Zitatrecht
 
Seit einiger Zeit fällen die Gerichte ihre Urteile in Zitatrechtsfragen zunehmend zugunsten der Pressefreiheit. Wichtig ist nicht nur das öffentliche Interesse an den Informationen, sondern auch, wie privat der Inhalt und wie groß der Verteiler der fraglichen Botschaft ist.
Wenn Journalisten einen "Putschplan" in die Hände 
bekommen, sind sie natürlich erpicht darauf, ihn zu veröffentlichen. 
Diesen Sommer erfuhr die Berliner tageszeitung von einem solchen Plan. Mithilfe der Onlineplattform linksunten.indymedia.org gelangte die Redaktion an Mails und Dokumente, die belegten, dass sehr weit rechts stehende Burschenschaften die Macht im Dachverband Deutsche Burschenschaft übernehmen wollten. "Niemand sollte davon erfahren. Doch die Mails wurden öffentlich", heißt es im Anlauf eines entsprechenden taz-Artikels vom Juli.
Im
 Text folgen ausführliche Zitate. "Da wir erlebt haben, dass der linke 
Mob die Diskussion nicht annimmt (…), müssen wir davon ausgehen, dass 
wir 2012 (…) alle Ämter besetzen müssen/werden", schreibt ein gewisser 
"Ruzi", Mitglied der Karlsruher Burschenschaft Tuiskonia, an seine 
Gesinnungsgenossen. "Diskutiert die Punkte ruhig mal bei Euch auf dem 
Haus (...), aber schaut, dass die Gedanken nicht zu unseren 
Liberalinskis im Verband kommen."
Mit bürgerlichem Namen heißt 
"Ruzi" Rudolf Sch., er gehört zu den sogenannten Alten Herren in seiner 
Burschenschaft, also den nicht mehr Aktiven. Weil ihm missfiel, dass die
 Zitate in dem Beitrag der taz vorkamen, klagte er vor dem 
Landgericht Braunschweig. Im August wiesen die Richter die Klage ab. 
Begründung: Sch. habe keinen persönlichkeitsrechtlichen 
Unterlassungsanspruch (Az: 9 O 1718/11). 
Im Oktober verlor er dann in einer ähnlichen Sache gegen Spiegel Online. Das Nachrichtenportal hatte in einem Beitrag über "Burschenleaks" auf jene Indymedia-Seite verlinkt, auf der die Mails zu finden waren (Az: 9 O 1956/11).
 In beiden Fällen betonte das Gericht das Informationsinteresse der 
Öffentlichkeit. Nachdem die von Sch. angegriffenen Beiträge erschienen 
waren, berichteten auch andere Medien über die Deutsche Burschenschaft. 
Anlass der Berichterstattung war der Versuch einer Burschenschaft, eine 
andere aus dem Verband auszuschließen, weil diese einen Studenten 
chinesischer Herkunft aufgenommen hatte. 
Was folgt aus diesen Urteilen, gegen die Sch. zumindest in der taz-Sache
 bereits Berufung eingelegt hat, für die journalistische Praxis? 
"Grundsätzlich gilt, dass die unbefugte Veröffentlichung von 
vertraulichen Aufzeichnungen das allgemeine Persönlichkeitsrecht 
tangiert, denn der Einzelne hat grundsätzlich ein Recht darauf, selbst 
zu bestimmen, wie er sich in der Öffentlichkeit darstellt", heißt es in 
der Entscheidung zu Spiegel Online. In vergleichbaren Fällen 
klingt es ähnlich. Auf diese Einschätzungen folgt stets ein großes Aber 
zugunsten der Pressefreiheit. 
Die Mär von der Privatsphäre
Journalisten müssten – wie immer, wenn es ums 
Persönlichkeitsrecht gehe – "genau abwägen", ob sie unerlaubt etwas 
Vertrauliches veröffentlichen, erläutert Thorsten Feldmann aus der 
Kanzlei JBB, der Spiegel Online in dieser Sache vertritt. 
Selbstverständlich gehöre die Privatsphäre geschützt, sagt Feldmann. 
Schwierig sei aber zu definieren, wann etwa eine Mail eigentlich privat 
sei. "Nur weil sie über einen kleinen Verteiler geht, ist sie rechtlich 
noch lange nicht privat", sagt Feldmann. Die Braunschweiger Richter 
fanden zum Beispiel, Sch. könne sich nicht auf die Privatsphäre berufen,
 weil die Mails keinerlei privaten Charakter hätten. Schließlich gehe es
 nicht um seinen "familiären und häuslichen Bereich", heißt es in beiden
 Urteilen.
Zwischen den beiden Braunschweiger Verfahren gibt es durchaus einen Unterschied. Die taz
 geht in ihrem weiterhin abrufbaren Beitrag redaktionell auf die Mails 
ein, ohne den vollen Namen des "Putschplaners" zu nennen. Spiegel Online erwähnt Sch. im Artikel gar nicht, auf seinen Namen stößt man nur über den Link zu Indymedia.
 Dort finden sich dann auch weitere Informationen zur Person, unter 
anderem die, dass er für seine politische Tätigkeit seine Mailadresse 
bei einem Autokonzern genutzt hatte. 
Das Braunschweiger Spiegel-Online-Urteil
 belegt, dass sich in der Debatte um die Rechtmäßigkeit von Verlinkungen
 einiges geändert hat. In früheren Fällen spielte in der rechtlichen 
Debatte zunächst lange die Haftungsfrage die Hauptrolle. "Eine Zeitlang 
gab es die Tendenz, die Haftung exzessiv auszuweiten", sagt Feldmann. 
Wer auf einen rechtswidrigen Inhalt verlinkte, wurde als sogenannter 
Störer zur Rechenschaft gezogen, unabhängig davon, was mit dem Link 
bezweckt war.
Einen Wendepunkt brachte 2010 ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH). Anlass des Streits war ein Bericht von Heise Online über die Software AnyDVD – einen "Kopierschutzknacker", wie es in dem Beitrag wörtlich heißt. Weil Heise
 auf die Website verlinkt hatte, wo sich die Software herunterladen 
lässt, klagten acht Unternehmen aus der Musikindustrie, unter anderem 
Sony und BMG – mit Verweis auf Paragraf 95a des Urheberrechts ("Wirksame
 technische Maßnahmen zum Schutz eines nach diesem Gesetz geschützten 
Werkes oder eines anderen nach diesem Gesetz geschützten 
Schutzgegenstandes dürfen ohne Zustimmung des Rechtsinhabers nicht 
umgangen werden"). 
In den ersten beiden Instanzen – Landgericht 
und Oberlandesgericht (OLG) München – bekamen Sony, BMG und Co Recht. 
Der 1. Zivilsenat des BGH urteilte dagegen, dass "die formale 
Gestaltungsfreiheit" Teil der Pressefreiheit sei. Die Kernaussage des 
Urteils: Eine Verlinkung kann auch dann rechtmäßig sein, wenn die 
verlinkten Inhalte rechtswidrig sind (Az: I ZR 191/08). In diesem Zusammenhang kritisierte der BGH das OLG München. Das hatte die Heise-Berichterstattung
 als "vorsätzliche Unterstützung der Rechtsverletzung" bewertet. Die 
Karlsruher Richter vertraten dagegen die Ansicht, "dass gerade die 
Schwere des in Frage stehenden Verstoßes ein besonderes 
Informationsinteresse begründen kann". Sprich: Je schwerer ein 
Rechtsverstoß, desto wichtiger kann die Berichterstattung darüber sein. 
Damit endete ein fast sechsjähriger Rechtsstreit.
"Freiheit für Links"
Das BGH-Urteil spielte auch bei der Argumentation 
der Braunschweiger Richter zu den Burschenschafter-Mails eine Rolle. Im 
Urteil zu AnyDVD heißt es nämlich auch: Generell dürfen Journalisten 
über Äußerungen berichten, "durch die in rechtswidriger Weise 
Persönlichkeitsrechte Dritter beeinträchtigt worden sind" – wenn ein 
überwiegendes Informationsinteresse besteht und der Verbreiter sich die 
Äußerung nicht zu eigen macht. Der Passus bezieht sich unter anderem auf
 eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Az: EGMR 21980/93).
Die
 besondere Relevanz des Braunschweiger Urteils bestehe darin, dass die 
Richter das Motto "Freiheit für Links" auf das Persönlichkeitsrecht 
übertragen hätten, sagt Feldmann. Bemerkenswert sei darüber hinaus, dass
 "das Gericht entschieden hat, dass die Linksetzung sogar dann 
rechtmäßig ist, wenn die Erstveröffentlichung der E-Mails bei Indymedia eine Persönlichkeitsrechtsverletzung gewesen sein sollte". Mit anderen Worten: Ob sich Indymedia
 die Mails auf unrechtmäßige Weise beschafft hat, ist nicht relevant. Es
 gebe, so die Richter, ein Informationsinteresse an der Originalquelle.
Gestärkt wurde die Meinungsfreiheit auch durch ein Urteil des OLG Stuttgart (Az: 4 U 96/10),
 das in einem Rechtsstreit zwischen einem Impfgegner (Kläger) und einem 
Impfgegner-Kritiker zu entscheiden hatte. Letzterer hatte aus einer Mail
 zitiert, die an rund 100 Mitglieder einer geschlossenen Yahoo-Mailingliste
 gegangen war. Der Kläger pries dort den Verschwörungstheoretiker Ryke 
Geerd Hamer, einen ehemaligen Arzt, der heute die "Germanische Neue Medizin"
 propagiert. Nachdem der Hamer-Fan gegen das Zitat geklagt und in der 
ersten Instanz Recht bekommen hatte, hob das OLG das Urteil auf. Die 
Stuttgarter schreiben: "Geschäfts- und Privatbriefe" seien nicht gegen 
Veröffentlichungen geschützt, "sofern der Wille des Verfassers oder 
Berechtigten zur Geheimhaltung nicht deutlich erkennbar ist". 
"Klassischer Enthüllungsjournalismus"
Das Fazit: Etwas ungenehmigt zu veröffentlichen, 
kann durchaus zulässig sein, weil "Privat- und Sozialsphäre nicht 
absolut geschützt" seien. Wenn der Urheber der Veröffentlichung "im 
Wirtschaftsleben oder in der Politik aktiv" sei und am "Meinungskampf" 
teilnehme, müsse er sich "in weitem Umfang der Kritik aussetzen", so das
 OLG Stuttgart. Entsprechende Mails zu veröffentlichen, gehöre in den 
"Bereich des klassischen Enthüllungsjournalismus", sagt Spiegel-Online-Anwalt Thorsten Feldmann. 
Auch
 das Stuttgarter Verfahren macht deutlich, dass sich der Begriff 
Privatsphäre unterschiedlich interpretieren lässt. Nach Ansicht der 
Richter konnte im vorliegenden Fall von einer privaten Mail nicht die 
Rede sein, weil sie an eine Mailingliste gegangen war, deren Mitglieder 
der Kläger gar nicht alle persönlich kennt. Einen 
"Vertraulichkeitsschutz" biete die Liste schon deshalb nicht, weil man 
dort unter Pseudonym Mitglied werden kann. Der Stuttgarter Fall ist aber
 noch nicht beendet. Nachdem das OLG eine Revision nicht zugelassen 
hatte, hat der Unterlegene eine Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH 
eingelegt (Az: VI ZR 317/10).
Als
 wichtigstes Urteil in Sachen unerlaubtes Mail-Veröffentlichen gilt eine
 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVG) vom Februar 2010. In 
dieser Sache (Az: 1 BvR 2477/08) unterlag der Berliner Anwalt Christian Schertz dem Onlineportal der Neuen Rheinischen Zeitung. Der prominente Jurist hatte geklagt, weil nrhz.de
 aus einer Mail zitiert hatte, die Schertz den Machern der Website auf 
deren Anfrage geschickt hatte – anders als in den anderen Fällen ging es
 hier also nicht um eine auf Umwegen, möglicherweise sogar auf 
unrechtmäßige Art beschaffte Mail. nrhz.de hatte auf sarkastische
 Weise angefragt, ob man einen Prozessbericht mit einem Foto bebildern 
dürfte, das auf der Website der Kanzlei zu finden war und das Schertz 
und dessen damaligen Sozius Dominik Höch zeigte. Schertz untersagte 
dies, auch im Namen Höchs.
Dieses BVG-Urteil spielte auch bei der Spiegel-Online-Sache
 in Braunschweig eine Rolle – zwar nicht in der Urteilsbegründung, aber 
in der mündlichen Verhandlung. Die Karlsruher Entscheidung, sagt 
Thorsten Feldmann, sei von großer Bedeutung, nicht nur, was Mails und 
Briefe betrifft, sondern weil sie deutlich mache, dass man alles aus der
 Sozialsphäre veröffentlichen darf, sofern es keine Prangerwirkung hat. 
Die Verfassungsrichter konnten nicht erkennen, "dass das mit dem Zitat 
berichtete Verhalten des Klägers ein schwerwiegendes Unwerturteil des 
Durchschnittspublikums nach sich ziehen könnte, wie es der Annahme einer
 Anprangerung vorausgesetzt ist". Genau dies hatten die Vorinstanzen, 
das Landgericht und das Kammergericht Berlin, angenommen.
Meinungsfreiheit bleibt Meinungsfreiheit
Mindestens ebenso wichtig ist eine Passage aus dem 
Urteil des Verfassungsgerichts, die sich auf das Interesse der 
Öffentlichkeit bezieht. Während es bei "Burschenleaks" und auch in der 
Mail des Impfkritikers um gesellschaftlich relevante Themen geht, ist 
die Weigerung eines Anwalts, einem Medium zu gestatten, dass es ein auf 
seiner Website publiziertes Foto nutzt, von vergleichsweise geringem 
öffentlichen Interesse.
Dazu stellen die Karlsruher Richter klar,
 das öffentliche Interesse sei zwar ein "wesentlicher Abwägungsfaktor", 
wenn es um die Kollision von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten
 gehe. Daraus folge aber nicht, "dass die Meinungsfreiheit nur unter dem
 Vorbehalt des öffentlichen Interesses geschützt wäre". Es stelle "eine 
verfassungsrechtlich bedenkliche Verkürzung dar", wenn der Kläger nur 
Recht bekomme, weil dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht über dem 
Informationsinteresse der Öffentlichkeit stehe. Oder um es mit dem Medienjournalisten Stefan Niggemeier
 zu sagen: "Artikel 5, Absatz 1, Satz 1 des Grundgesetzes lautet nicht: 
'Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu 
äußern und zu verbreiten, solange es sich um ein wichtiges Thema handelt
 und ein Interesse der Öffentlichkeit an dieser Meinung besteht.'"
