In der Ukraine überschlagen sich die Ereignisse. Statements von gestern scheinen heute bereits an Aktualität verloren zu haben. Dieses Interview mit Oleg Schelenko aus Kiew, Antifaschist und Experte für Rechtsextremismus, wurde Anfang Februar geführt, also noch vor dem Machtwechsel in der Ukraine und der dadurch möglich gewordenen Regierungsbeteiligung der rechtsextremen Partei Swoboda. Zumindest bislang haben sich trotz der gestärkten Position des paramilitärischen rechtsextremen Zusammenschlusses „Rechter Sektor“ Ängste und Gerüchte hinsichtlich eines rechten Straßenterrors nicht bestätigt. Oleg Schelenko geht jedoch nicht nur auf die aktuelle Situation ein, insofern leistet das Interview zumindest einen Beitrag zum Verständnis der Verhältnisse in der Ukraine.
Je länger die regierungskritischen Proteste in der Ukraine andauern, desto deutlicher zeigt sich, dass ein beachtlicher Teil der Protestierenden keineswegs geschlossen hinter den Oppositionsführern Vitalij Klitschko und Arsenij Jatsenjuk steht. Vielmehr scheint langsam das Bewusstsein zu reifen, dass anstelle eines Machtwechsels durch Neuwahlen grundlegende Veränderungen des politischen Systems notwendig sind, die u.a. eine effektive Kontrolle der Staatsorgane von unten ermöglicht. Was geht tatsächlich vor auf dem Maidan und welchen Einfluss üben die Proteste auf die ukrainische Gesellschaft aus?
Die Ausrichtung des Konflikts in der Ukraine unterliegt einem steten 
Wandel, ebenso der Einfluss der beteiligten Akteure. Mit der Bewertung 
dieser Vorgänge sind viele Politologen, Soziologen und andere Analytiker
 jedoch überfordert. Einige äußern sich gar nicht, andere bleiben in 
alten Erklärungsmustern aus der Zeit des Zerfalls der Sowjetunion 
verhaftet. Es überwiegt die Einschätzung, bei den Protesten handele es 
sich um einen nationalen Unabhängigkeitskampf. Diese Argumentation 
entbehrt nicht völlig einer rationalen Grundlage, ebenso spielt 
sicherlich die aktive Einflussnahme Russlands eine Rolle. Wichtig ist 
dabei jedoch der Kontext, auf den sich diese Deutungsversuche in der 
Praxis beziehen.  In der Ukraine wurden die 
neoliberalen Reformen der letzten Jahre längst nicht in solch großem 
Ausmaß umgesetzt wie in Russland. Trotz der Versuche des ukrainischen 
Staates und der Wirtschaftselite es dem Nachbarn gleichzutun, finden 
sich immer noch zahlreiche Überbleibsel aus dem Sozialstaat sowjetischer
 Prägung: relativ niedrige Wohnnebenkosten und Fahrpreise, 
Wohnversorgung für sozial Benachteiligte, insbesondere Vertreter der 
älteren Generation, von Korruption geprägte, aber per Definition 
kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung. Dem Parlament liegen 
zahlreiche antisoziale Gesetzesinitiativen vor, doch leisten linke 
Kräfte – und damit meine ich nicht die rechtskonservative kommunistische
 Partei und andere „linke“ Sowjetpatrioten – gegen deren Umsetzung 
bislang erfolgreich Widerstand. Weder das neue Arbeitsgesetzbuch, noch 
die Wohnreform, noch die Erweiterung der Kontrolle des Internets wurden 
bislang durchgesetzt, es erfolgte einzig die Erhöhung des Rentenalters, 
nicht aber die Abschaffung des Solidarprinzips bei der Ausgestaltung der
 Renten. Das ukrainische Staatswesen wird durch sozialen Populismus 
bestimmt und die Regierung gibt sich in der Hinsicht sehr zurückhaltend,
 um keinerlei soziale Proteste zu provozieren. So gab es auch 
beispielsweise keinerlei Einschränkungen des Versammlungsrechts und 
schon gar keine „Extremismusgesetzgebung“ wie in Russland.
Bislang existieren im Übrigen kaum Analysen, die die sozialen 
Mechanismen auf dem Maidan unter die Lupe nehmen und die innere 
Motivation der Protestierenden versuchen zu fassen. Auf der einen Seite 
haben wir es mit politischen Außenseitergruppierungen zu tun, die den 
Maidan als Ausgangspunkt nutzen zur Überwindung ihrer Marginalität. 
Dabei handelt es sich in erster Linie um Rechtsradikale. So ist 
beispielsweise der Leiter der Selbstverteidigungsstrukturen auf dem 
Maidan Andrej Parubij, vormals einer der Anführer der 
Sozial-nationalistischen Partei SNPU zugleich auch Anführer dessen 
paramilitärischer Struktur „Patriot der Ukraine“. Aber anders als Oleh 
Tjagnybok, dem Vorsitzenden der Swoboda-Partei (deren Vorläuferin ist 
die SNPU, Anm.d.Ü.), kam Parubijs politische Karriere ins Stocken. Jetzt
 aber steht er weit oben. Das gleiche gilt für paramilitärische 
nationalistische Organisationen, die von einer Eskalation des Konflikts 
profitieren.
Andererseits belegen Umfragen, dass sich die entschlossenen Reaktionen 
der Mehrheit der an den Protesten beteiligten Kiewer Bevölkerung aus den
 gewalttätigen Polizeieinsätzen erklären lässt. Dazu kommt eine 
Verschärfung der Wirtschaftskrise, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit und 
eine generelle Verschlechterung der Lebensverhältnisse. Allerdings bin 
ich weit entfernt von der Idealisierung der Verhältnisse auf dem Maidan,
 denn dort finden keine demokratischen Entscheidungsfindungsprozesse 
statt und schon gar keine Vollversammlungen, bei denen alle über ein 
Rederecht verfügen. Höchstens in Kleingruppen wird über die 
Notwendigkeit solche Strukturen zu schaffen debattiert. Das bedeutet, 
dass die politischen Prozesse einer klaren Struktur unterliegen. Es gibt
 eine Tribüne, von der herab Politiker und ihre Anhänger sprechen, jede 
Menge Security und Leute in Tarnkleidung, Masken und Helmen, 
ausgestattet mit Funkgeräten und Stöcken, die sich wie Sheriffs 
aufführen. Die einzige positive Entwicklung stellt aus meiner Sicht die 
wachsende Enttäuschung gegenüber der parlamentarischen Opposition dar. 
Gleichzeitig ist damit aber auch der Erfolg des „Rechten Sektors“ 
verbunden, dessen Namensgebung auf die Subkultur von Fussballhooligans 
verweist. Und es wird der Ruf nach einer neuen „echten“ Führungsfigur 
laut.
Seit Beginn der Proteste beteiligten sich daran nationalistische Kräfte und sogar Gruppierungen aus dem Neonazispektrum. Wie lässt sich ihre Rolle darin beschreiben und wie stark wirkt sich ihre Präsenz auf die politische Agenda auf dem Maidan aus? Ist es übertrieben von einem Rechtsruck zu sprechen?
Es ist eine Art rechte Kulturrevolution im Gang, ein rechtes 1968. Damit verbunden ist eine kulturelle Dominanz Rechtsradikaler: Ihr Sprachgebrauch ist allseits präsent: die Begrüßungsformel „Ruhm der Ukraine“ geriet zum Codewort zur Bestimmung der Zugehörigkeit zum Maidan. Zu Beginn waren noch diverse andere Redewendungen gebräuchlich, wie „Ruhm der Nation“, „Tot den Feinden“, „Ukraine über alles“. Überall sind Kirchenvertreter diverser Religionen vor Ort, von der Tribüne herab ertönen ständig Gebete für die Ukraine, jede Stunde wird die ukrainische Hymne gesungen. Diese Intensität solcher Rituale kenne ich sonst nicht mal aus der ultrarechten Szene. Außer vielleicht von Swoboda haben alle rechten Gruppierungen bislang enorm von den Protesten profitiert und einen so bislang nicht dagewesenen Zuspruch erhalten.
Ende Januar erklärte der „Rechte Sektor“, ein Zusammenschluss diverser nationalistischer Organisationen wie dem Tryzub, UNA-UNSO, „Patriot der Ukraine“, der „Sozial-nationalistischen Versammlung“ und dem „Weißen Hammer“, er wolle sich als dritte Kraft an den Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition beteiligen. Wie groß ist die Unterstützung für den „Rechten Sektor“ auf dem Maidan und wie steht es mit dessen politischem Programm und seinen Perspektiven jenseits einer gewalttätigen Konfrontation auf der Straße?
An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass die rechtsradikale Szene immer unter dem wachen Auge der Sicherheitsdienste agierte. Vertreter paramilitärischer rechter Gruppen haben mehrmals den Wunsch geäußert ihre Mitglieder in den Ukrainischen Sicherheitsdienst SBU einzugliedern. Bei den jüngsten Protesten haben sie mit dem SBU und dem Innenministerium erfolgreich über die Freilassung von über Hundert Gefangenen verhandelt. Sie spielen das gleiche Spiel wie die „Falken“ im Umfeld von Präsident Viktor Janukowitsch. Sie mindern das Verhandlungspotenzial der Opposition, diskreditieren sie vor deren westlichen Partnern und demonstrieren, dass jene die Protestierenden auf dem Maidan nicht im Griff haben. Swoboda, die als einzige dezidiert rechte Struktur im oppositionellen Triumvirat vertreten ist und über einen eigenen starken Apparat und auch Kämpfer verfügt, hat bereits einen echten Imageschaden davongetragen. Die Stimmung auf der Straße hat sich in der letzten Zeit stark verändert, der mehr oder weniger ergebnislose friedliche Protest brachte Enttäuschungen hervor. So kommen immer mehr jene zum Zug, die sich für ein radikaleres Vorgehen einsetzen.
Wird auf dem Maidan Kritik an den Nationalisten geübt und wenn ja von wem? Wie reagieren jüdische oder migrantische Organisationen auf die Proteste?
Hier in der Ukraine halten sich selbst Bürgerrechtler und Experten 
für Rechtsradikalismus extrem zurück oder machen sich gar zu Anwälten 
der extremen Rechten. Es gilt die Devise „wir sitzen alle in einem 
Boot“. Kritische Stimmen vernehmen wir aus den westlichen und russischen
 Medien. Letztere gehen allerdings so weit, dass sie den gesamten 
Protest als faschistisch diffamieren, was eher eine ironische Haltung 
hervorruft oder schlimmstenfalls sogar zu einer Solidarisierung mit 
rechten Kräften beiträgt.
Jüdische Organisationen verhalten sich der extremen Rechten gegenüber 
tolerant. Den Anstieg antisemitischer Übergriffe, die in erster Linie 
auf das Konto von Swoboda-Anhängern gehen, genauer gesagt deren 
Jugendnetzwerk „S-14“, schreiben sie dem „subkulturellen“ Straßenkrieg 
zu, obwohl die Auseinandersetzungen zwischen Rechten und der Antifa 
stark nachgelassen haben. In der Rechten existieren derzeit andere 
Angriffsziele, meist handelt es sich dabei um Konkurrenten hinsichtlich 
sozialer Aktivitäten, also linke Gewerkschaften, Homosexuelle, 
Feministinnen etc. In der Ukraine läuft derzeit eine regelrechte 
Medienkampagne, bei der die Beteiligung von Juden an den 
Selbstverteidigungsstrukturen auf dem Maidan als Argument herhalten 
muss, dass den Protestierenden Antisemitismus fremd sei. Doch der Punkt 
ist der, dass Juden derzeit zumindest beim Großteil der extremen Rechten
 nicht als Hauptziel benannt werden. Was aber nicht heißt, dass sich 
deren Prioritäten morgen nicht wieder ändern. Gleichzeitig stehen der 
Staat und seine Vertreter ebenfalls für rechte Weltanschauungen, die 
sich an konservativen religiös-orthodoxen Kreisen orientieren, die 
ihrerseits nicht weniger zum Antisemitismus tendieren. Faktisch sehen 
sich jüdische Organisationen wie auch linke Zusammenhänge von den 
Ereignissen überrollt, die ihnen die Entscheidung abverlangen, Partei 
für die eine oder andere Seite zu nehmen, auch wenn sie sich keiner von 
beiden wirklich zugehörig fühlen.
Ein positives Zeichen gab es allerdings am 1. Januar, als einige 
Liberale mit Plakaten gegen den Fackelaufzug von Swoboda protestierten 
und ihren Widerstand dagegen damit begründeten, dass solche Märsche auf 
die Menschen auf dem Maidan abschreckend wirken. Sie wurden zwar 
angegriffen, doch ihre Aktion hatte einen hohen symbolischen Wert.
Wie definieren antifaschistische und linke Kräfte ihre Rolle bei den Protesten? Was tun die Gewerkschaften? Haben sie eine eigene politische Agenda erarbeitet und wie groß sind die Chancen für deren Umsetzung?
Die Linke verfügt bislang über keine eigene Agenda. Prorussische und an der kommunistischen Partei orientierte Zusammenhänge wie Boro’ba demonstrieren bei jeder Gelegenheit, dass sich auf dem Maidan nur „Faschisten“ tummeln. Ein anderer Teil der Linken unterstützt den Maidan völlig unkritisch. Ich selber gehöre zu denen, die versuchen linke Positionen bei den Protesten einzubringen. Von Beginn an sind wir mit sozialen Parolen angetreten und haben uns auch mit Nationalisten geprügelt. Derzeit arbeiten wir an einer studentischen Vernetzung und etablieren als Entscheidungsinstrument eine studentische Vollversammlung im ukrainischen Haus. Außerdem beteiligen wir uns an der Bewachung verletzter Aktivisten, um sie vor Entführungen aus dem Lazarett zu schützen. Etliche Linke mit medizinischer Ausbildung sind an den Protesten beteiligt, wobei wir gerne alle in einer Einheit zum Andenken an Stanislaw Markelow (2009 in Moskau von Neonazis erschossener Anwalt und Antifaschist) zusammenfassen würden. Kurz gesagt, wir versuchen uns nicht gegen die Proteste abzugrenzen und gleichzeitig das Prinzip der Solidarität und gegenseitigen Unterstützung zu leben, wobei wir gegen eine Eskalation der Proteste eintreten, um somit der extremen Rechten den Boden zu entziehen. Natürlich reicht das nicht aus für eine Stärkung der Linken im Protestlager, aber das Ende des Konflikts ist ja noch längst nicht erreicht.


was geht hier vor sich ?
Dieses Land ist dabei einen Krieg mit Russland zu provozieren.
Nimmt das mal jemand zur Kenntnis ?!
Who is Who
http://www.voltairenet.org/article182518.html
keine weiteren Fragen...