Gestern begann vor dem OLG München der Prozess gegen 10 AktivistInnen der Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK). Ihnen wird die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML) vorgeworfen, weswegen das Bundesjustizministerium eine Verfolgungsermächtigung wegen „Mitgliedschaft in einer ausländischen terrorisitischen Vereinigung“ nach §129b erlassen hatte. Die TKP/ML ist ausser in der Türkei in keinem Land verboten oder befindet sich auf den sog. „Terrorlisten“ der USA und EU.
Ungeachtet dessen hatte die Bundesanwaltschaft (BAW) bereits seit 2006
ermittelt. Am 15. April vergangenen Jahres waren die AktivistInnen in
mehreren EU-Staaten auf Betreiben der BAW festgenommen worden und sitzen
seitdem in Untersuchungshaft.
Der heutige Prozessbeginn war
von Pannen,Verzögerungen und willkürlichen Repressalien gekenzeichnet.
So wurden mehreren der angeklagten GenossInnen in den JVA Fussfesseln
angelegt und das Frühstück verweigert, wogegen diese sich
berechtigterweise wehrten. Auf Druck der Verteidigung sagte der Senat
schließlich zu, sich für ein sofortiges Ende der Repressalien
auszusprechen.
Fehlende oder defekte Mikrofone sorgten ebenso für Verzögerungen wie mangelhafte Übersetzer der Anklage.
ProzessbesucherInnen
waren über den gesamten Tag willkürlichen Maßnahmen unterworfen.
Personalausweise wurden kopiert und Leibesvisitationen durchgeführt.
Selbst akkreditierten JouranlistInnen wurde das Fotografieren im Gericht
verboten. Angereiste RechtsanwältInnen aus der Türkei berichteten, dass
es solche Maßnahmen selbst unter dem regierenden
autoritär-militaristischen Regime in Ankara nicht gäbe.
Ungeachtet
der vielfältigen Einschränkungen der öffentlichen Teilnahme waren die
lediglich 100 Plätze im ZuschauerInnenraum des Gerichts dne ganzen Tag
über voll besetzt. Die Gefangenen wurden mit frenetischem Applaus und
Parolen für deren Freilassung und gegen das türkische Regime empfangen.
Während
des laufenden Prozesses wurden aufgrund der Haftbedingungen, der
verspäteten Übergabe von Gerichtsunterlagen an die angeklagten
GenossInnen und der erschwerten Kontaktaufnahme der VerteidigerInnen
Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden gestellt.
Vor dem
Gericht fand unterdessen eine lautstarke Solidaritätskundgebung mit über
500 TeilnehmerInnen statt, auf der zahlreiche RednerInnen wie die
Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE, Nicole Gohlke, die sofortige
Einstellung des Verfahrens forderte.
Es bleibt festzustellen,
das der gesamte Prozess lediglich zur Unterstützung der Kriegspolitik
des türkischen Regimes gegen die eigene Bevölkerung dient.
Obwohl
das Regime in Ankara nachweislich die Terrorvereinigung des sog.
„Islamischen Staates“ unterstützt, die Pressefreiheit aufgehoben wurde
und selbst gewählten ParlamentarierInnen der Demokratischen Partei der
Völker (HDP) die Immunität aberkannt wurde, soll den angeklagten
GenossInnen ohne konkrete Vorwürfe der Prozess gemacht werden.
Die
Rote Hilfe e.V. unterstützt als Teil der Solidaritätsbewegung die
Forderung der Verteidigung nach sofortiger Einstellung des Verfahrens
und ruft alle linken Organisationen zur Solidarität mit den angeklagten
GenossInnen auf.
H. Lange für den Bundesvorstand der Roten Hilfe e.V.
http://www.rote-hilfe.de/77-news/707-prozessauftakt-im-verfahren-gegen-atik-aktivistinnen
Verteidigung
https://www.tkpml-prozess-129b.de/de/17-06-2016
Erster Prozesstag: Kämpferische Angeklagte und viel Solidarität
Von lautstarken Solidaritätsbekundungen begleitet war der erste Verhandlungstag im § 129b-Verfahren beim Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht München. Mehrere hundert Zuschauer_innen waren angereist und hielten eine kraftvolle Demonstration vor dem Gerichtsgebäude ab, die auch im Verhandlungssaal zu hören war. Die Zuschauerränge waren überfüllt.
Die Angeklagten machten bereits beim Betreten des Gerichtssaales deutlich, dass sie trotz über 14 Monaten Untersuchungshaft unter besonders schwierigen Haftbedingungen nicht gebrochen sind. Mit erhobenen Fäusten und Parolen rufend betraten sie den Gerichtssaal, und wurden von den Prozessbesuchern lautstark begrüßt.
Die Verhandlung hatte bereits mit erheblichen Verzögerungen begonnen, weil der Transport der Angeklagten zum Gericht von zahlreichen Schikanen durch Wachtmeister und Polizei begleitet war, die zunächst mit den Verteidiger_innen besprochen werden mussten. Einige Angeklagte mussten sich vor dem Transport vollständig entkleiden, obwohl dies vom Vorsitzenden Richter nicht angeordnet worden war. Einige Angeklagte wurden nicht nur mit an den Körper gefesselten Händen (Herstellerwerbung: „Der Fesselgürtel sichert und fixiert extreme Straftäter durch einen Körpergürtel, an dem die Handfessel mit Daumenarretierung und Doppelsicherung angebracht ist. Die Handfesseln können über Sicherungsbänder freigegeben werden, um z.B. ED-Behandlungen vornehmen zu können. Bei Widerstandshandlungen kann die Handfessel sofort wieder an den Körper des Festgenommenen gezogen werden. Zusätzliche Fußschlaufen können einsatzbedingt ergänzt werden und gehören zum Lieferumfang.“), sondern auch mit Fussfesseln transportiert. Sie weigerten sich, dieses entwürdigende Spiel freiwillig mitzumachen, so dass sie zum Auto und in das Gerichtsgebäude getragen werden mussten. Der Vorsitzende Richter gab allerdings ganz zu Anfang des Prozesses an, er werde sich bei „höheren Stellen“ dafür einsetzen, dass diese Praxis in Zukunft unterbleibt, weil er keine Weisungsbefugnis gegenüber den JVA hat.
Zu Beginn der Verhandlung wurde festgestellt, dass die Mikrofone der Angeklagten nicht freigeschaltet waren. Stellungnahmen der Angeklagten wären demnach im Gerichtsaal nicht zu hören gewesen, sondern nur von den Dolmetschern. Auf einen Antrag der Verteidigung, diese freizuschalten, damit auch die Äusserungen der Angeklagten öffentlich Gehör finden, äußerte die Bundesanwältin Ritzert, dass es dafür kein Bedürfnis gäbe, weil ja die Gerichtssprache deutsch und es ausreichend sei, wenn alle die Übersetzung hören könnten. Damit hat die BAW – wie schon in verschiedenen Stellungnahmen im Zwischenverfahren – deutlich gemacht, dass sie die Angeklagten nur als Objekt des Verfahrens begreift und nicht als mit Rechten ausgestattete Personen.
Große Probleme traten am ersten Prozesstag auch beim Dolmetschen auf. Die VerteidigerInnen bemängelten mehrfach auf Hinweis der Vertrauensdolmetscher_innen der Angeklagten, grobe Fehler. Manche Wortbeiträge wurden gar nicht übersetzt oder verfälscht bzw. völlig unverständlich. Die Unzulänglichkeiten gipfelten darin, dass einer der Gerichtsdolmetscher_innen laut in den Saal frage: „Wie soll ich das übersetzen?“
Die Anklage konnte an diesem Verhandlungstag noch nicht verlesen werden, weil die Angeklagten Mehmet Yeşilçalı und Müslüm Elma über ihre Verteidiger_innen Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden Richter Dauster verlesen liessen und diese mit eigenen Erklärungen weiter ausführten. Der Angeklagte Yeşilçalı war erst im März diesen Jahres aus der Schweiz nach Deutschland ausgeliefert worden. Das gegen ihn geführte Strafverfahren wurde erst danach mit dem Verfahren gegen die übrigen nun Angeklagten verbunden. Dadurch hatten er und seine Verteidiger_innen die deutsche Anklage erst Anfang April und die ins türkische übersetzte Anklage erst Anfang Mai erhalten. Eine sachgerechte Vorbereitung auf die Hauptverhandlung war daher überhaupt nicht möglich, auch weil er wie alle Angeklagten in diesem Verfahren Sonderhaftbedingungen, wie Trennscheibe auch bei Verteidigerbesuchen und einer zeitaufwändigen Postkontrolle auch der Verteidigerpost ausgesetzt ist. Ein einfaches Anwaltsschreiben kann da schon mal zwei bis vier Wochen unterwegs sein. Der Vorsitzende Richter hatte trotzdem die Anklage zugelassen und den Beginn der Hauptverhandlung beschlossen und dabei gleichzeitig die Haftbedingungen aufrechterhalten.
Der Angeklagte Müslüm Elma lehnte den Vorsitzenden Richter Dauster ebenfalls ab. Die Anklage wirft ihm vor, sich über einen Tatzeitraum von mehr als zwölf Jahren als „Rädelsführer“ mitgliedschaftlich in einer ausländischen terroristischen Vereinigung betätigt zu haben. Hierfür droht eine Mindeststrafe von 15 Jahren. Er war, wie ein Großteil der Angeklagten in diesem Verfahren im April 2015 in Untersuchungshaft genommen worden. Bis zum Januar 2016 benötigte die Bundesanwaltschaft, um eine Anklageschrift von mehr als 300 Seiten zu fertigen, obwohl die vorliegenden Ermittlungen bereits seit 2006 geführt werden. Die Staatsanwaltschaft nahm sich also mehr als acht Monate Zeit, während die Beschuldigten unter Sonderhaftbedingungen in Untersuchungshaft saßen. Diese Anklageschrift wurde vom OLG München übersetzt, die Übersetzung war allerdings so schlecht, dass – natürlich erst auf nachdrückliches Drängen der Verteidiger_innen – eine Neuübersetzung erstellt werden musste. Diese neuübersetzte Anklage erhielt Müslüm Elma erst am 4. Mai 2016. Trotzdem wurde ihm und seinen Verteidiger_innen nur eine Frist zur Stellungnahme zu dieser Anklageschrift bis zum 20. Mai eingeräumt. Eine Fristverlängerung wurde mit dem absurden Argument abgelehnt, aufgrund der Untersuchungshaft gelte ein besonderes Beschleunigungsgebot, die Interessen des Angeklagten, hätten daher zurückzustehen. Die Verteidigung dagegen argumentierte, wenn die Staatsanwaltschaft so lange zur Fertigung der Anklage benötigt und das Gericht durch die falsche Auswahl schlechter Dolmetscher Monate verstreichen lässt, dann müssten die Angeklagten gegebenenfalls aus der Untersuchungshaftentlassen werden. Die Beschränkung bzw. Verhinderung der Möglichkeit des Angeklagten, sich angemessen gegen die Anklage zu verteidigen, sei allerdings unzulässig. Begleitet wurden die Versuche der Verteidigung Elmas von Schikanen durch die JVA, die beispielsweise den Zugang zu dem Computer mit den Ermittlungsakten nur in einer anderen Zelle möglich machte, so dass die Akteneinsicht immer nur nach Kontrolle und in festen Zeitblöcken möglich war. Einmal wurde Müslüm Elma bei einem Verteidiger_innen-Besuch verboten, einen Stift mitzunehmen, um sich Aufzeichnungen zu machen. Der Vorsitzende Richter Dauster wies alle Anträge der Verteidigung Elma auf Fristverlängerung oder Erleichterung der Haftbedingungen ab, um die Fortsetzung der Untersuchungshaft zu sichern und schnellstmöglich die Hauptverhandlung zu ermöglichen. Die Verteidigung führt zu diesem Verhalten des Abgelehnten Vorsitzenden Dauster aus: „Dies lässt für Herrn Elma keinen anderen Schluss zu, als dass es diesem unter Inkaufnahme der Verletzung des verfassungsrechtlich verbürgten Subjektstatus des Antragstellers allein darum ging, eine Verzögerung des Verfahrens zu verhindern um die Haftfortdauerentscheidung zu gewährleisten.“
In einer persönlichen Ergänzung zum Antrag seiner Verteidiger_innen führte der Angeklagte Müslüm Elma aus:
Die Hauptverhandlung wird am Freitag den 24. Juni fortgesetzt.