die Rechtsanwälte von Nebenklägern sind darauf gestoßen, als sie die Akten bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gesichtet hatten.

 

Einen halben Monat später, am 16.6.2006 fand im Landesamt für Verfassungsschutz eine Besprechung statt, an der Vertreter des Verfassungsschutzes, der Staatsanwaltschaft und der Polizei teilnahmen. Staatsanwaltschaft und Polizei legten dar, warum sie eine dienstliche Erklärung von Andreas Temme, die Sicherheitsakte des LfV-Mitarbeiters und die Vernehmung des Neonazis und V-Mann Benjamin Gärtner beantragen. Die Besprechung blieb ohne Erfolg. »Im Verlauf des Gespräches stellte Herr Hess (Geheimschutzbeauftragter des LfV) klar, dass eine Vernehmung und der damit einhergehende Verlust der Quellen das größtmöglichste Unglück für das Landesamt darstellen würden. Er meinte, dass, wenn solche Vernehmungen genehmigt würden, es für einen fremden Dienst ja einfach sei, den gesamten Verfassungsschutz lahm zu legen. Man müsse nur eine Leiche in der Nähe eines VMs bzw. eines VM-Führers positionieren.« Das LfV lehnte jede Zusammenarbeit ab und verwies darauf, dass das Innenministerium das letzte Wort habe. Dieses entschied im Konflikt zwischen Staatsanwaltschaft/Polizei und Verfassungsschutz zugunsten Letzterer. Wer immer noch glauben will und muss, das Versagen der Behörden wäre einem Behördenwirrwarr und bedauerliche Fehlleistungen Einzelner geschuldet (gewesen), wird hier eines Besseren belehrt.

 

Auch am Fall Kassel lässt sich belegen, dass das System ›Cleaning‹ in Form von Falschaussagen, Anstiftung zu Falschaussagen, Manipulationen der Beweislage, Deckungsarbeit durch Vorgesetzte sehr koordiniert vorgenommen wurde/wird und bis heute von den jeweiligen Spitzen der beteiligten Behörden abgesegnet wird.

 

Der Schlüssel für das Ende der NSU-Mordserie liegt nicht in Zwickau

In der Logik der Täter war der Mord an Halit Yozgat ein Erfolg. Sie konnten unerkannt entkommen. Nicht einmal eine Beschreibung des/der Täter konnten die Zeugen liefern. Auch auf die Ermittlungsbehörden war Verlass. Wie bei allen Mord- und Terroranschlägen zuvor suchten die Ermittler die Motive bei dem Ermordeten, im familiären Umfeld der Angehörigen. Es gab keine Videoaufnahmen wie im Fall Köln 2004. Es gab also nicht einen einzigen Grund für den NSU, die Pläne für weitere Morde aufzugeben. Oder doch? Der Grund kann nur Andreas Temme sein. Wäre er nur der falsche Mann am falschen Ort gewesen, würde er keine Gefahr für den NSU darstellen. Wenn hingehend der NSU damit rechnen muss, dass Andreas Temme ›umfällt‹, also sein gesteuertes Wissensgefälle zusammenbricht, dann stellt Andreas Temme eine ständige Gefahr, ein unkalkulierbares Risiko dar.

 

Wolf Wetzel

Autor des Buches: Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf?, Unrast Verlag 2013, 2.Auflage

Teil I der Recherche findet sich hier: Der 1001. Zufall oder Beihilfe zu Mord

Teil II der Recherche findet sich hier: Der neonazistische Mord in Kassel 2006 und das System der ›Cleaner‹

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Die Chat-Affäre hat nur 10 Minuten gedauert? Die NSA hat sicherlich das Protokoll davon.

Mag sein, dass da viele Zufälle an einem Ort sind, aber wenn er schon davor davon gewusst hätte, dann hätte der wohl kaum seine Handynummer anhand welcher man ihn identifizieren kann, am Rechner gelassen. So dumm kann der doch nicht sein. Vielleicht hat er auch gerade weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war nix in der Hand womit er sich bei einer Vernehmung entlasten könnte.