Erklärung des Bremer Solidaritätskomitee Kurdistan zum Putschversuch in der Türkei

Durch Putschisten gesperrte Bosporus-Brücke

Gegen jede Form der Diktatur – keine Solidarität mit Erdogan - Aufruf zur Unterstützung der emanzipatorischen Kräfte in der Türkei

In der Nacht zum 16.07 kam es in der Türkei zu einem Putschversuch durch Teile des Militärs. Anders als bei den anderen Militärputschen der Vergangenheit, scheint der Putschversuch nicht von der Militärführung ausgegangen zu sein. In der Nacht wurde das Polizeihauptquartier, die Geheimdienstzentrale sowie das Parlament durch Militärflugzeuge beschossen, der Atatürk Flughafen war kurzfristig in den Händen der Putschisten ebenso wie der türkische Fernsehsender TRT, über den eine Erklärung verlesen wurde. In dieser hieß es, das Militär habe die Kontrolle über die Regierung übernommen und es werde übergangsweise ein Friedensrat eingerichtet. Auf vielen zentralen Plätzen fuhr Militär auf und eine landesweite Ausgangssperre wurde verhängt.

 

Währenddessen rief Erdogan aus dem Ausland seine Anhänger_innen über eine Video-Botschaft und CNN-türk dazu auf, entgegen der Ausgangssperre auf die Straßen zu gehen. Tausende folgten seinen Aufrufen. Auch die Moscheen forderten im Namen Gottes und des Koran sich den Protesten anzuschließen. In Ankara kam es teils zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Militär, teils zu absurd anmutenden Diskussionsszenen. Die Menschenmengen schwenkten türkische Fahnen, Allahu Akbar-Rufe waren zu hören und an vielen Orten wurden die Soldaten umzingelt. Diese eröffneten nur an einigen Stellen das Feuer, an anderen Orten ergaben sie sich. Nach einigem Zögern verkündeten die meisten europäischen sowie die US-amerikanische Regierung die Unterstützung der „demokratisch gewählten“ Regierung Erdogans und verurteilten den Putsch. 

 

Gegen frühen Morgen erklärt Erdogan den Putsch für gescheitert. Bei seiner Ankunft am Flughafen in Istanbul wird er von einer Menschenmenge erwartet, die ihn mit Rufen wie: „Sag es und wir sterben, sag es und wir töten“ begrüßen. Erdogan benennt den Putschversuch als „Geschenk Gottes“ und kündigt „Vergeltung“, kompromissloses Vorgehen und „Säuberungen im Militär“ an. Über 1500 Soldaten werden verhaftet, einige öffentlich gelyncht und Bilder von gefolterten Soldaten wandern durchs Netz. Die AKP reicht einen Antrag zur Wiedereinführung der Todesstrafe ein und suspendiert 2745 Richter, Staatsanwälte sowie einige Mitglieder des Hohen Rates. Einer der beim Putsch beteiligten Soldaten erklärt, er habe keine Informationen gehabt, „es hieß, es gibt eine Übung“.


Nach der ereignisreichen Nacht häufen sich die Fragen. Unklar ist ob es sich tatsächlich um einen Putschversuch aus einer Minderheit des Militärs gehandelt hat oder um eine Inszenierung seitens des Regimes. Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass die Regierung im Vorhinein von dem Putschplan wusste und daraufhin Erdogan in Sicherheit gebracht wurde. Unabhängig von dieser Frage lässt sich knappe 20 Stunden später feststellen: Nichts ist besser für einen Diktator als ein gescheiterter Putschversuch. Der in der letzten Zeit deutlich mehr in der Kritik stehende selbst ernannte Sultan Erdogan kann jetzt auf die volle Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung zählen und seinen Kurs mit noch mehr Härte weiter führen. Auch in Bremen haben sich zwischen 250 und 400 Nationalist_innen und Faschist_innen in der Nacht am Bahnhof versammelt. Europaweit hat Erdogans verlängerter Arm, die UETD, für heute zu Großdemonstrationen aufgerufen. Die Türkei ist unter Erdogan zu einer offen faschistischen Diktatur mit islamistischer Ausrichtung geworden. Solidaritätsbekundungen mit Erdogan sind daher nicht nur fehl am Platz, sondern gefährlich. 

 

Für linke und oppositionelle Kräfte sieht es dagegen nach dieser Nacht noch düsterer aus. Bereits kurz nach Bekanntwerden des Putschversuchs haben die HDP, KCK und türkische linke Gruppierungen klar verkündet, dass demokratische Kräfte sich auf keine der beiden Seiten stellen können. Ein Militärputsch hätte für sie keine positiven Konsequenzen gehabt. Jegliche Hoffnungen auf eine Veränderung der Situation durch einen Putsch seitens des Militärs müssen daher klar zurück gewiesen werden.

 

Vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten Nacht, rufen wir dazu auf, die emanzipativen und linken Kräfte in der Türkei zu unterstützen. Gleichzeitig müssen wir uns geschlossen gegen die Mobilisierungen türkischer Nationalist_innen und Faschist_innen auch in der BRD stellen. Dazu ist es notwendig, dass die Zusammenarbeit zwischen linken alevitischen, armenischen, ezidischen, kurdischen, türkischen und deutschen Gruppen zu intensivieren.

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danke genoss*innen für die gute zusammenfassung.
könnt ihr noch ein paar dt/engl sprachige links schicken für weitergehende infos aus emanzipatorischen quellen...

Sehr guter Beitrag. Nur mit der indirekten Behauptung der Putsch sei vielleicht inszeniert gewesen, sollte vorsichtig umgegangen werden, um sich nicht politisch selbst zu diskreditieren. Denn was nicht bewiesen werden kann, ist ersteinmal nicht Tatsache. Linke sollten sich keine Verschwörungsthesen leisten, sondern nur mit belegbaren Fakten operieren. 

Vielleicht nicht inszeniert (Parallelen zu allen möglichen Deutungen des Reichstagsbarndes...) aber "wohlwollend" laufen gelassen oder zumindest billigend in Kauf genommen, um einen Anlass für die Säuberungen zu haben, die fertig geplant für einen kommenden, passenden Zeitpunkt in der Schublade lagen.

Vielleicht war der Zeitpunkt schon fest, sehr demnächst und ist zu der Erdogan-feindlichen Fraktion der Militärs durchgesickert, so daß diese eher überstürzt den Putsch versuchen "mußten", um der Säuberung zuvorzukommen.

Belegbare Beweise sind in diesen Zusammenhängen einfach nicht mehr gegeben. Wie viele Geheimdienste hat die Türkei, wie viele geheime Dienste?

Hat der Soldat gesagt, er wisse nur etwas von einer Übung, oder war es das Autorenteam, ein eingeschleuster Spitzel von Putin?

 

Das passiert wenn immer alle Wolf brüllen, unabhängig von der Farbe. Die Unsicherheit über eine mögliche Verschwörung in der türkischen Bevölkerung (und auch in der dt. Bevölkerung) ist vollkommen nachvollziehbar. Propaganda ist nie verstummt.

 

Wenn Bomben explodieren, 0,3% des Militärs eine Revolution ausrufen, ausländisches Militär Angriffskriege von "deinem" Boden führt, wenn Oppositionsploitiker als Kinderschänder und Drogenbarone "entlarvt" werden, wenn Industriebosse entführt werden...

 

Wer soll woher wissen was stimmt? Ist das Kapital jetzt böse? Ist ein sekularisierter Staat etwas gutes? Braucht es Sicherheitskräfte, autonome oder organisiert-kontrollierte? War es Gladio, die RAF oder verwirrte Einzeltäter?

 

Wenn du Fakten willst: Über 2500 entlassene Richter, Reinigungsaktionen im Militär, politische Aufrufe von Religionsgemeinschaften, verhaftete Journalisten, ein Krieg "gegen Syrien", etliche Hundert tote Zivilisten in den letzten Jahren. Das wären kontrollierbare Fakten. Die Propaganda gegen

diese Zustände nötig macht.

 

Staatspolitik ist immer von Zweifel, Täuschung und Eigennutz geprägt.

Wahrheit wirst du so lange es Staaten gibt vermissen, die Sicherheit die du dir wünscht, bekommst du erst wenn du die Irrationalität deines Wunsches nach Wissen und Sicherheit begreifst.

 

Ich weiß, dass ich nichts weiß. Nur kein Gott, kein Staat, kein Vaterland.

Dann lebe ich in einer Welt in der ich meine Sicherheit selbst kontrollieren kann und mir keine Gedanken machen muss wer putscht. Keiner.

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