Anlässlich der am 21. April in Berlin stattfindenden Veranstaltung über die im Nordwesten Italiens stattfindenden Proteste und Aktionen gegen den Bau einer Bahnlinie für einen Hochgeschwindigkeitszug (TAV) ist eine Broschüre erschienen, in welcher eine Vielzahl von Texte und Gedanken zu finden sind. Die Broschüre ist als pdf zum download verfügbar und am Samstag in gedruckter Form.
21. April – 18 Uhr – SFE im Mehringhof (Gneisenaustr. 2a, Berlin-X’berg)
Auszüge aus der Broschüre
Im Gedächtnis der Menschen verflechten sich die Erinnerungen, die Geschichten, die Mythen, vor allem wenn diese wieder zum Leben erweckt und zur Sprache kommen und die Museen und Regale, in denen sie verbannt wurden, verlassen, weil sie nun durch das Feuer der Kämpfe neu entzündet worden. Der Widerstand der PartisanInnen lebt erneut, heute im NO TAV…
Einleitung
“Die Revolution findet nicht durch
eine einzige Erschütterung, ein Erdbeben statt, sondern durch eine
Unendlichkeit von Zuckungen und Wellenbewegungen, die oft über Jahren
andauern.”
Paolo Schicchi, itl. Anarchist, 1865 – 1950
Über die Grenzen hinaus
Diese Broschüre entstand aus dem Gedanken, Kämpfe, die in
verschiedensten Teilen dieser Erde stattfinden, für viel mehr Menschen
zugänglich zu machen, als nur denen, die direkt in sie involviert sind.
Ein wesentlicher Gedanke der anarchistischen Bewegung ist es, über die
Grenzen der Länder, in denen wir leben und agieren, hinaus zuschauen.
Durch den Austausch mit anderen Verbündeten, etwa über
Kampferfahrungen, können wir Inspirationen für unsere alltägliche
Konfrontation mit der kapitalistischen Gegenwart gewinnen und uns diese
zu Nutze machen. Eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten
Realitäten kann uns dabei helfen, strategische und taktischen
Überlegungen weiter zu entwickeln, indem wir den Blick über unseren
Tellerrand wagen und uns mit Ideen und Praxen konfrontieren, die unsere
kämpferische Kreativität stimulieren.
Wenn wir Texte, seien es theoretische Beiträge oder Berichte über
konkrete Aktionen aus anderen Ländern veröffentlichen, dann deswegen,
um Diskussionen in Relation zu unseren Angriffen gegen das Bestehende
voranzutreiben und diese mit anderen potenziellen MitstreiterInnen
teilen zu können. Es ist kein reines Verlangen nach Dokumentation,
sondern die Ideen und das Lebensgefühl mit zunehmen, welches sich in
den Texten artikuliert.
Außerdem stellen wir fest, dass einige Fragen, mit denen sich Menschen
anderswo beschäftigen, gar nicht so unterschiedlich sind zu denen, über
die wir uns den Kopf zerbrechen.
Eine Frage der Souveränität
Die Region Piedmont, in welcher der italienische Staat seit Jahren versucht die Hochgeschwindigkeitsverbindung TAV zu realisieren ist reich an widerständischer Tradition. Diese reicht von den Aktionen der PartisanInnen im Zweiten Weltkrieg über die Kämpfe der 60er und 70er Jahre. Auch die permanente Präsenz von AnarchistInnen seit einem Jahrhundert ist ein wichtiger Teil dieser Historie.
Nach Aussage der italienischen Regierung gab es in den letzten
Jahren kaum ein Großprojekt, welches nicht mit den unterschiedlichsten
Formen des Widerstands konfrontiert war. Der Kampf gegen die
Mülldeponien und die Müllentsorgung in der südlichen Region Campania
(bei Neapel) sind Teil davon, ebenso der Widerstand gegen den
katastrophalen Wiederaufbau in der Region L’ Aquila (die 2009 durch ein
heftigen Erdbeben erschüttert und zerstört wurde). Dort taten sich
BewohnerInnen mit anderen Menschen, darunter auch AnarchistInnen,
Autonome und andere Unzufriedene zusammen, um die Pläne der Regierung
radikal in Frage zu stellen und ihnen eine klare Absage zu erteilen.
Während solcher Auseinandersetzungen besteht für den Staat immer die
Gefahr, dass nicht nur ein Bauvorhaben in Frage gestellt wird, sondern
dass sich darin grundsätzlichere Vorstellungen gegen Autoritäten
entwickeln. Gedanken für Selbstorganisierung, Solidarität und
Veränderung der Beziehungen zirkulieren unter denen, die sich in diesen
Momenten des Aufbruchs finden.
Was sich am Anfang als ein regional beschränkter Kampf darstellt, kann
sich plötzlich in diese Richtung entfalten und die Diskussionen
beflügeln. Ein Versuch unsererseits, eine vielfältige anarchistische
Intervention zu gestalten ist dann unabdingbar.
Von kreativer Intelligenz und Unberechenbarkeit
Im Susa-Tal hat sich ein solches Szenario verwirklicht. Als ein Teil der dort Lebenden anfänglich noch Formen selbstorganisierter Komitees ablehnten, waren einige anarchistische GenossInnen ein Teil derer, die das Potenzial der Situation erkannten und begannen sich auf verschiedensten Ebenen einzumischen. Durch die dauerhafte Auseinandersetzung der Beteiligten, die immer wieder die Notwendigkeit eines parteiunabhängigen, selbstorganisierten und konfrontativen Kampfes betonten und weil die BewohnerInnen des Susa-Tals für solche Ideen offen waren, wurde dieser Kampf zu dem, was er heute ist: Ein Symbol dafür, dass Widerstand möglich ist, dass die Ordnungskräfte trotz ihrer Brutalität zurück gedrängt werden können, dass ein kleines Tal den öffentlichen Diskurs über Jahre prägen kann und dass die Staatsmacht durch den entschlossenen Wille zumindest aufgehalten werden kann. Es hat uns auch gezeigt, dass Menschen, die aus unterschiedlichsten Lebensrealitäten kommen, verschiedener Meinung und bis dato zum Teil „treue StaatsbürgerInnen“ gewesen sind, innerhalb solcher Auseinandersetzungen wachsen können und das eine gegenseitige Beeinflussung möglich und fruchtbar ist.
Dies wurde auch an der Gewaltfrage deutlich. Noch nie ist es in Italien
möglich gewesen – vor allem nach dem G8 Gipfel in Genua 2001 – einen
Slogan zu hören, welcher nach den Krawallen des 3. Juli in Susa-Tal von
einem ganzen Tal gerufen wurde, um die Freiheit der Gefangenen zu
fordern und um die Angriffe auf Polizei und Carabinieri als Akte des
Widerstand zu deklarieren: “Wir sind alle Black Bloc!“
Eine klare Ansage gegen die Medienhetze und die Spaltungsversuche seitens der Politik.
Nach wie vor ist das eine der größten Stärken dieser Bewegung, die sich
durch das Erleben der kämpferischen Jahre entwickelt hat, denn die
Erfahrungen, die man selbst erlebt sind immer überzeugender als
jeglicher Art der Propaganda.
Beeindruckend ist die kreative Intelligenz der Bewegung im Susa-Tal. Im
Laufe der Jahre wurden verschiedenste Formen des Kampfes erprobt um die
“berühmt berüchtigte” Unberechenbarkeit zu finden. Eine
Unberechenbarkeit von der wir oft nur reden und es uns selten gelingt
diese umzusetzen. Eine Voraussetzung um nicht in die bekannten Reflexe
zurückzufallen.
…
Infoveranstaltungsankündigung
Am 23. April ist um 21 Uhr in der Kadterschmiede in Friedrichshain (Rigaerstraße 94) ein Vortrag von outofcontrol zu Institutionen und Abkommen unter EU-Polizeien und dem Widerstand dagegen. Diese ist im Zusammenhang mit der Demo gegen die zahlreichen Repressionen gegen international verankerte Widerstandsbewegungen wie NO-TAV durch das BKA und Europol. http://outofcontrol.blogsport.de/
Kommt zahlreich für ein Zeichen internationaler Solidarität! No TAV! No Castor! No Border! No State!