Bildungspolitik, Kognitionswissenschaften, Governanceforschung
Am frühen Morgen des 22. April 2013 zogen Hundertschaften der Polizei vor dem Institut für vergleichende Irrelevanz (IVI) in Frankfurt auf mit dem Ziel, das Institut zu räumen. Bevor sie sich mit Rammbock und Flexgeräten Zugang zum Gebäude verschafften, mussten sie Unterstützer_innen des IVI wegtragen, dabei kam es auch zu Gewaltanwendungen und Rangeleleien. Das Institut gündete sich im Januar 2002 bei der Besetzung eines anderen Universitätsgebäudes. In einer ersten Stellungnahme zur Besetzung hieß es damals:
„gemeinsamens wohnen, gemeinsames leben und lernen sind die voraussetzung für die veränderung der herrschenden verhältnisse. wir gestalten die uni nach unseren vorstellungen und eröffnen einen freiraum des forschens und feierns in diesem ehemaligen institut. wir nehmen mit dieser aktion den raum zurück, der zunehmend verknappt und vernichtet wird.“
Diese Besetzung wurde nach einer Woche beendet, 2003 jedoch bezog das IVI das leerstehende Institut für England- und Amerikastudien im Kettenhofweg 130, und war „seitdem ein Ort, an dem sich Kunst- und Kulturschaffende, kritische Wissenschaftler*innen und politische Gruppen betätigen konnten. Diese verschiedenen Zugänge der an dem Projekt beteiligten Gruppen und Einzelpersonen ermöglichten einen regen Austausch und eine umfassende Beschäftigung mit gesellschaftskritischen Themen“. Der Stadt und der Universität war das IVI ein Dorn im Auge, die Universität verkaufte das Gebäude an die Immobilienfirma Franconofurt AG. Sie schuf damit die Voraussetzungen für eine polizeiliche Räumung, die nun vollzogen wurde. Bei der Räumung standen nicht unmittelbare Verwertungsinteressen im Vordergrund, sondern die Vernichtung eines Ortes, der für kritische Wissensproduktion abseits universitärer Disziplin und Sanktionsmechanismen stand. Der Franconofurt-Geschäftsführer äußerte gegenüber der Frankfurter Rundschau offenherzig, was nun mit dem Haus geschehen soll. „Er will das Haus nun 'stilllegen und zumauern' lassen, damit erstmal Ruhe eingekehrt“.
In Tübingen wurden in den vergangen Jahren – beschleunigt durch die Bologna-Reformen und die Bewerbung zur Exzellenzuniversität – Freiräume an der Universität und in ihrem Umfeld durch administrative, bauliche und polizeiliche Maßnahmen immer weiter eingeschränkt und vernichtet. Stattdessen entstanden auf den Hügeln der Stadt neue Forschungslabors, Exzellenzcluster und Technologieparks, welche die Universität mit privaten und (proto-)staatlichen Instituten und Forschungsprogrammen verwob und privatwirtschaftlichen Verwertungsinteressen wie politischen Steuerungsversuchen gleichermaßen unterwarfen. Die Fähigkeit, Drittmittel von privaten und öffentlichen Stellen einzuwerben, gilt nun als Merkmal wissenschaftlicher „Relevanz“. Sie ist Grund weiterer Finanzierung und Förderung, während diese in den Bereichen radikal zusammengestrichen wurde, die sich nicht unmittelbar für wirtschaftliche oder politische Ziele abschöpfen lassen. Von den Milliardensummen, die aus dem Verkauf von UMTS-Lizenzen über die Exzellenzinitiative an die Universität flossen (und zukünftig von der Universität selbst aufgebracht werden müssen), kam in der Lehre kein Cent an, auch die Studiengebühren erwiesen sich lediglich als weiterer Selektions- und Sanktionsmechanismus, der nur zur weiteren disziplinierenden Verschulung des Studiums beitrug. Nur in den seltensten Fällen war die dem innewohnende Gewalt sichtbar, wie bei der polizeilichen Räumung des Kupferbaus zugunsten des SWR im November 2009. Vielmehr erfuhren die Reformen im Zuge des Bologna-Prozesses und die Einführung der Studiengebühren die vorauseilende Zustimmung der vermeintlichen Intelligenz in den Lehrstühlen und teilweise auch in den Hörsälen, die sich vom zukünftigen Exzellenzstatus eine verbesserte Ausgangsposition im harten und zunehmend globalisierten Wettbewerb der wissenschaftlichen Karrieren erhofften.
Welches Wissen wird nun in solch einem dystopischen Bildungsumfeld produziert? Im Rahmen der Lehre handelt es sich dabei um ein Wissen, das sich vornehmlich auf den eigenen Studienplan – wann muss welche Leistung wie erbracht sein – und Soft-Skills zur Vermarktung des unternehmerischen Selbst fokussiert und damit auf die Selbstdisziplinierung anstatt auf die Selbstentfaltung. Auf den Hügeln der Stadt hingegen orientiert sich die Forschung wesentlich an den vom politisch-militärisch-industriellen Komplex zur Verfügung gestellten Technologien zur Bildgebung und Simulation und fokussieren auf die Erforschung des (tierischen und) menschlichen Denkens und dessen Modellierung etwa in Künstlichen Neuronalen Netzen. Dabei werden gerne auch mal Affenhirne aufgeschnitten und verdrahtet und Experimente mit an Ataxie leidenden Kindern oder Menschen mit Locked-In-Syndrom durchgeführt und die darin gewonnenen Schlussfolgerungen (zum räumlichen Denken etwa und zum Bewegungshandeln) der Industrie bereitgestellt, um leistungsfähigere Drohnen oder Kamerasysteme zu entwickeln, die selbstständig „emotionale Bewegungen“ detektieren. Die abseits von Nieschen noch in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Niederungen Tübingens fortbestehende Forschung knüpft hieran an, indem sie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der künstlichen Intelligenz – ähnlich der Hirnforschung – weniger erforscht, als durch Simulation kontrollier- und damit manipulierbar zu machen sucht.
Ein Großteil der finanziell relevanten sozialwissenschaftlichen 
Forschungsprogramme sind insgesamt der Governanceforschung und der 
ethischen Begleitforschung zur Einführung neuer Technologien 
zuzurechnen, die Sprachwissenschaften werden – wie mit der Psychologie 
bereits vollzogen – in die Kognitionswissenschaften integriert. Es mag 
dabei eine zu- und sinnfällige Analogie sein, dass die Hertie-Stiftung 
neben dem Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen nur noch eine
 weitere eigene Lehr- und Forschungseinrichtung unterhält: die Hertie 
School of Governance in Berlin, die „neue Formen staatlicher und 
gesellschaftlicher Steuerung erforscht“. Weitere Analogien zwischen 
vorherrschenden Kognitionswissenschaften und Governance – gerade im 
Bereich von Forschung und Bildung – lassen sich hingegen problemlos 
finden, etwa im Denken in verteilten, aber vernetzten Systemen und der 
Sequenzialisierung an sich zusammenhängender Prozesse, wie etwa 
Bewegungen oder auch des (nun lebenslangen) Bildungsweges: So wie die 
Forschung zum Bewegungsdenken versucht, eine Greifbewegung in eine 
Sequenz vieler kleiner neurologischer Prozesse in ein Flussdiagramm 
aufzuspalten und damit simulier- und für Roboter nachahmbar zu machen, 
werden die Lehre, die wissenschaftliche Karriere und die Forschung 
selbst immer stärker modularisiert und sequentialisiert. Studierende und
 Nachwuchsforscher sind im Idealbild kaum mehr als zwei Jahre am selben 
Ort tätig und müssen den umfassenden Blick auf den Gegenstand ihrer 
Forschung zugunsten hochspezialisierter und den jeweiligen 
organisatorisch-technischen Möglichkeiten angepasster serieller 
Einzeluntersuchungen aufgeben. Diese finden im Rahmen über Jahre 
sequentierter und zwischen verschiedenen Instituten in 
Forschungsclustern modularisierten Forschungsprogramme statt, die auf 
ein Ziel ausgerichtet sind, auf das die Beteiligten ebensowenig Einfluss
 haben, wie auf die weitere Verwendung ihrer Ergebnisse. Der Weg 
zwischen der Forschung am Affenhirn und der Programmierung eines Moduls 
zur Selbstortung einer Aufklärungsdrohne ist kaum nachvollziehbar. Das 
bedeutet in mehrfacher Hinsicht eine Enteignung der Forschenden und eine
 Schwächung ihrer Verhandlungsposition: Ihre Ergebnisse werden an 
anderer Stelle interpretiert und genutzt, sie sind jenseits der 
spezifischen technologisch-organisatorischen Forschungsverbünde kaum 
brauchbar; Der Karriereweg kann zu jedem Zeitpunkt bei Widerstand 
abgebrochen werden und der gesellschaftliche Kontakt und die 
Möglichkeiten zur Gegenmachtbildung sind alleine durch häufige 
Ortswechsel stark eingeschränkt. Die disziplinierende Wirkung des 
Studiums setzt sich somit in der ggf. anschließenden Forschungstätigkeit
 fort. Es ist kaum verwunderlich, dass der Aufstieg der Universität 
Tübingen zur Exzellenzuniversität und Standort des Human Brain Projekt 
der EU mit einem Erlahmen studentischer und gewerkschaftlicher 
Selbstorganisation einhergeht. Der als Clubsterben unzureichend 
bezeichnete Niedergang von kulturellem und subkulturellem Leben in der 
Stadt und das zunehmende Angebot relativ komfortabler Single-Wohnungen 
zulasten billigen Wohnraums können ebenfalls hiermit in Zusammenhang 
gebracht werden.
Was wir damit sagen wollen: Das gewaltsame Öffnen und verdrahten von Affenschädeln in Tübingen darf nicht isoliert vom gewaltsamen Schließen des Instituts für vergleichende Irrelevanz betrachtet werden. Beides muss als Versuch gesehen werden, die sog. Intelligenz im kognitionswissenschaftlich gestützten Klassenkampf von oben neu zu positionieren.
]GIG[ Gegenuniversität in Gründung - Abteilung für bildgebende Verfahren

