Claus Peymann über Frauenkleider, Kommunisten, das Elend der Demokratie und die mühsame Suche nach Gegnern
Claus Peymann, stellen Sie sich vor: Sie gehen in den Fundus Ihres Theaters und dürfen sich ein Kostüm heraussuchen - welches nehmen Sie?
Um Gotteswillen! Ich bin kein Schauspieler. Die sind ja die bunten 
Hühner auf der Bühne. Ich gehe in Schwarz, das ist mein Grundkostüm.
Trotzdem: Ritterrüstung - oder vielleicht Toga?
Wahrscheinlich würde ich mir ein Frauenkostüm anziehen. Das wäre das 
absolut Extravagante, das total Fremde. In so einem Kostüm würde ich 
jetzt gern auch hier sitzen. Aber das sage ich nur so dahin. Ich würde 
es ja nicht tun.
Der Mut von Theaterleuten ist ein ausgeborgter?
Wir sind nur kühn im Spiel. Aber was heißt: »nur«. Nur ist falsch.
Schiller: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«
Ja. Die Schauspieler hauen sich eine Perücke auf den Kopf, setzen sich 
eine Krone auf, und sie sind plötzlich andere Wesen. Das ist doch unsere
 entscheidende Mitgift: Wir Menschen können aus dem, was ist, die 
Vorstellung entwickeln, was sein könnte. Das ist großartig - und das ist
 ebenso kreuzgefährlich.
Die schöne Verantwortungslosigkeit!
Na ja, nicht ganz. Den Zorn gegen das Unrecht und gegen die 
Ungerechtigkeit, den sollte die Kunst schon schüren. Sie ist Solidarität
 mit Schwachen, sie ist Angriff auf die Mächtigen, mit Mitteln der 
Übertreibung - die natürlich nur kurze Zeit wirkt. Auf der Bühne können 
wir durchspielen, was sich vor den Türen des Theaters sofort verbietet. 
»Wo Gewalt herrscht, hilft nur Gewalt«, sagt Brechts »Heilige Johanna 
der Schlachthöfe«. Schärfer ist das Prinzip der RAF nicht zu 
formulieren.
Liegt in solchen Spreng-Sätzen das Politische des Theaters?
Politisch am Theater ist sein Grundcharakter: Menschen treffen 
aufeinander und reagieren - unterschiedlich, aber doch gemeinsam - auf 
etwas, das ihnen da oben auf der Bühne vorgegaukelt wird. Und hinterher 
sind sie wieder Spießer, Alkoholiker, Nazis, Egoisten. Aber der heilige 
Moment des Innehaltens während einer Aufführung, der ist nicht 
kleinzureden.
Er entspricht dem katholischen »Augenblick der Wandlung«.
Vielleicht bleiben Haarrisse im Beton der Seele. Haarrisse sind die Chance der Kunst.
Wann immer im Lande um Wahrung und die Wehrhaftigkeit der 
Demokratie gestritten wurde, haben Sie kräftig mitgestritten. 
Grundsätzlich gesagt: Demokratie macht weich für Bündnisse. Verdirbt sie
 damit den Charakter, macht gar zu biegsam?
Je älter ich werde, desto mehr wachsen meine Zweifel an der inzwischen 
vollständig degenerierten Demokratie. Ich bin aufgewachsen als ein Kind 
des Faschismus und habe dann die Demokratie geradezu aufgesogen, ich 
halte sie für die bislang günstigste Form gesellschaftlichen 
Zusammenlebens. Aber es ist doch zum Verzweifeln: Wir leben in einem 
katastrophal niveaulosen Selbstbedienungsladen, der wird geführt von 
Politikern, die längst an der Kette derer hecheln, die mit diesem 
Zustand die dicke Knete verdienen.
Sie haben mal gesagt: »Seit meiner Schulzeit habe ich alle Möglichkeitsformen des Revolutionärs durchfantasiert.«
Ja, ich war junger Kommunist - im aggressiven Abnabelungsprozess gegen 
meinen Vater, der NSDAP-Mitglied war. Ich fühlte mich als junger 
Anarchist. Theoretisch jedenfalls. Bis dann in den sechziger Jahren in 
der Bundesrepublik jene Phase eintrat, in der man als Student ergriffen 
wurde von tatsächlicher gesellschaftlicher Veränderung.
Marxist wurden Sie nicht.
Um Himmels Willen! Meine Leidenschaft für Links war immer gepaart mit 
Skepsis. Zur Geburtsstunde der russischen Revolution - nicht erst unter 
Stalin, schon unter Lenin - gehörte der Terror, gehörte die Diktatur 
einer Kaderpartei. Im Westen sahen wir schaudernd, wie moskauhörig der 
Osten war. Bereits die Französische Revolution lehrte, dass die 
ersehnten Umstürzler von heute die Diktatoren von morgen sind.
Als Achtundsechziger kannten Sie den Punkt, von dem aus Sie die Welt beurteilen,bekämpfen konnten. Wo ist der Punkt heute?
Das ist eine entscheidende Frage. Von der theoretisch abgesicherten 
Bastion des Sozialisten oder des Kommunisten war es immer sehr leicht zu
 sagen: Dort ist der Feind, nämlich der Monopolkapitalismus und der 
Weltimperialismus - also los, vorwärts! Aber der Sozialismus wurde voll 
gegen die Wand gefahren, er wurde erstickt in einem wattigen, auch 
militanten Spießertum mit viel Unrecht. Da ist ein Experiment erst mal 
auf der ganzen Linie gescheitert ...
... und mit ihm die elende Besserwisserei, wie Geschichte laufe und zu laufen habe.
Die Schlagkraft einer sozialistischen Argumentation ist ruiniert. Die 
parteipolitische Linke krankt am alten Übel: Immer sind die anderen an 
allem schuld, und man selber sieht sich als einzig wahren Verteidiger 
von Bevölkerungsinteressen. Das ist einfach, aber falsch.
Warum sind Sie nie Mitglied einer Partei geworden?
Das widerstrebt meinem Freiheitsbegriff.
Wie halten Sie es mit dem Satz aus »Don Carlos«, man solle Achtung tragen vor den Träumen seiner Jugend?
Es heißt: Wer mit zwanzig kein Kommunist ist, sei ein Trottel, aber wer 
mit vierzig noch Kommunist ist, sei der weit größere Trottel. Und Brecht
 lässt seinen Herrn Keuner erbleichen, als dem bescheinigt wird, er habe
 sich ja gar nicht verändert. Das bleibt die schwierige Frage: Ist 
Standpunkttreue ein Zeichen von Charakter oder von Dummheit und 
Unbeweglichkeit? Peter Stein - wir haben damals gemeinsam in Berlin die 
Schaubühne gegründet - war Leninist und Marxist erster Ordnung, heute 
ist er aber so was von einem strammen Monarchisten. Soll man diese 
Metamorphose nun Verrat am Jugendtraum oder eine heilsame 
Erwachsenenbildung nennen?
Sie sagen von sich, noch immer »als merkwürdiges Monstrum« durch 
die Gegend zu rennen, »versuchend, meine früheren Positionen nicht zu 
verraten«.
An die Verbesserung des Menschen durch die Kunst glaube ich noch immer. 
Aber ich fühle mehr und mehr die Einsamkeit, die mit der Treue von 
solchen Botschaften verbunden ist, wie sie die Herren Lessing und 
Schiller so leidenschaftlich propagiert haben. Ich sitze dann etwas 
ratlos da, spüre angesichts unserer finsteren Zeiten meine 
Lächerlichkeit und fühle mich wie ein Theater-Nilpferd, das im Abseits 
steht.
Immerhin: ein Abseits von einer Welt, die es verdient, dass man sich von ihr abkehrt.
Der große Regisseur Max Reinhardt hat gesagt: »Das Theater ist der 
seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die
 Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an 
ihr Lebensende weiterzuspielen.« Das ist doch wunderschön. Auch, dass er
 sagt, wir machen uns auf und davon. Theatertüren zu, künstliches Licht 
an - raus aus dieser öden Welt! Aber eben, um mit neuer Kraft in sie 
zurückzukehren. Na ja, man beschwört die Kraft - und hat sie nicht mehr.
 In diesem Widerspruch befinde ich mich und kann ihn nicht auflösen.
Sie wären gern Schriftsteller geworden.
Ja. Im Notfall Journalist. Aber nur im Notfall.
Danke.
Bitte. Dieser unerfüllte Traumberuf des Schriftstellers ist 
wahrscheinlich die Ursache dafür, dass meine Freunde und Weggefährten 
immer die Dichter waren. Nicht die Schauspieler. Die Probe mit diesen 
wunderbaren Leuten ist für mich der feierliche, der heilige Akt, da 
entsteht eine Innigkeit, wie sie eine gewöhnliche Liebesgeschichte nie 
ermöglicht. Weil wir so hineinsteigen in unsere Schrecknisse. Aber meine
 Freunde draußen waren immer die Schriftsteller. Von Thomas Bernhard bis
 Peter Handke, von Thomas Brasch bis Christoph Ransmayr, von Peter 
Turrini bis Gerlind Reinshagen.
Entspricht das Theater Ihrem Naturell?
Ich bin vom Sternbild her Zwilling, wahrscheinlich ein äußerlicher, nach
 Kontakten und Zuwendungen gierender Typ. Und zugleich schüchtern, man 
will’s gar nicht glauben. Aber im Theater treffen sich alle 
Schüchternen. Die werden erst in der Verwandlung andere Menschen.
Öffentlichkeit als bester Ort, um sich zu verbergen.
Möglich, ja.
Immer wieder polemisieren Sie gegen die Gestaltungskraft einer 
Regie, die sich mit Bild und Bearbeitung rigoros und rücksichtslos zum 
Herrn über literarische Vorgaben erklärt.
Samuel Beckett schreibt in einem seiner Briefe, dass er sich gerade mal 
wieder über einen deutschen Regisseur geärgert hat, und dann kommt der 
Satz: »Man sollte alle deutschen Theaterregisseure in einen einzigen 
Theaterregisseur hineinpacken und ihm alle fünf Minuten in die Eier 
schießen.« Zur Strafe dafür, dass sie fortwährend an der 
Theaterliteratur herumreparieren. Das ist doch ein Elend! Wie lange wird
 es dauern, dass Minna von Barnhelm nicht mehr von einer Frau und 
Wilhelm Tell nicht mehr von einem Mann gespielt werden? Unsäglich. Die 
Literatur ist der Ausgangspunkt meiner Theaterarbeit. Ich weiß, dass das
 etwas Unzeitgemäßes an sich hat.
Kunst, so könnte man manchmal annehmen, ist immer auch ein bisschen wie das Pfeifen im Wald.
Ich lehne trotzdem diese Überlebensstrategien ab, die mir andauernd 
suggeriert werden: Zynismus, Coolness, Egozentrismus. Soll nur niemand 
unterschätzen, wie schnell etwas umschlagen kann. Wenn man sich die 
gegenwärtige ökonomische und politische Krise anschaut, diesen 
unglaublichen Moralverlust auf so vielen Ebenen - das kann einem Angst 
machen. Früher hieß es, nur die Idioten gehen zum Militär, längst 
scheinen auch in die Politik einzig nur die Idioten hineinzustapfen. Das
 kann nicht endlos gutgehen. Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch, gepaart
 mit vollständiger Inkompetenz der Verantwortlichen, das kann auch ein 
friedliches Westeuropa sehr schnell in ein Pulverfass verwandeln.
Der Verlust von Utopien ist unbestreitbar.
Deshalb fühle ich mich als Theatermacher in der glücklichen Situation, 
den Beruf eines Träumers ausüben zu dürfen. Trotz aller Hilflosigkeit. 
Peter Handke hat sogar die Vorstellung, es könne nach der gescheiterten 
Demokratie vielleicht eine neue Art von Königtum entstehen. Solche 
Gedanken sind nur in der Kunst möglich, aber nötig. Poesie rettet die 
Welt in den Traum, ohne den sie nicht auszuhalten wäre.
Sie, der Theatermann, träumen - und das Volk, wie Brecht sagte, vergleicht die Käsepreise.
Schon immer irrten sich Revolutionäre leidenschaftlich in der 
Beurteilung des Volkes. ’68 sind wir hin zu den Opel-Arbeitern in 
Frankfurt, um sie agitierend auf unsere Seite zu ziehen. Die jagten uns 
zum Teufel. Die waren froh, einen Job zu haben. Die waren glücklich 
entfremdet. Wer sich heute als Partei für Arbeit einsetzt, der tut 
Gutes, aber er setzt sich immer auch für die Festigung der 
kapitalistischen Entfremdung ein. Toller Widerspruch. Wieder bin ich 
froh, dass ich weit weg und nur der Märchenonkel bin, der hier am 
schwarzen Ufer der Spree sein Unwesen in Pappkulissen treiben durfte.
Gegen wen sollte die Kunst, das Theater kämpfen?
Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit Jean Ziegler, einem der rigorosesten
 Moralisten unserer Zeit. Man hört ihm zu und erlebt einen kämpferischen
 Menschen, der die Zusammenhänge voll durchschaut. Er spricht als völlig
 Gerechtfertigter, er ist ein wahrer Aufstand des Gewissens. Er sagt: 
»Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet.« Das ist seine Wucht. 
Und das ist die Wahrheit ...
Aber was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Eben, das ist die Schwierigkeit. Wo konkret ist der Gegner? Das kann ja 
nicht die Angela Merkel sein, das kann ja nicht der Hollande sein. Dies 
sind doch in mehrfacher Hinsicht keine Gegner. (Lacht.) Die Angela 
Merkel kommt öfters ins Berliner Ensemble - manchmal sage ich 
zugespitzt: Dass sie diesen wirklich gewaltigen, diesen großartigen 
Moment in der Flüchtlingskrise hatte und ihr berühmtes »Das schaffen 
wir!« sagte, das hat mich gerührt, und das ist vielleicht auch auf die 
aufklärerische, herzensbildende Arbeit des BE zurückzuführen. (Lacht 
wieder). Also: In dieser Gesellschaft, in der wir leben, vergrößert sich
 permanent das Unrecht.
Die Reichen werden immer reicher, die Armen ärmer und ärmer, die Ausbeutung wächst.
Aber jeder Industrie- und Bankenboss würde sich gegen den Anwurf wehren,
 er ließe absichtlich Kinder verhungern. Der Gegner war für Shakespeare 
leicht zu sehen: Das waren die Könige, die galoppierten mit ihren 
Pferden direkt in das Schlafzimmer der Bauerntöchter hinein. Wir aber 
sind Gefangene von Strukturen, das ist ein Netz, in das wir alle 
verstrickt sind.
Sie können niemanden ausmachen, den Sie direkt angreifen können.
Es herrscht eine vollständige Vernebelung dieser Machtstrukturen. Wir 
leben in einer Zeit von Konstellationen, bei denen einerseits Mauern 
fallen und andererseits neue Mauern errichtet werden. Riesige Mauern, um
 diejenigen, die doch mit Recht ihr Recht verlangen, wegzuhalten von 
uns. Also: Wo ist der Feind - und wie sieht heute der Traum einer 
gerechteren Gesellschaft aus, wie können wir diesen Traum befördern? In 
dieser Zeit, in der die alten Ordnungsrezepte verbraucht sind. Ich weiß 
keine Antwort. Und sehe darin auch das Scheitern meiner Arbeit am 
Berliner Ensemble. Wir stochern, und der Höchstgrad der Wahrhaftigkeit 
ist schon erreicht, wenn wir im Brand der Welt unsere Ratlosigkeit 
gestehen. Immerhin das.
Aber ist da nicht verständlich, dass Regisseure sagen: Mit den 
alten Stücken allein geht es nicht? Also greift das Theater zu 
Aktualitäten, bringt Flüchtlinge und Arbeitslose auf die Bühne. Wie will
 ich mit »Minna von Barnhelm« auf Fragen antworten, die Sie eben 
aufgeworfen haben? Oder zum 200. Mal mit »Hamlet«?
Es ist ja alles erlaubt, und meine Beurteilung ist kein Verdikt. Aber 
ich finde es peinlich und geschmacklos, wenn man zehn Schwarze auf die 
Bühne bringt, und die schreien »Freiheit!« Das schafft allen Beteiligten
 ein gutes Gefühl, aber es ist ein Konsens, der etwas Touristisches hat.
 Aber vielleicht bin ich zu alt, um das zu verstehen.
Die Wirklichkeit als unmittelbarer Kunstgegenstand.
Eine vorsichtige Freundschaft hat mich mit Joseph Beuys verbunden. Er 
hat das Authentische in der Kunst gewissermaßen erfunden. Er legte eine 
Rose auf einen Tisch, schrieb seinen Namen darunter und sagte: 10.000 
D-Mark. Tatsächlich lag die Rose so, wie sie kein anderer hingelegt 
hätte. Und so verbreitete sich die Auffassung, alles Einmalige, alles 
Unverwechselbare, und sei es noch so banal und profan, sei schon Kunst. 
Der Begriff von Kunst verbreitete sich ins Unendliche. Und das führte 
auf fatale Weise zurück in die Wirklichkeit: Aus der Individualität 
wurde eine gigantische Ich-Show. Die sehe ich, wohin ich auch blicke. 
Ich komme aus einer anderen Tradition. Sturm und Drang, deutsche 
Klassik, Aufklärung. Wie gesagt, für mich bleibt die Geschichte, die das
 Theater erzählt, der Mittelpunkt.
Sie reden, als sei Ihr Theater eine Rettungsstelle.
An irgendeiner Stelle muss das Kunstvermögen doch gespeichert werden. 
Francois Truffauts Film »Fahrenheit 451« zeigt eine Welt, in der Bücher 
verboten sind. Eine Feuerwehr ist unterwegs, die Literatur verbrennt. 
Und was machen Menschen, weit vor den Mauern der Stadt, wo die Gleise im
 Unkraut versinken, wo verkrüppelte Bäumchen stehen? Allein oder in 
Grüppchen gehen sie, vor sich hin murmelnd, spazieren: Sie lernen Bücher
 auswendig! Sie retten Literatur. Der Mensch als lebendige Bibliothek.
Man wirft Ihnen mitunter vor, Ihr Theater sei ein Museum.
Wenn man mir das vorwirft, so ist das ganz klar böse gemeint. Aber es 
gibt Momente, da empfinde ich es zutiefst als Kompliment. Ist doch toll,
 Geschichten so zu bewahren, wie sie geschrieben wurden. Wie es die 
Menschen bei Truffaut mit ihren Büchern tun. Und natürlich haben wir die
 Weisheit gepachtet, denn die Dichter verfügen tatsächlich über den 
prophetischen Blick. Die sehen die Apokalypse, während wir noch glauben,
 es gehe uns gut. Deshalb glaube ich an diese besonderen Menschen. Sie 
sind wie die Seher in den uralten Gesellschaften. Die haben ja nicht nur
 den Vogelflug kontrolliert, sondern ein Sensorium entwickelt für die 
Zeichen der Zeit. Thomas Mann hat schon in den zwanziger Jahren die 
marschierenden Stiefel gehört. Lesen Sie nach, was Peter Handke in 
Jugoslawien voraussah. Und auch wir hatten Recht, als wir gegen den 
Vietnamkrieg protestierten. Gegen die öffentliche Meinung! Ja, wir haben
 Recht gehabt, wir!, nicht die Polizei, nicht die Bundesregierung, nicht
 die Amis! Heute halten es die Amerikaner auch für einen Fehler, damals 
diesen Krieg vom Zaun gebrochen zu haben. Diesen und andere Kriege. 
Immer erst hinterher kommt die Politik auf den Trichter. Und die 
Künstler wurden verspottet, verunglimpft, verjagt.
Claus Peymann, welches war Ihre glücklichste Zeit?
Na gestern. Und heute ist die allerglücklichste. Und morgen wird wieder ein glücklicher Tag sein.
Sind Sie ein Verdränger?
Als private Person interessiere ich mich kaum. Ich lebe immer im Heute.
Und immer im Theater.
Hinter mir stürzt die Zeit zusammen. Manche Leute sagen, der Peymann
 ist heute nichts mehr, aber damals in Stuttgart, da war er ganz groß, 
oder damals in Bochum oder damals in Wien. Zu solchen Bewertungen habe 
ich keine Beziehung. Freilich bemerke ich die traurige Tatsache, dass 
inzwischen schon sechzigjährige Frauen aufstehen, um mir in der Bahn 
einen Platz anzubieten. Mein lieber Schwan, sag ich mir dann, du musst 
in einem bedenklichen physiognomischen Zustand sein.
Aber Sie haben doch ein Gefühl dafür, dass sich Ihr Leben aus großartigen Etappen zusammenfügt. Ja, Stuttgart zum Beispiel.
Klar. Ich hab hundert Mark gestiftet für die Zahnbehandlung von Andreas 
Baader, dem damaligen Gefährten von Gudrun Ensslin. Filbinger hat uns 
aus Stuttgart rausgeschmissen. Es war eine wilde schöne Zeit. Dann 
Bochum, diese dunkle, verarmte Stadt, die ihre Identität weder in der 
Kohle noch bei Opel fand. Einzig unser Theater leuchtete. Dann Wien, die
 Königsetappe, dreizehn Jahre. Ich war am längsten dienender 
Burgtheater-Direktor aller Zeiten. Weggegangen bin ich freiwillig. Es 
gibt zwei Fehler, die man machen kann: Der erste Fehler ist, ans 
Burgtheater zu gehen, der zweite, von dort wieder wegzugehen.
Und dann Berlin. Der Kältesturz.
Ich dachte, in Berlin geht die Post ab. Diese ganz neue Stadt der 
Zukunft! Weder ein preußisches noch ein faschistisches Berlin. Auch kein
 Berlin von Bismarck, sondern eines, wo Ost und West ihre besten 
Erfahrungen zusammenlegen und wir als Künstler eine Kraft und Energie 
entwickeln, um die Mächtigen kontrollieren zu können.
Das ging irgendwie schief.
Das ist gründlich schiefgegangen. Ich wollte, dass Elfriede Jelinek mit nach Berlin kommt. Sie hat mir geschrieben: »Peymann,
 ich gehe mit Ihnen in die Hölle. Aber nicht nach Berlin.« Sie hatte 
recht. Den Schröder konnte man nicht erziehen. Mit dem kann man Rotwein 
trinken, mehr nicht. Von den anderen seiner Sparte will ich gar nicht 
erst reden. Auf jeden Fall ist es jetzt zu Ende. Am 2. Juli spielen wir 
unsere letzte Vorstellung.
Fürchten Sie sich ein wenig vor der Zeit nach diesem Leben als Theaterdirektor?
Ich denke, ich bin eigentlich ganz gut drauf und hätte das noch ein 
bisschen weitermachen können. Aber wenn man kurz vorm 80. steht, dann 
weiß man andererseits, dass der selbst gesetzte Anspruch nicht mehr so 
leicht durchzuhalten ist.
Wenn man so viel an Ärger, an Gegenwind, an Konflikten durchgemacht hat ...
Durchgemacht habe ich gar nichts. Ich war nie Opfer, ich war immer Täter.
Ist das Ihr impulsives Gemüt, das da wirkte und immer wieder lospreschte?
Keine Ahnung, ich bin Bremer, wenn Ihnen das was hilft.
Nee, hilft überhaupt nicht. Im Norden ist man doch eher betulich, man reagiert, na ja, etwas zeitversetzt.
Es spielte da gewiss auch ein gehöriges Maß an Naivität, Dummheit, 
Gutgläubigkeit und Eitelkeit hinein. Und, ich wiederhole es: auch so 
etwas wie eine messianische Berufung.
Großes Wort.
Unbedingt. Es muss das Wort geben, das uns übersteigt. Es muss die steile These geben. Sonst bewegt sich nichts.
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Claus Peymann
Noch 79 Tage – so steht es an diesem Ostersonnabend auf dem Spielplan des Berliner Ensembles. So lange währt noch, nach 18 Jahren, Claus Peymanns Intendanz am BE. Jeder Tag zählt, wird gezählt. Die wohl markanteste, legendärste Direktorenlaufbahn im deutschsprachigen Theater geht zu Ende. Peymann, Jahrgang 1937: hartnäckig sehnsüchtig – ein Aufklärer, Aufmischer, Aufreger. Und Aufblicker: Im Schnürboden der Bühne sind ihm alle Sternenhimmel versammelt. Ein ständiger »Hervorrufer«, schreibt der Dichterfreund Peter Handke. Fast 50 Uraufführungen hat Peymann inszeniert. Frankfurt am Main, Westberlin, Stuttgart, Bochum, Wien, nunmehr seit 1999 Berlin – Stationen der Unverkennbarkeit. Des Gegenwartsrumors. Des schönen Strebens, im Licht der Scheinwerfer Erleuchtung und Erhellung zu offenbaren. In seinem Garten in Köpenick, so hat er einmal gesagt, würde er den Kampf gegen die heranwachsenden Farne hoffnungslos verlieren. Weil sein Garten Eden das Theater ist, Paradies und Hölle zugleich. Für »nd« sprach Hans-Dieter Schütt mit dem leidenschaftlichen Prinzipal.

Der linksradikale Claus Peymann spricht wunderschöne Dinge aus.
Mir gefällt besonders gut:
* »Wo Gewalt herrscht, hilft nur Gewalt«, sagt Brechts »Heilige Johanna der Schlachthöfe«. Schärfer ist das Prinzip der RAF nicht zu formulieren.
* Wir Menschen können aus dem, was ist, die Vorstellung entwickeln, was sein könnte. Das ist großartig - und das ist ebenso kreuzgefährlich.
* Früher hieß es, nur die Idioten gehen zum Militär, längst scheinen auch in die Politik einzig nur die Idioten hineinzustapfen.
Und das sei den Parteien und Arbeiterführern, vor allem den Trotzkisten unter ihnen, hinter die Ohren geschrieben:
* 1968 sind wir hin zu den Opel-Arbeitern in Frankfurt, um sie agitierend auf unsere Seite zu ziehen. Die jagten uns zum Teufel. Die waren froh, einen Job zu haben. Die waren glücklich entfremdet. Wer sich heute als Partei für Arbeit einsetzt, der tut Gutes, aber er setzt sich immer auch für die Festigung der kapitalistischen Entfremdung ein.