Am Mittwoch, dem 29. Juni war der zweite Prozesstag gegen einen Beteiligten an den Protesten gegen den AfD-Aufmarsch vom 07. November 2015 vor dem Amtsgericht Tiergarten. Nach fünf widersprüchlichen Polizeiaussagen und Fotos, die die Version der Cops widerlegen, wurde der Angeklagte freigesprochen.
Der Angeklagte wurde an der Ecke Dorotheenstraße/Bunsenstraße beim Weglaufen von einem Bullen von der Seite durch einen Faustschlag ins Gesicht niedergestreckt und anschließend festgenommen. Der Vorwurf: Körperverletzung, Landfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Vermummung.
Zusammenfassung des ersten Prozesstags
Vor einer Woche haben zwei Bullen ihre Story zum besten gegeben: der Betroffene habe mit einem Schal vermummt eine Polizeiabsperrung durchbrochen, habe dabei versucht, einen der Polizisten zu schlagen, und habe sich dann beim Zusammenprall und dem anschließenden Sturz ein blaues Auge geholt. Der Cop sei dabei nach hinten gefallen, auf seiner rechten Faust gelandet und habe sich dabei eine Kapselverletzung zugezogen.
Fotos, die von einem Fotografen gemacht wurden, der zufällig an der Ecke stand, haben die beiden Cops aus dem Konzept gebracht: Zu sehen ist, dass der Angeklagte unvermummt an einem gerade heranfahrenden Polizeiauto vorbeiläuft und auf dem nächsten Foto plötzlich einige Meter weiter auf dem Boden liegt und festgenommen wird.
Ausführlicher Bericht über den ersten Prozesstag:
linksunten.indymedia.org/en/node/183294
Anpassung der Story an die Fotos - erneutes Verstricken in Widersprüche
Am Mittwoch waren drei weitere Cops und der Fotograf, der die Fotos gemacht hat, geladen.
Der Fotograf bestätigte, dass die Bilder im Zusammenhang mit der Festnahme entstanden sind. Er hat den Schlag selbst zwar nicht gesehen, sagte aber, dass der Angeklagte von hinten zu Fall gebracht worden wäre und kein Polizist auf dem Boden gelegen hätte.
Anschließend war der erste der Cops dran. Offensichtlich wurde die Story nach dem ersten Prozesstag an die Fotos angepasst: Die neue Version war nun, dass das Auto rangefahren sei, angehalten hatte, die Cops hinten rausgesprungen seien und dann weitergefahren sei. Während der Cop, der den Angeklagten geschlagen hat, noch ausgesagt hat, dass sie erst nachdem die Fotos entstanden sind, vom Wagen abgestiegen seien, sagte der Zeuge, dass die Fotos danach erst entstanden seien.
Die Verletzungen seien ihm zufolge vermutlich auf dem Boden während der Festnahme entstanden.
Das kam dann auch dem Richter komisch vor: er fragte, ob er eine Erklärung dafür habe, dass der Angeklagte auf allen Bildern auf der linken Seite gelegen habe, während die Verletzungen alle auf der rechten gewesen seien. Die Antwort des Bullen, dessen Erklärungsversuch gerade in sich zusammen fiel: ein glattes “Nein.”
Der zweite Cop, der Gruppenführer, der beim Vorbeilaufen des Angeklagten in der Tür des Gruppenwagens stand und ihm hinterherschaute, sagte auch, dass der Wagen insgesamt zweimal angehalten habe. Das, was nur Sekunden danach passiert ist, habe er aber angeblich nicht gesehen, weil er rausgesprungen sei und sich umgedreht habe.
Freudscher Versprecher
Am Ende sorgte der letzte Cop noch für einige Lacher in den Reihen der Unterstützer*innen des Angeklagten, die zum zweiten Mal den Publikumsbereich komplett gefüllt hatten. Er sprach über den Angeklagten versehentlich als “Geschädigten” – wohl einer der wenigen ehrlichen Momente seitens der Bullen in diesem Prozess. Bei der entscheidenden Frage, ob der Schal, wie der Angeklagte sagte, im Rucksack gewesen sei, taten sich dann aber auch hier plötzliche Erinnerungslücken auf.
Urteil: Freispruch
Damit war Schluss: Angesichts der widersprüchlichen Polizeiaussagen und der Fotos plädierte selbst der Staatsanwalt auf Freispruch. Er hatte schon während des ganzen Prozesses mit sehr wenigen Nachfragen den Eindruck gemacht, als wüsste er, dass in diesem Prozess für ihn nichts zu holen war. Auf ein Statement seinerseits zu den offensichtlichen Falschaussagen der Cops warteten die Anwesenden aber vergeblich.
In der Urteilsbegründung sagte der Richter, der den Cops von Anfang an erstaunlich kritische Fragen gestellt hat, dass sich die Tatvorwürfe nicht beweisen ließen und so wahrscheinlich nicht stattgefunden hätten. So wie es der Cop, der den Angeklagten geschlagen hat, geschildert hat, könne es nicht gewesen sein. Er wiederholte nochmal, dass die Verletzung sehr nach einer Schlagverletzung aussah und nicht nach einer Schürfwunde. Dass der Gruppenführer in der Tür das Aufeinandertreffen des Angeklagten mit seinem Kollegen nicht gesehen habe, sei ihm “unerklärlich”.
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Auch wenn das Urteil in diesem Fall tatsächlich sehr erfreulich ist – der Prozess wäre ohne die Fotos wahrscheinlich grundlegend anders verlaufen: Es wäre schwierig gewesen, die Konstruktion der Aussagen aufzudecken, es hätte weiter eine durchbrochene Polizeikette und ein Schlag im Raum gestanden, und es wäre höchstwahrscheinlich zu einer Verurteilung gekommen – auch wenn die Cops die Absprache über den Schal ordentlich in den Sand gesetzt haben. Dass der Fall dieses Ende nimmt liegt also vor allem an dem Glück, “dass jemand zur richtigen Zeit am richtigen Ort stand und Fotos gemacht hat”, wie der Angeklagte in seinem Abschlussstatement richtig erkannte.
Ein Fall unter vielen
Die meisten Linken, die sich auf den Straßen dieser Welt rumtreiben, kennen wohl das Szenario von Cops, die Demonstrant*innen umhauen, prügeln und ihnen fette Anzeigen mit konstruierten Vorwürfen aufs Auge drücken – in sofern ist der Fall hier nur einer unter vielen. Interessant macht ihn, dass diese Polizeipraktiken hier für alle recht offensichtlich sind.
Der Fall ist ein Beispiel dafür, wie Polizei mit Hilfe ihrer Position eine neue Wirklichkeit konstruieren kann. Es wird eine möglichst gerichtsfeste Story anhand der “Beweislage” mittels der “Zeugenaussagen” gebaut, entlastende Dinge werden in den “Ermittlungen” unter den Tisch fallen gelassen. Die institutionelle Nähe zu Staatsanwaltschaft und Gericht, die für ein Grundvertrauen in die Aussagen von Cops sorgt, tut ihr übriges dazu, dass Cops stark auf Verurteilungen hinwirken können.
Wenn die betroffene Person dann nichts Handfestes in der Hand hat, gibt es dann im Zweifel keinen Zweifel an der Version der Cops.
Um Konsequenzen müssen sie sich also keine Gedanken machen, wenn nicht gerade eindeutige Aufnahmen vorliegen, die dokumentieren, was passiert ist - von ihren Kolleg*innen haben sie dank Korpsgeist nichts zu befürchten.
Mit diesen Mitteln setzen sie Aktivist*innen unter Druck und versuchen, sie einzuschüchtern. Dazu hauten sie in diesem Fall stellvertretend für eine Gruppe den hier Angeklagten um.
Was ist aus Fällen wie solchen zu lernen?
Insbesondere bei Linken, die noch keine Erfahrungen mit Polizei und Justiz gemacht haben, besteht oft die zumindest implizite Annahme, dass ihnen in politischen Kontexten nichts passieren wird, solange sie nichts Illegales tun.
An Fällen wie diesem wird klar, dass diese Vorstellung eine Illusion ist. Wer Dinge tut, die Cops für illegitim halten, wer Cops mit seinem Handeln “Probleme” bzw. Arbeit macht, wer aus irgendwelchen Gründen nicht in den Kram passt oder auch nur gerade zur falschen Zeit am falschen Ort war, muss damit rechnen, zur Zielscheibe zur werden.
Das mag hart klingen. Es geht hier aber nicht darum, Leute davon abzuschrecken, auf Demos zu gehen. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass auf der Straße auf das eigene Recht im Zweifel kein Verlass ist. So können Gefahren auf der Straße realistischer eingeschätzt werden, und mit Polizeigewalt und Repressionsdruck besser umgegangen werden.
Weitere Berichterstattung zum Prozess:
http://www.tim-lueddemann.de/2016/07/02/gericht-spricht-demonstranten-fr...
https://www.freitag.de/autoren/marisa-janson/polizisten-verstricken-sich...
Hintergrundinfos und Bilder zur Demo:
https://linksunten.indymedia.org/en/node/158563
Bericht über ersten Prozess gegen Repressions-Betroffenen von No-AfD-Protesten:
https://linksunten.indymedia.org/en/node/180206
Laptopsabotage im Amtsgericht Tiergarten?
Fotografen auf Demos
Ein gutes Beispiel dafür, dass man Fotografen auf Demos vielleicht nicht immer pauschal wegboxen, sondern etwas mehr Hirnschmalz in die Problematik stecken sollte. Wer nur Gesichter abfotografiert, hat dort nichts verolren und gehört deutlichst rausbegleitet, wer aber Bullenübergriffe und Festnahmen fotografiert, ist später vielleicht schon allein wegen der Fotos oder vielleicht sogar als Zeuge nützlich, wenn mal wieder ein Genosse wegen Bullenhalluzinationen vor Gericht gezerrt wird.
genau richtig