Über zehn Jahre lang konnte die Nazigruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« in Deutschland unbehelligt und frei von jedem staatlichen Verfolgungsdruck zehn Menschen ermorden: Halib Kılıç und Theodorus Boulgarides in München, Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru und Ismail Yasar in Nürnberg, Yunus Turgut in Rostock, Halit Yozgat in Kassel, Mehmet Kubasık in Dortmund, Michèle Kiesewetter in Heilbronn und Süleyman Tasköprü in Hamburg. Weitere Anschläge, wie eine Nagelbombe in Köln, gehen wahrscheinlich auch auf das Konto des NSU. Aus diesem Grund finden am 28.01.2012 in Hamburg und Frankfurt a.M. antifaschistische Demonstrationen statt, zu deren Teilnahme wir aufrufen. [PDF]
Überraschte Betroffenheitsprofis
Wir gehen auf die Straße, um der Ermordeten zu gedenken und ihren
Freund_innen und Familien unsere Solidarität zu zeigen. Uns widern die
zur Schau gestellte Überraschung und die einstudierten
Betroffenheitsrituale des »besseren Deutschlands« an.
Berufspolitiker_innen und Zivilgesellschaftsfunktionär_innen, Leitmedien
und Kirchenvertreter_innen wirken schockiert und packen derzeit
routiniert ihren Trauerwerkzeugkasten aus, wie dutzende Male zuvor. Doch
überrascht von solchen Taten kann nur sein, wer die 182 Menschen
ignoriert, die seit 1989 von Anhänger_innen eines »Vierten Reichs« ums
Leben gebracht wurden. Wer diese Zahlen immer wieder systematisch
herunter rechnet, politische Motive von rechten Gewalttaten nicht zur
Kenntnis nimmt und die alltäglichen Waffenfunde bei organisierten
Neonazis als harmlose Sammelobjekte bagatellisiert – den_die muss die
jetzt bekannt gewordene Welle des Naziterrors kalt erwischt haben.
Umso routinierter wurde in Windeseile ein zerknautschtes Gesicht
aufgesetzt, eine wohlformulierte Rede gehalten, zum Empfang geladen und
ein Kondolenzschreiben verfasst. Die Betroffenheit, so ehrlich sie auch
gemeint sein mag, findet im gesellschaftlichen Normalvollzug kaum eine
Entsprechung. Denn auch wenn »das bisschen Totschlag« im aktuellen
common sense aus Imagegründen und von uns aus auch aufgrund des hiesigen
»Wertekanons« zu weit gehen mag, ein bisschen Alltagsrassismus hier und
ein bisschen Abschiebung da dürfen es allemal sein. Es ist diese
Bigotterie, die den vielzitierten bürgerlichen Anstand aufgrund
konkreter Empathie-Engpässe als Fassade entlarvt.
Aufstand der Anständigen
Dabei bezweifeln wir gar nicht, dass die etablierten Parteien und
gesellschaftlichen Eliten mittlerweile ehrlich etwas gegen Nazis haben.
Der von Gerhard Schröder 2000 initiierte »Aufstand der Anständigen« war
eine der Säulen zur Modernisierung Deutschlands. Der restaurative Staub,
der über der alten Bundesrepublik lag, in deren Schaltzentralen es sich
die alten Nazis bis zur Pensionierung gemütlich gemacht hatten, wurde
mit der Regierungsverantwortung der 68er-Generation aufgewühlt und zum
größten Teil abgetragen – mit der erstaunlichen Folge, dass Deutschland
selbst aus der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden noch
moralisches Kapital zu schlagen wusste.
Der neuen globalen Rolle dieses Landes war die alte Realität nicht mehr
zuträglich. Als ökonomischer Exportweltmeister und derzeit wichtigster
Einflussfaktor innerhalb der Europäischen Union galt und gilt es den
eigenen Laden vorbildlich, weltoffen und ohne schlechte Schlagzeilen zu
führen.
Aus diesem Grund kann die Demonstration unter dem Motto »Hinter den
Faschisten steht das Kapital«, die vor Kurzem bereits wegen der
NSU-Morde in Hamburg stattgefunden hat, in ihrer Analyse nur als
blödsinnig bezeichnet werden. Das deutsche Kapital hat 2012 kein
Interesse an Nazis; weniger noch: die Faschist_innen versauen ihm die
Geschäfte. Adidas Trainingsjacken und Siemens Kühlschränke,
EU-Rettungspakete und deutsche Kriegseinsätze sollen mit deutscher
Wertarbeit und Berliner Partytoleranz – aber um Himmels Willen nicht mit
Nazikillern assoziiert werden. Die regierungsoffiziellen Bemühungen
gegen Rechts dienen der Eindämmung des internationalen
»Standortnachteils Neonazis«. So werden nicht umsonst die Hamburger
»Aktionswochen gegen Rassismus« im März von Skoda, Warner Music und
Google gesponsert und unter der Schirmherrschaft des Ersten
Bürgermeisters abgehalten. Das antirassistische Engagement, vor allem
deutscher Firmen, lässt sich in solchen Kontexten wunderbar vermarkten.
Die mangelhafte und zu späte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit deutscher
Konzerne oder ihre Bereitschaft, Geschäfte mit diktatorischen Regimes
anzustoßen oder aufrecht zu erhalten, stehen dem nicht entgegen. Mit
Blick auf den Standort wird dies von der Regierung meist unterstützt
oder zumindest geduldet. Deutschland nimmt schließlich weltweit
politisch und wirtschaftlich eine dominante Rolle ein, die es mit
kriegerischen Mittel vielleicht nie erreicht hätte.
Pannen als System
Unter den staunenden Augen einer Antifa-Bewegung, die sich bis dato
allein auf weiter Flur gegen die Faschos wähnte, zeigte im
»Antifa-Sommer« 2000 erstmals auch der Staat ein Interesse an der
Bekämpfung des rechten Randes der deutschen Gesellschaft. Wie brüchig
dieses Engagement aber schon damals war und heute noch ist, illustriert
das Versagen und die Verstrickungen deutscher Sicherheitsbehörden in den
Nationalsozialistischen Untergrund. Nach allem was bisher bekannt ist,
lässt sich die Frage, wer in Zwickau und Jena hauptamtlich beim
Verfassungsschutz und wer hauptamtlicher Nazikader war, nur mit Blick
auf die jeweiligen Arbeitsverträge auflösen. Mit Millionenzahlungen
wurde scheinbar in Thüringen darüber hinaus die Naziszene durch das
Landesamt für Verfassungsschutz alimentiert und aufgebaut. Zumindest zur
Sicherung der eigenen Jobs hat sich der Nachrichtendienst die
Verfassungsfeinde herangezüchtet, die sich zu beobachten lohnten. Ihr
zartes Pflänzchen sollte begangenen Verbrechen zum Trotz erhalten
bleiben. Darum hat der VS »seine Nazis« allem Anschein nach auch vor der
Strafverfolgung durch andere Behörden geschützt.
Nicht viel besser sehen Polizei und Staatsanwaltschaft aus. Sie haben
die NSU-Mordserie im Laufe ihrer Ermittlungen über Jahre hinweg allein
durch die rassistische Brille interpretiert. Wenn in der gesamten BRD
türkisch- und griechisch-deutsche Kleinunternehmer hingerichtet werden,
dann müssen sie halt selbst Dreck am Stecken gehabt haben. Verbindungen
zum Drogenhandel oder zur Mafia wollten sich nur leider auch nach
größten Ermittlungsanstrengungen nicht finden lassen. Eine »Soko
Bosporus«, die »Dönermorden« der »Halbmondmafia« nachjagt, steht gelinde
gesagt nicht gerade im Verdacht, auch Hinweisen ins rechte Milieu
nachzugehen. Es scheint sich auch hier zu bestätigen: wie man denkt, so
spricht man. Dabei können die Ermittlungsbehörden ihr Versagen nicht
damit entschuldigen, dass während der Mordserie über Jahre kein
Bekennerschreiben oder -video des NSU kursiert habe und deshalb Nazis
nicht als Täter_innen erkennbar gewesen seien. Die zynische
Pink-Panther-DVD tauchte schließlich erst im November 2011 auf.
Die Selbstzweckhaftigkeit der deutschen Tat machte aus Sicht des NSU
hingegen jede weitere Erklärung überflüssig. Die Morde vermittelten sich
aus sich heraus und wurden von Migrant_innen als rechte Bedrohung
erkannt und von der Naziszene abgefeiert. Verwiesen sei nur auf den
Rechtsrocksong »Döner Killer« von der Band »Gigi & die braunen
Stadtmusikanten«, der im Sommer 2010 veröffentlicht wurde. An der »Soko
Bosporus« ging das offensichtlich vorbei.
Die jetzt bekannt gewordenen Taten sind vielleicht in ihrer unerkannten
Langlebigkeit einzigartig, keinesfalls jedoch in ihrer Struktur und
ihrem Wechselspiel mit einzelnen deutschen Behörden. Die Praxis der
verantwortlichen Stellen im Zusammenhang mit dem NSU läuft der oben
beschriebenen bundesrepublikanischen Selbstdarstellung entgegen. All
das, was von der Bundesregierung und aus dem Bundestag seit Jahren über
Integration und Weltoffenheit, Toleranz und Respekt gegenüber
»ausländischen Mitbürgern« gepredigt wurde, wird hier zur Farce. Die
Bekämpfung der Nazis erfolgte halbherzig und mit bedenklichen Mitteln.
Deshalb konnten sich die Neonazis des NSU in Deutschland wie Fische im
Wasser bewegen.
Eine lückenlose Aufklärung der Morde und der Mitschuld der deutschen
Behörden soll nun ein Untersuchungsausschuss des Bundestages leisten.
Wir glauben nicht so recht an die Einlösung dieses Auftrags: ob die eine
Krähe wirklich bereit ist, der anderen die Augen auszuhacken, wird sich
erst zu erweisen haben. In der ersten Sitzung des Gremiums am
18.01.2012 jedenfalls, wurde durch die Bundesanwaltschaft und das BKA in
gewohnter Manier gemauert. Selbst Wolfgang Bosbach aus dem rechten
CDU-Flügel war danach nicht mehr zu staatstragenden
Vertrauensbekundungen aufgelegt und ätzte in der Süddeutschen Zeitung
über den Sicherheitsapparat: »Die etwas dazu zu sagen haben, kommen
nicht, und die, die kommen, können nichts sagen.« (SZ, 20.01.2012)
Kein Antifaschismus ist auch keine Lösung
Ungeachtet des Aufklärungsproblems erweisen sich die staatlichen Stellen
als unfähig, die Naziideologie gesellschaftlich zu erfassen. Als
Erklärungsmuster dient ihnen eine »Extremismustheorie«, die aus dem
Umfeld des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts zum Leidwesen des Werkes von
dessen Namensgeberin hochgeschrieben wurde und die seit der
Regierungsübernahme durch CDU/CSU und FDP wieder hoch im Kurs steht. Auf
offene Ohren stößt die Extremismustheorie vor allem bei
Familienministerin Kristina Schröder (CDU), die sie z.B. mit absurd
anmutenden »Aussteigerprogrammen für Linksextremisten« in praktische
Politik überführt.
Inhaltlich beschwört dieser Ansatz eine Bedrohung der Demokratie durch
vermeintliche »Extremisten« im Allgemeinen herauf, unabhängig von
konkreten Einstellungen und politischen Zielen. Es wird ein esoterisches
Ruhen der »freiheitlich demokratischen Grundordnung« in ihrem Zentrum –
eine »Mitte der Gesellschaft« – behauptet, die sich nach links und
rechts hin klar abgrenzen lasse. So kann die Verbreitung von Rassismus,
Antisemitismus oder Antiziganismus in der deutschen
Mehrheitsbevölkerung, die unter anderem Wilhelm Heitmeyer in seinen
jährlichen Studien »Deutsche Zustände« nachweist, abgespalten und an den
schmutzigen Rand der Gesellschaft verschoben werden. »Links- und
Rechtsextremisten« lassen sich damit gedanklich als zwei Seiten einer
Medaille verschweissen. In der Praxis geht es den Behörden allerdings
nicht so sehr um Gleichmacherei: im Zweifelsfall steht der Feind immer
noch links. Konsequenterweise werden Beratungsstellen und Projekte gegen
Rechts unter Generalverdacht gestellt und zur Unterzeichnung einer
»Extremismusklausel« gedrängt. Ansonsten droht die Streichung von
Geldern, die dringend notwenig waren und sind, um beispielsweise in
ostdeutschen Landstrichen gewisse Mindeststandards zu wahren. Der
sächsische Innenminister Markus Ulbig muss den Extremismusbegriff selbst
in einer Erklärung zu den NSU-Morden bemühen: »Antifaschismus ist nicht
die richtige Antwort, sondern Demokratie – Auseinandersetzung aus der
Mitte der Gesellschaft heraus.« Ulbigs »Mitte der Gesellschaft«, die
sich nicht antifaschistisch auseinandersetzt: ihr gehört in der
sächsischen Schweiz oder im Muldentalkreis die Straße.
Deutschland 2012
Mit dem Blick auf das gesellschaftliche Klima in diesem Land, halten wir
es dennoch für falsch, ungebrochen an einer Kritik der deutschen
Zustände von vor 20 Jahren festzuhalten oder diese unter dem Eindruck
der NSU-Morde zu reaktivieren. Weder belegen diese Taten einen rechten
Konsens, noch eine hegemoniale Durchsetzung völkischer Ideologie. Ein
bedauerlicher Einzelfall in einer rundum modernisierten offenen
Gesellschaft sind sie andererseits aber auch nicht. Die durchaus
gegensätzliche Empirie dessen, was heute deutsch ist, muss man aber
wahrnehmen wollen, um nicht Gefahr zu laufen, lediglich liebgewonnene
Erklärungsmuster gegen die Realität zu imprägnieren und das Ganze als
Gesellschaftskritik zu verkaufen. Wir sehen vielmehr derzeit eine
Gleichzeitigkeit bzw. Ungleichzeitig gesellschaftlicher Entwicklungen,
die entlang ökonomischer Parameter, sowie der strukturellen Differenz
von Metropole und Peripherie verlaufen.
Von Flensburg bis Rosenheim, von Saarbrücken bis Zwickau gibt es nach
wie vor das postnazistisch und fremdenfeindlich aufgeladene
Alltagsbewusstsein in der Bevölkerung unter der Losung »Wir sind
Deutsche, was seid ihr«. Es entlädt sich in übler Regelmäßigkeit in dem
Moment, in dem sich diese Deutschen zu »Fun« zusammenrotten. Wo es
nichts zu lachen gibt, weder im ökonomischen, politischen wie
zwischenmenschlichen Verkehr, findet man allein im Hass zusammen. Die
Nachbarn, die seit Jahren um die Farbe des Giebelanstrichs über Kreuz
liegen, leben in der Sicherheit der auf den ersten Blick
identifizierbaren Staatszugehörigkeit. Diese ist weniger durch
Formalitäten wie Geburtsort und Passbesitz geregelt als durch
»natürliche und kulturelle Eigenheiten«: Weißsein, Sprache, Habitus und
Kleidungsstil. Wer abweicht, macht sich verdächtig. Wer angeblich den
Lärm der Bierbänke oder die örtliche Grabesstille stört, zieht
grenzenlose Wut auf sich. Unter den Blicken und dem Mitwissen der
Mehrheitsbevölkerung können sich in solchen Landstrichen Nazis
ungebremst ausleben. Ein_e »Andere_r« für ihre Schläge und Tritte wird
sich schon finden lassen: Migrant_innen, Obdachlose, gehandicapte
Menschen oder junge Punks. Unzählige Male gab es solche Taten. Nach
Hetzjagden und Übergriffen wurden von der Lokalpolitik aber nicht die
Nazis als das eigentliche Problem benannt. Sofern man ihnen nicht gar
mit Verständnis begegnete, attestierten die Verantwortlichen den Medien,
durch kritische Berichterstattung dem Ansehen und dem Tourismus des
Ortes zu schaden.
Das ist das Deutschland der 1990er-Jahre und es ist allen
Absichtsbekundungen der Bundesregierung zum Trotz auch 2012 noch
quicklebendig. Den nationalbefreiten Zonen und Browntowns (und zwar
nicht nur im Osten) konnte der nachhallende »Aufstand der Anständigen«
nichts anhaben.
In Berlin, Frankfurt a.M., Stuttgart, München oder Hamburg sieht das
etwas anders aus. Dass die Großstädte eben nicht homogen konstituiert
sind, wird dort mittlerweile gut gefunden. Migrant_innen kennt man zwar
nicht persönlich, aber als Staffage für einen bunten Multikulti-Alltag
eignen sie sich ganz vorzüglich. (Das ist nebenbei bemerkt eine
Vorstellung, die sich eine offene Gesellschaft als positiv-rassistischen
Karneval der Kulturen bastelt, der Migrant_innen pausenlos auf den
Folklorismus »ihrer Kultur« verpflichtet und darüber auch bei
repressiven Familien- oder Geschlechterpraxen mal ein Auge zudrückt.)
Der Hauch von Internationalität und Kosmopolitismus wird hier im
individuellen Selbstbild der Bevölkerung als Weltläufigkeit affirmiert.
Das ist das Deutschland, das der Bundesregierung vorschwebt und das in
den Metropolen seine Entsprechung findet. Es verwundert kaum, dass hier
schwarz-rot-gold nicht mehr mit dem völkischen Rassismus verbunden wird,
bei dessen Manifestationen in Rostock oder Hoyerswerda die
Nationalfahne flatterte. Schwarz-rot-gold gerät 2012 in Altona oder
Friedrichshain hingegen zum angesagten Accessoire einer zurecht
drappierten Toleranzrepublik. Die Jugendlichen in den Straßencafés und
ihre Alten in den Opernhäusern identifizieren sich mit einer Nation, in
der nicht Christian Worch und Holger Apfel, sondern Xavier Naidoo und
Nazan Eckes als Kulturbotschafter_innen bestellt sind.
Um nicht falsch verstanden zu werden: wir wissen selbst, dass 1. die
Metropole und das mit ihr einhergehende gesellschaftliche Klima bereits
in Hamburg-Rahlstedt endet, dass 2. das zuvor beschriebene
Selbstverständnis eines weltoffenen Deutschlands, das der bürgerlichen
Mittelschicht und ihrer Eliten ist und dass 3. bei Bedarf die Toleranz
schnell entzogen werden kann. Als eine Frage von Repräsentation und
Machtverhältnissen erweist sich für den politischen Kurs der
bundesdeutschen Politik aber als durchaus entscheidend, dass eben dieses
bürgerliche Milieu derzeit von Berlin-Mitte und nicht von
Limbach-Oberfrohna aus den Ton angibt. Inwieweit die
Liberalisierungstendenzen nachhaltig sind, bleibt aber offen. Dass sie
sich selbst in der CDU Bahn gebrochen haben, ist zwar erstaunlich, sagt
aber rein gar nichts über die Unumkehrbarkeit des Wandels. Denn in der
Regierungspartei verschafft sich zunehmend auch eine restaurative
Bewegung gegen den Kurs von Angela Merkel Gehör. Ein denkbarer Streik
der Konservativen, die wohlgemerkt gleichzeitig der jüngeren
Partei-Generation angehören, und ein entsprechender ideologischer
Rollback wäre auch ein Repräsentationsaufstand der Provinz.
Das Verhältnis von Metropole und Peripherie halten wir für eines, jedoch
nicht für das alleinige Entscheidungskritierium für die Frage, ob sich
die herrschende Modernisierungsideologie verfängt. In dem gleichen Maße,
wie die Metropole im Gegensatz zur Peripherie den Anforderungen des
Spätkapitalismus entspringt – der Kapitalismus nicht ohne die Großstadt
denkbar ist – lässt sich die Hartnäckigkeit von völkischem Deutschtum
und seinem Rassismus nicht ohne die ökonomischen Verhältnisse verstehen.
Gerade deshalb sticht das völkische Ticket, ungeachtet unserer
vorstehenden These, auch nach wie vor in so genannten strukturschwachen
deutschen Großstädten, während prosperierende Teile der Provinz davon
bisweilen verschont sind.
Mit Blick auf den Zusammenhang von Rassismus und Kapitalismus ist auch
im modernisierten Deutschland entscheidend, über welchen ökonomischen
Status man verfügt: ob man als migrantische_r Hartz IV-Empfänger_in oder
»ausländische Fachkraft« in diesem Land lebt; ob man als Flüchtling vor
Lampedusa oder als solvente_r Tourist_in auf der »Costa Concordia« im
Mittelmeer ertrinkt. Dass das Ressentiment zudem vom jeweiligen
Migrationshintergrund abhängt und Menschen »aus« Westeuropa oder der
Türkei in jeweils völlig anderem Maßstab entgegen schlägt, sei hier nur
am Rande erwähnt.
Darüber hinaus machen ökonomische Krisensituationen offensichtlich auch
aus selbsternannten deutschen »Weltbürger_innen«, überzeugte
Rassist_innen. Nicht nur das Bestseller-Buch von Thilo Sarrazin weist in
diese Richtung. In der derzeitigen Eurokrise wird auch
gesamtgesellschaftlich das Bild des faulen, unproduktiven »Südländers«
kolportiert, der »unseren« Wohlstand verjubele und diszipliniert werden
müsse. Bezeichnend für den selbstbewussten deutschen Nationalstaat ist
die wirtschaftliche Belehrung und Bevormundung Griechenlands unter
vollkommener Ausblendung der Ausplünderung des Landes und der Ermordung
seiner Bürger_innen während des Zweiten Weltkrieges. Weder in den
Medien noch auf parlamentarischer Ebene werden die ausstehenden
Entschädigungszahlungen für die Massaker der deutschen Wehrmacht auf
Kreta sowie in Kalavryta, Komeno und Distomo thematisiert.
»People will always talk, so lets give them sumthin to talk about« (Lady Gaga)
Die BRD mag »tatsächlich die lockerste Demokratie und mit Abstand der
entspannteste Gewaltmonopolist [sein], der jemals deutsche Pässe
ausgegeben hat« (…Ums Ganze: Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der
falschen Freiheit. Zur Kritik des kapitalistischen Normalvollzugs, S.9.)
– nicht nur aufgrund des beschriebenen institutionalisierten und
alltäglichen Rassismus ist für versöhnliche Töne aber kein Raum. Einer
kritischen Analyse Deutschlands auf der Höhe der Zeit sollte es darum
gehen, die hiesige Gesellschaft als ein Feld von Auseinandersetzungen zu
begreifen, in dem sich 2012 postnazistische und modernisierte Momente
verschränken. Nur so lassen sich die ideologischen Hintergründe, das
Möglichwerden und die staatlich verhinderte Aufklärung der NSU-Morde
begrifflich fassen, ohne von den gesellschaftlichen Entwicklungen der
letzten zehn Jahre abzusehen. Der Versuch einer aktualisierten Kritik,
wie sie von antinationalen Kommunist_innen in den letzten Jahren
formuliert wurde, nimmt im Gegensatz dazu die deutsche
Modernisierungsideologie allzu voll und klammert die
nationalsozialistische Vergangenheit und ihr Fortleben weitgehend aus.
Kritikmaximierung Hamburg
Januar 2012
Weiterer Text
NSU, NPD und Innenministerium
Verfasst von: Antifaschistische Linke Berlin.