Vor Kurzem meldeten sich die von uns sehr geschätzten Genoss*innen der Antifaschistischen Union Dortmund mit einem „Kommentar zum Umgang der radikalen Linken mit den NSU-Morden“ zu Wort.[1] Anlass des Textes, der einen selbstkritischeren Umgang der radikalen Linken mit den eigenen Fehlstellen in Hinblick auf die NSU-Mordserie fordert, war die Demonstration „VS auflösen – Rassismus bekämpfen“ in Köln-Chorweiler am 10.11.2012. Wir möchten in diesem Text die angestoßene Diskussion fortführen und unsere in einigen Punkten abweichende Sicht darlegen. Wir halten sowohl einen selbstkritischen Umgang mit eigenen Versäumnissen und blinden Flecken für angebracht als auch eine breite Diskussion über die politischen und praktischen Konsequenzen aus dem NSU-Desaster für notwendig.
Die Opfer wurden nicht gehört
Dass antifaschistische Gruppen die 2006 stattgefundenen öffentlichen
 Proteste von Angehörigen der NSU-Opfer Mehmet Kubasik und Halit Yozgat 
nicht wahrgenommen haben, müssen sich nicht nur diejenigen Gruppen zum 
Vorwurf machen lassen, die in den Städten, in denen die Morde begangen 
wurden, aktiv sind, sondern auch eine Gruppe wie die unsere. Obwohl wir 
aus dem weiteren Umland kommen, haben wir in Dortmund immer wieder gegen
 Neonazis agiert, so zum Beispiel nach der Ermordung des Punk Thomas 
Schulz, der ein Jahr vor Mehmet Kubasik durch einen Neonazi getötet 
wurde. Während es uns in diesem Fall gelang die Tat einzuordnen und eine
 politische Auseinandersetzung über rechte Gewalt einzufordern, blieben 
wir ein Jahr später untätig.
Wir haben die Aussagen der Ermittlungsbehörden zum Mord an Mehmet 
Kubasik nicht hinterfragt, wir haben nicht genau hingeschaut. Wir haben 
den Blick abgewandt. Die Forderungen der Angehörigen haben wir nicht 
gehört. Dieser Untätigkeit müssen wir uns heute stellen und auch nach 
den Ursachen suchen. Lag es an unserem gutmütigen Glauben in die Arbeit 
der Polizei und den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen? Lag es daran, dass 
wir zu den Angehörigen des Erschossenen keine persönlichen Kontakte 
pflegten? Oder daran, dass die Aussagen der Polizei auf unser Bedürfnis 
stießen, sich nicht weiter beunruhigen lassen zu wollen? Haben wir 
damals nicht gedacht: Gut, dass aller Wahrscheinlichkeit nach die Täter 
nicht erneut Neonazis sind? Schließlich müssen wir uns aber auch die 
bedrückende Frage stellen: Hat unser Verhalten nicht ebenfalls vor dem 
Hintergrund des gesamtgesellschaftlichen Rassismus stattgefunden, der 
die Arbeit der Ermittlungsbehörden so folgenschwer prägte, dass die 
Opfer – weil sie Migranten waren – vorschnell mit „kriminellen Milieus“ 
in Verbindung gebracht wurden? Haben rassistische Stereotype auch 
unseren Blick getrübt?
Diese selbstkritische Auseinandersetzung anzuregen ist notwendig. [2] 
Ebenso wichtig ist es nun den Angehörigen der Opfer solidarisch zur 
Seite zu stehen. Die im Rahmen des Antifa-Camps in Dortmund 
stattgefundene Gedenkveranstaltung für Mehmet Kubasik war von diesem 
Willen geprägt.[3]
Rassismus bekämpfen!
Zurückweisen müssen wir allerdings die von der Antifa Union 
formulierte Kritik, die Demonstration in Köln habe sich auf den 
Verfassungsschutz als „leichtes Ziel“ eingeschossen, der alleine für die
 NSU-Mordserie verantwortlich gemacht werde, so dass der die 
polizeilichen, medialen und gesellschaftlichen Reaktionen prägende 
Rassismus aus dem Blick geraten sei.
In Köln verübten die Neonazis 2001 und 2004 zwei Bombenanschläge, die 
zahlreiche Menschen verletzten. Auch hier wurden die Opfer zu Tätern 
gemacht. Sie wurden durch die polizeiliche Ermittlungspraxis diffamiert 
und kriminalisiert. Auch in Köln wurde die Sicht der Betroffenen nicht 
gehört bzw. wurde ihnen kein Glauben geschenkt. Das Bündnis für die 
Demonstration in Köln-Chorweiler hat dies nicht ignoriert. Schon das 
Demo-Motto „VS auflösen – Rassismus bekämpfen“ verweist auf eine 
doppelte Stoßrichtung: gegen den Inlandsgeheimdienst und gegen den 
Rassismus, der es erst ermöglicht hat, dass die Taten nicht aufgedeckt 
werden konnten und der die entwürdigende Behandlung der Betroffenen 
legitimierte. Damit gerät auch die ermittelnde Polizei in den Fokus der 
Kritik. Unsere Genoss*innen von AKKU haben haben sich ebenso wie der 
Antifa AK Köln in ihren Aufrufen ausführlich damit auseinander 
gesetzt.[4] Die Forderungen der Anwohner*innen der Keupstraße haben eine
 großen Raum in dem Kundgebungsprogramm bekommen. Es ging also nicht 
darum, sich nur über den Verfassungsschutz zu empören oder gar „aus der 
Mordserie Profit für die eigene Sache zu schlagen“ (Antifa Union).
Tief verwickelt und verstrickt
Die Verfassungsschutzämter müssen aber aus zwei Gründen ebenfalls in
 den Fokus der Auseinandersetzung gerückt werden. Erstens ist ihre 
Verstrickung in den NSU-Komplex tiefer als in ähnlichen 
rechtsterroristischen Aktivitäten der vergangenen Jahre, zumal „das 
tatsächliche Ausmaß des Beziehungsgeflechtes zwischen Staat und Neonazis
 ist bis heute noch nicht abzusehen ist“ (AKKU). Nach unserem aktuellen 
Kenntnisstand wissen wir von etlichen langjährigen V-Leuten im direkten 
Unterstützungsumfeld der drei NSU-Mörder*innen. Hunderttausende Euro 
sind in den 1990er Jahren in die den NSU umgebenden und unterstützenden 
Neonazistrukturen geflossen, während das „Terror-Trio“ ungehindert 
morden und rauben konnte. Hier zeigt sich eine Dimension, die 
tatsächlich neu ist. Wir haben noch keinen Begriff gefunden, der das 
Handeln der Geheimdienste im NSU-Komplex treffend beschreibt. Klar ist 
nur, es wurden beileibe nicht nur „Pannen“ und „Fehler“ begangen.
Gleichwohl war bekannt, dass die Geheimdienste ihre V-Leute in deren 
kriminellen und politischen Handeln nicht nur gewähren lassen und sie 
mit großen Summen alimentieren, sondern sie auch noch effektiv vor 
Strafverfolgung schützen. 2006 flog der in Dortmund aktive V-Mann 
Sebastian Seeman auf, der u.a. für das damals in der BRD bereits 
verbotene „Blood & Honour“-Netzwerk Rechtsrock-Konzerte organisierte
 und zugleich im großen Stil mit Drogen dealte. Der Verfassungsschutz 
hielt seine schützende Hand über ihn und warnte ihn vor 
Polizeiermittlungen. [5] Von diesen Verstrickungen und den zahlreichen 
Vertuschungsaktionen der Geheimdienste sollte man ruhig geschockt sein. 
Daraus sind Konsequenzen zu ziehen – und zwar andere als sie 
Innenpolitiker wie Jäger und Friedrich nahelegen.
VS auflösen!
Zweitens bietet sich für uns die Gelegenheit, in der laufenden 
Debatte über die Zukunft der Verfassungsschutzämter die notwendige 
Forderung nach deren Auflösung auf die Tagesordnung zu setzen. Diese 
Forderung ist nicht neu und nicht ausschließlich im Verhalten der 
Dienste im NSU-Komplex begründet. Der Verfassungsschutz war seit jeher 
ein Instrument der herrschenden Politik um mittels eines willkürlichen 
Extremismus-Vorwurfes politische Positionen als antidemokratisch und 
verfassungsfeindlich zu stigmatisieren und deren Vertreter*innen aus der
 politischen Diskussion auszugrenzen. Im Falle der Berufsverbote in den 
1970er Jahren gefährdeten die VS-Anschuldigungen auch die berufliche 
Existenz vieler Linker. Die Hauptstoßrichtung des Verfassungsschutzes 
war stets gegen die Linke gerichtet.
Die NSU-Mordserie hat nun vielen Menschen vor Augen geführt, dass der 
Verfassungsschutz seine vorgebliche Aufgabe, die Gesellschaft vor 
Gefahren zu schützen, nicht nach gekommen ist. Eine radikale Linke muss 
allerdings klarstellen, dass das Problem nicht darin besteht, dass der 
Geheimdienst „seinen Job nicht gemacht hat.“ Die Behörden haben in 
vielen Bereichen genauso gearbeitet, wie von ihnen erwartet werden 
konnte. Sie haben ihre „Quellen“ – die V-Leute – um jeden Preis 
geschützt; sie haben ihr Geheimwissen eifersüchtig vor anderen 
verborgen; haben sich in der Sicherheit gewogen, alles im Blick und 
folglich unter Kontrolle zu haben; haben ihre eigenen politischen 
Interessen und die ihrer Innenminister vorangetrieben; und haben 
schließlich qua ihrer grundsätzlichen Ausrichtung gehandelt. Diese 
grundsätzliche Ausrichtung besagte stets: Es gibt keinen 
Rechtsterrorismus in Deutschland. Und Nazi-Gewalt gefährdet nicht die 
„staatliche Ordnung“. Der gefährliche Feind steht links.
Gleichzeitig wirkte auch in den Verfassungsschutzbehörden derselbe 
gesamtgesellschaftliche Rassismus wie anderswo auch. Die Vertuschungen 
der Behörden zeigen einmal mehr, dass eine „öffentliche Kontrolle“ der 
Geheimdienste illusorisch ist. Es liegt im Wesen dieser Institutionen, 
dass sie sich nicht kontrollieren lassen. Dies festzustellen, heißt noch
 nicht Verschwörungstheorien aufzusitzen. Ob es in Teilen der Behörden 
tatsächliche Mitwisser*innen des NSU-Terrors gab, wissen wir nicht. Es 
ist für die Aufstellung der politische Forderung „VS auflösen“ nicht 
ausschlaggebend.
Aufrüstung des „Sicherheitsapparats“ 
Anders als es die öffentliche Kritik vermuten ließe, ist die 
Forderung nach Auflösung der Geheimdienste eine Minderheitsposition. 
Dies zeigte nicht nur die viel zu geringe Teilnahme an der Demo in 
Köln-Chorweiler. Es überwiegt das Lager der Reformer*innen, selbst unter
 den wortgewaltigen Kritiker*innen. Weit verbreitetet ist der Glaube, 
die Dienste ließen sich verbessern, in dem ihnen ein 
„Mentalitätswechsel“ und mehr Fachkompetenz sowie eine größere 
parlamentarische Kontrolle verordnet werden. Doch diese systemimmanenten
 Vorschläge wie sie von CDU, Grünen und SPD vertreten werden, können 
nicht die Lösung sein. Zumal sich die Dienste selbst mit allen Mitteln 
gegen Kontrolle und Einmischung sträuben. Ihnen stehen 
Innenpolitiker*innen zur Seite, die nun sogar das NSU-Desaster 
erfolgreich zu nutzen wissen, um die „Sicherheitsarchitektur“ des 
Staates weiter in ihrem Sinne umzubauen. Innenminister Friedrich fordert
 größere Kompetenzen und eine bessere Vernetzung der Dienste. Selbst die
 Vorratsdatenspeicherung wird erneut als angebliches Allheilmittel 
genannt, als hätte diese Maßnahme die NSU-Morde verhindern können.
Friedrichs im Dezember 2011 gegründetes „Gefahrenabwehrzentrum Rechts“, 
das pünktlich zum Jahrestag der NSU-Aufdeckung in ein 
„Gefahrenabwehrzentrum Extremismus“ erweitertet wurde, und die 
angeschlossene „Neonazi-Datenbank“ stärken die Macht und 
Einflussmöglichkeiten der Sicherheitsbehörden. So wird das 
Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten – eine zentrale Folgerung 
aus der Machtfülle und dem schrankenlosen Terror der Gestapo – fast 
vollständig aufgeweicht. Die weitere Einschränkung demokratischer 
Bürger*innenrechte ist die Folge.
Ausgerechnet der „starke Staat“ wird als Lösung präsentiert. Dies zeigt 
anschaulich, wie wichtig es ist, am Thema zu bleiben und den Mächtigen 
auf die Füße zu treten. Sonst droht die „Verschlimmbesserung“ als 
Konsequenz aus dem Desaster. An die Demo in Köln-Chorweiler und die 
Intervention gegen die Propagandashow von Polizei und VS im Rahmen der 
Ausstellungseröffnung in Köln-Kalk können wir anknüpfen.
Zentrale Aufgaben für die Antifa sind unseres Erachtens: Die weitere 
Entwicklung aufmerksam zu beobachten und die Hintergründe recherchieren.
 Unabhängige Stellen wie „NSU Watch“ (vom apabiz), die eine solche 
Recherche betreiben, brauchen unsere Unterstützung.[6]
In NRW gibt es keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, obwohl 
drei der NSU-Taten hier verübt wurden. Der NRW-Verfassungsschutz kann 
(noch) erfolgreich den Anschein vermitteln, mit alle dem nichts zu tun 
zu haben.[7] Die in Köln-Chorweiler formulierte Forderung nach 
„Offenlegung aller Informationen bezüglich VS/NSU und der Unterstützung 
von Neonazis durch den Verfassungsschutz und andere Geheimdienste“ ist 
richtig.
Statt auf staatliches Handeln zu vertrauen, müssen wir einen 
unabhängigen Antifaschismus stark machen. In die Auseinandersetzung um 
die „Reform“ des Verfassungsschutzes müssen wir uns weiter einmischen 
und die Forderung „Auflösen!“ erheben. Auch die Auseinandersetzung um 
die diffamierende Ermittlungspraxis ist noch nicht beendet. Wir sollten 
an der Seite der Betroffenen  für deren Forderungen beispielsweise nach 
einer angemessenen „Entschädigung“  kämpfen. Vor allem aber – und hier 
sind wir wieder ganz bei unseren Genoss*innen der Antifa Union – gilt 
es, die Ursache für die Mordserie als das zu benennen, was sie ist: 
Rassismus. Die Auseinandersetzung um den in Deutschland virulenten 
Rassismus wird auch im Zusammenhang mit den NSU-Taten so gut wie gar 
nicht geführt. Dies muss sich ändern. 
Antifaschistische Linke Münster
Anmerkungen:
[1] http://antifaunion.blogsport.de/2012/11/11/ein-kommentar-zum-umgang-der-radikalen-linken-mit-den-nsu-morden/ 
[2] Diskussionsbeiträge zur Rolle der Antifa gab es auch an anderer 
Stelle, so zum Beispiel im Artikel „Nur zehn Tote mehr“ im 
„Antifa-Infoblatt“ (Nr. 94) Online 
[3] http://www.antifacamp.org/2012/08/30/2705/ 
[4] AKKU-Aufruf, Antifa AK-Aufruf 
[5] http://www.lotta-magazin.de/pdf/29/v-mann-seemann.pdf  
[6] http://nsu-watch.apabiz.de Das Projekt ist auf Spenden angewiesen!
[7] Dabei sind in der Vergangenheit zahlreiche führende Nazis aus NRW 
als V-Leute des Verfassungsschutz enttarnt worden. Jüngst wurde bekannt,
 dass der 1997 verstorbene Anführer der „Sauerländischen Aktionsfront“ 
(SAF), damals eine der bedeutendsten Neonazi-Kameradschaften in 
Westdeutschland viele Jahre auf der Gehaltsliste des VS stand.


Selbst-Kritik ist notwendig.
Möglichkeiten zu VS und Nazis zu recherchieren und zu arbeiten gab es in Dortmund genug.
Ebenso dessen Politik in der Zivilgesellschaft zu kritisieren.
Vor allem bei VS-Mann Seemann. Prozesse fanden vor Ort in Bielefeld und Dortmund statt.
Gearbeitet wurde dazu nur von wenigen in NRW. Und nicht aus den Städten,
wo der Täter politisch arbeitete.
https://linksunten.indymedia.org/de/node/69851
Dann die VS-Schulkampagne, die der NRW Verfassungsschutz 2006 in Dortmund als bundesweiten Exportschlager startete. Auch hier passierte Nichts. Nicht einmal im Nachhinein wurde das Projekt analysiert und kritisiert.
Erfolgsmeldung beim VS nachzulesen:
DOKUMENTATION: Jugendkongress, „Wir im Revier: für Demokratie – gegen Rechtsextremismus“ am 27. April 2006 in Dortmund
siehe auch de.indymedia.org
Zu der Debatte empfehle ich diesen Indymedia-Artikel über die 3 aus dem Jahr 2003:
http://de.indymedia.org/2003/09/61875.shtml