In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ereigneten sich im gesamten
 deutschen Reichsgebiet massive Gewaltexzesse und Sachbeschädigungen 
gegenüber jüdischen BürgerInnen und ihrem privaten und öffentlichen 
Besitz wie Geschäften und Synagogen. So wurde auch in Duisburg die 
Synagoge in der Innenstadt niedergebrannt, ebenso die Synagogen in den 
Stadtteilen Ruhrort und Hamborn. Wir wollen, 72 Jahre nach den 
Ereignissen dieser Novembernacht, den Fokus der Betrachtung zumindest 
ein wenig zu verschieben versuchen: Weg von einer bloßen Erwähnung der 
Ereignisse hin zu einer Kontextualisierung ins Zeitgeschehen. Wir wollen
 uns der Frage widmen, welche Ideologie(n) innerhalb einer Gesellschaft 
der breiten Zustimmung bedürfen, damit derartige Vorgänge ohne 
nennenswerte Proteste und Unmutsäußerungen geschehen können, und wir 
wollen uns auch der Frage widmen, inwiefern einzelne Versatzstücke der 
damals in der deutschen Bevölkerung verbreiteten Geisteshaltungen noch 
immer in den Köpfen vieler MitbürgerInnen vorhanden sind.
Dienstag, 9.11.2010 – 17.00 Uhr – Mahnmal an der alten Stadtmauer (Rabbiner-Neumark-Weg) – Duisburg
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ereigneten sich im 
gesamten deutschen Reichsgebiet massive Gewaltexzesse und 
Sachbeschädigungen gegenüber jüdischen BürgerInnen und ihrem privaten 
und öffentlichen Besitz wie Geschäften und Synagogen. So wurde auch in 
Duisburg die Synagoge in der Innenstadt niedergebrannt, ebenso die 
Synagogen in den Stadtteilen Ruhrort und Hamborn. Auch wenn dies in den 
längst gleichgeschalteten deutschen Medien so dargestellt wurde, 
handelte es sich nicht um eine spontane Erhebung eines wie auch immer 
gearteten ‚deutschen Volkszorns‘, sondern um eine abgestimmte Aktion 
unter Anführerschaft der nationalsozialistischen Schlägertruppen, der 
SA. Am Abend des 10. November – die Zerstörungswut des deutschen Mobs 
fand am Folgetag in vielen Städten und Gemeinden noch lange nicht ihr 
Ende – konnte man im ganzen Reich eine grausame Bilanz ziehen: Hunderte 
Geschäftsräume, Friedhöfe und Synagogen waren verwüstet, zerstört oder 
in Brand gesetzt, Menschen auf offener Straße verprügelt oder gar 
getötet worden.
Diese Ereignisse markierten eine massive Radikalisierung der 
antijüdischen Politik des NS-Regimes: Bis dato hatte das NS-Regime den 
deutschen JüdInnen vor allem auf legalistischem Wege die Partizipation 
am öffentlichen Leben Schritt für Schritt unmöglich gemacht: Zunächst 
mit weitreichenden Berufsverboten und dem Ausschluss aus 
Bildungsanstalten wie den Universitäten, später dann mit den ‘Nürnberger
 Rassegesetzen’, die so genannte “Mischehen” zwischen JüdInnen und 
NichtjüdInnen verboten. Im Vorlauf des Jahres 1938 war es zudem zu den 
so genannten “Arisierungsmaßnahmen” gekommen, hinter denen sich nichts 
anderes als die radikale Enteignung vor allem mittelständischer 
jüdischer UnternehmerInnen verbarg. Der völkische Antisemitismus, längst
 zur offiziellen NS-Staatsräson geworden, wurde in der Folge der 
Pogromnacht in seinen Erscheinungsformen immer gewalttätiger und 
kulminierte letztlich in dem Versuch, alle JüdInnen Europas gezielt und 
umfassend zu ermorden, in der Shoah.
In den Ereignissen vom 9./10. November zeigte sich aber noch Einiges 
mehr: Nicht nur, dass der Nationalsozialismus und seine SachwalterInnen 
auf allen Ebenen bereit und willig waren, ihre politischen Pläne 
notfalls mit Gewalt durchzusetzen, die Administration konnte sich 
vielerorts auch auf die tatkräftige Unterstützung der Bevölkerung 
verlassen: Gerade in den Gewaltexzessen der Reichspogromnacht griff eben
 nicht nur die SA, sondern auch der ‚ganz normale Deutsche‘ zum Stein, 
um die Geschäfte jüdischer NachbarInnen einzuwerfen. Die umfassende 
Durchführung der Zerstörungsmaßnahmen ließ dabei bereits jene deutsche 
Gründlichkeit erahnen, mit der der Mord an den europäischen JüdInnen in 
der Folge ins Werk gesetzt wurde: An vielen Orten zogen sich die 
Verwüstungen über Stunden hinweg und endeten erst dann, wenn 
buchstäblich auch noch der letzte Wertgegenstand in jüdischen Wohnungen 
zerschlagen und jedes Möbelstück unbrauchbar gemacht worden war.
Die von den Nazis aufgrund der Menge an zu Bruch gegangenen 
Fensterscheiben zur ‚Reichskristallnacht‘ stilisierten Vorgänge hatten 
demnach einen Doppelcharakter: Einerseits wurde den jüdischen 
MitbürgerInnen klar gemacht, dass sie in der noch zu formenden deutschen
 Volksgemeinschaft keinen Platz mehr finden würden, andererseits hatte 
man anhand dieser Ereignisse einen Gradmesser bezüglich der Frage, 
inwiefern zügellose Gewalt von der breiten Masse der Bevölkerung 
toleriert oder gar befürwortet wurde. Vielerorts richtete sich die 
Empörung der Deutschen nämlich, wenn überhaupt, nur gegen die scheinbar 
sinnlose Zerstörungswut ihrer VolksgenossInnen, vereinzelt wurde gar der
 Ruf laut, man hätte die zerstörten Sachwerte doch besser umverteilen 
sollen, statt sie dem Feuer zu übergeben. Der Testballon, den die 
Führungsspitze hatte steigen lassen, um zu prüfen, wie derartige 
gewaltförmige Exzesse in der Öffentlichkeit rezipiert würden, hatte 
durchweg positive Ergebnisse gezeitigt; denn es gab kaum nennenswerten 
Widerstand in der Restbevölkerung, zumindest nicht, solange sich derlei 
Maßnahmen gegen JüdInnen richteten. In der Folge kam es, vor allem in 
deutschen Großstädten, zu einer eklatanten Zunahme an Fällen von Suizid 
in der jüdischen Bevölkerung: Die Aussichts- und Ausweglosigkeit der 
eigenen Lage erschien vielen Menschen derart bedrückend, dass ihnen kaum
 eine andere Wahl zu blieben schien. Eine auch nur annähernd adäquate 
Einschätzung der Opferzahlen erscheint bis heute unmöglich, auch 
deshalb, weil im Anschluss das Morden in den Konzentrationslagern 
weiterging.
In der gegenwärtigen Bundesrepublik wird die Erinnerung an die 
Ereignisse vom November 1938 durchaus gepflegt: In beinahe jeder 
größeren deutschen Stadt gibt es am 9. November Gedenkveranstaltungen, 
organisiert von kirchlichen und/oder städtischen Organisationen, nicht 
zuletzt auch immer wieder unter Einbeziehung der örtlichen jüdischen 
Gemeinden. Eine umfassende Beschäftigung mit der jeder Stadt eigenen 
Lokalgeschichte intensivierte sich erst im Zuge der 1990er Jahre, als 
ein Großteil der damals federführenden Schlägertrupps schon längst 
verstorben war. Zuvor hatte eine Mischung aus Desinteresse und 
Verschwiegenheit beinahe jedes Gedenken, das über den bloßen 
ereignisgeschichtlichen Zugang hinausging, verhindert.
Heute scheint sich dies geändert zu haben: In vielen deutschen Städten 
sind Erinnerungstafeln, ‚Stolpersteine‘ und Gedenkstätten errichtet 
worden, um gegen das Vergessen und Nicht-Erinnern anzukämpfen. 
Schulklassen werden durch das Stelenfeld in Berlin oder die 
NS-Dokumentationsstätten in ihren Heimatstädten geführt, im 
Schulunterricht wird in verschiedenen Fächern und zu verschiedenen 
Anlässen die Thematik Nationalsozialismus behandelt. Es lässt sich 
festhalten: Die Erinnerung an die Shoah und alle Ereignisse, die ihr 
vorausgingen, sind ein fester Bestandteil bundesdeutscher 
Erinnerungspolitik, bisweilen ist sogar vom “Holocaust als negativem 
Grüdungsmythos der Bundesrepublik” die Rede, ein Gründungsmythos, der 
schonmal für die nachgerade Legitimation von bundesdeutschen 
Angriffskriegen dienen kann.
Was diese staatliche Erinnerungspolitik jedoch weder leisten kann, noch 
will, ist eine profilierte Ideologiekritik: Über die Inhalte der 
NS-Ideologie, die spezifische historische Genese des Antisemitismus und 
auch den Rassismus, der beinahe die gesamte deutsche Gesellschaft 
erfasste, wird geschwiegen. Derartige Diskussionen werden zwar im 
akademischen Rahmen an Universitäten und auf HistorikerInnentagungen 
geführt, aber eine Vermittlung der dort gesammelten Erkenntnisse, etwa 
über den korporativen Charakter des Nationalsozialismus, über das Wesen 
der Volksgemeinschaft, über das Verständnis dessen, was ein deutscher 
und nationaler Sozialismus bedeutete, über die mindestens schweigende, 
meistens jedoch begeistert zustimmende Massenbasis, derer sich die 
politischen Entscheidungsträger bei jeder noch so menschenverachtenden 
Gesetzesänderung sicher sein konnten, findet nicht statt. Stattdessen 
wird vielerorts noch immer ein Bild einer Gesellschaft vermittelt, in 
der eine kleine, machtbesessene und letzten Endes psychopathische Elite –
 Hitler, Goebbels, Göring und einige ihrer Adjutanten sowie die 
Mörderschwadrone der SS, in denen niemand gewesen sein will – eine 
große, berauschte, dennoch aber unschuldige Masse von Menschen quasi 
schlaftrunken in den Untergang führte. Derlei Pathologisierungen führen 
die Erinnerungspolitik ebenso notwendiger- wie stringenterweise auf das 
Abstellgleis der Geschichte: Erinnerung, so stellte Eike Geisel vor fast
 zwanzig Jahren schon fest, ist in Deutschland nicht mehr und nicht 
weniger als die höchste Form des Vergessens.
Dass es zur Umsetzung der NS-Diskriminierungs- und später: 
Vernichtungspolitik aber nicht nur amoralischer Handlanger und Gehilfen 
bedurfte, sondern Menschen, die ihre Entscheidungen aus bestem Wissen 
und Gewissen trafen und ihr Treiben mit minutiöser Genauigkeit ins Werk 
setzten, spielt in der Vermittlung keine Rolle. Viel zu sehr ist man 
damit beschäftigt, die Vorgänge zu entpersonalisieren und externalisiert
 allzu schreckliche Vorgänge zum Werk von Menschen, die keine Spuren in 
der Gesellschaft zu hinterlassen haben scheinen: Kaum ein Deutscher 
glaubt, in der eigenen Familie habe es so etwas wie “waschechte” Nazis 
gegeben, immer waren es die anderen.
Wir wollen, 72 Jahre nach den Ereignissen dieser Novembernacht, den 
Fokus der Betrachtung zumindest ein wenig zu verschieben versuchen: Weg 
von einer bloßen Erwähnung der Ereignisse hin zu einer 
Kontextualisierung ins Zeitgeschehen. Wir wollen uns der Frage widmen, 
welche Ideologie(n) innerhalb einer Gesellschaft der breiten Zustimmung 
bedürfen, damit derartige Vorgänge ohne nennenswerte Proteste und 
Unmutsäußerungen geschehen können, und wir wollen uns auch der Frage 
widmen, inwiefern einzelne Versatzstücke der damals in der deutschen 
Bevölkerung verbreiteten Geisteshaltungen noch immer in den Köpfen 
vieler MitbürgerInnen vorhanden sind.
Gedenkkundgebung:
09.11.2010 (Dienstag) | 17.00 Uhr
Mahnmal an der alten Stadtmauer
Rabbiner-Neumark-Weg – Duisburg


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