[Gö] 29.11. // Raus aus der Schockstarre | Rassismus bekämpfen - Verfassungsschutz auflösen!

Raus aus der Schockstarre

Am 04. November 2011 wurde öffentlich was wir – also die bundesdeutsche Antifa-Bewegung – eigentlich hätten schon früher ahnen müssen: über zehn Jahre lang leistete Deutschland durch seine Behörden einer neonazistischen Mördergruppe namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ („NSU“) Beistand bei der Ermordung von hauptsächlich türkischen und einem griechischen Menschen: Habil Kılıç und Theodorus Boulgarides in München, Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar in Nürnberg, Yunus Turgut in Rostock, Halit Yozgat in Kassel, Mehmet Kubaşık in Dortmund, Süleyman Taşköprü in Hamburg und Michele Kiesewetter in Heilbronn. Dies ist nur ein Ausschnitt, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass diese neun Opfer lediglich die Opfer einer einzelnen Mordserie sind – und auch aus dieser Serie nur diejenigen, von denen wir sicher wissen.

 

Anlässlich des des zweiten Jahrestags der Aufdeckung des sog. "NSU" gibt es in Göttingen Veranstaltungen, eine Demonstration und Konzert unter dem Titel: "Rassismus bekämpfen - Verfassunsschutz auflösen! - Für einen konsequenten Antifaschismus!"

 

Aufruf zur Demonstration | Theaterstück | Konzert | Mobivideo

 

Publikation "Raus aus der Schockstarre"

Rassismus bekämpfen, Verfassungsschutz auflösen!

Am 04. November 2011 wurde öffentlich was wir – also die bundesdeutsche Antifa-Bewegung – eigentlich hätten schon früher ahnen müssen: über zehn Jahre lang leistete Deutschland durch seine Behörden einer neonazistischen Mördergruppe namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ („NSU“) Beistand bei der Ermordung von hauptsächlich türkischen und einem griechischen Menschen: Habil Kılıç und Theodorus Boulgarides in München, Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar in Nürnberg, Yunus Turgut in Rostock, Halit Yozgat in Kassel, Mehmet Kubaşık in Dortmund, Süleyman Taşköprü in Hamburg und Michele Kiesewetter in Heilbronn. Dies ist nur ein Ausschnitt, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass diese neun Opfer lediglich die Opfer einer einzelnen Mordserie sind – und auch aus dieser Serie nur diejenigen, von denen wir sicher wissen. Insgesamt wurden mindestens 180 Menschen seit 1990 in der BRD von Neonazis ermordet und auch was der sogenannte „NSU“ noch verbrochen hat, lässt sich angesichts vielsagenden Schweigens nicht mit Gewissheit sagen.


Die bekannten MörderInnen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt stammen aus Jena und lernten sich in den 90er Jahren in einem Jugendclubhaus kennen. Die Drei waren seit dieser Zeit in der extrem rechten Szene um den „Thüringer Heimatschutz“ („THS“) herum aktiv, radikalisierten sich Ende der 90er, bis sie am 26. Januar 1998 in den Untergrund abtauchten und über zehn Jahre lang ungestört mordend und bombenlegend durch die BRD zogen. So weit die anerkannte und immer wieder erzählte Geschichte.


Heute, zwei Jahre nach der Aufdeckung des sogenannten „NSU“, schläft die gesellschaftliche Auseinandersetzung langsam aber sicher wieder ein – ohne, dass sich an den politischen oder gesellschaftlichen Bedingungen, die diese brutale Mordserie ermöglicht haben, irgend etwas geändert hätte: der vom Bundestag eingesetzte Untersuchungsausschuss wurde nahezu ergebnislos beendet, der Prozess gegen eine kleine Anzahl von ProtagonistInnen verliert sich in Details statt die strukturellen Hintergründe aufzudecken. Nicht zuletzt erregt der Prozess an sich immer weniger öffentliches Interesse.


Im Land der Täter des deutschen Faschismus, dessen Nachfolgestaat und Gesellschaft so gerne nichts mehr mit den Verbrechen der deutschen Geschichte zu tun haben würden, können immer noch Neonazis ungestört Menschen ermorden, ohne dass ein ernsthaftes Verfolgungs- oder Vereitelungsinteresse besteht. Das rührt tief an das Selbstbewusstsein einer sich als geläutert inszenierenden Nation. Genau dieser Hintergrund ist es, den die bürgerliche deutsche Gesellschaft und Öffentlichkeit, nicht nur beim sogenannten „NSU“, nicht sehen lassen will, welche Brutalität und Gefahr von rassistischer Ideologie und Nazigewalt tagtäglich ausgeht.


Aber auch eine Antifa, die kontinuierlich eben diese Ideologie und die Neonazi-Strukturen angeprangert hat, ist mit der Dimension der „NSU“-Morde anscheinend überfordert. Während die Antifa also erstarrt, üben sich bürgerliche Gesellschaft und Staat in der Inszenierung ihrer Betroffenheit, um das Thema so bald wie möglich wieder zu den Akten legen zu können; oder zumindest im behördlichen Klein-Klein zu verwischen, dass nicht weiter die grundsätzliche Frage der Ursachen und Verhältnisse im besonderen historischen Kontext Deutschlands gestellt wird. „Glauben Sie, es hilft mir, wenn Sie betroffen sind?“ fragte Aysen Taşköprü, die Schwester des in Hamburg ermordeten Süleyman, Bundespräsident Joachim Gauck in einem Brief. Der Umgang der Gesellschaft und des Staates hilft nicht den Opfern, löst nicht das Problem und hilft nicht mal bei einer wirklichen Aufklärung. Er dient einzig dazu, im Land der faschistischen Kontinuitäten weiter möglichst schnell wieder die Augen verschließen zu können. Staat und Gesellschaft sind mit diesen Kontinuitäten bedeutender Teil des Problems.


Die Aufgabe muss es jetzt sein, aus dem Wust an Details über Neonazis und den Verstrickungen staatlicher Behörden, sowie aus einer selbstkritischen Betrachtung der eigenen Schockstarre, eine politische Perspektive und Bewertung vorzunehmen. Zweierlei steht dabei für uns im Fokus: der Alltagsrassismus, der die gesellschaftliche Grundlage dafür bereit stellt, dass es immer wieder zu Morden kommt; und ein Staat, durch dessen Apparat hindurch sich diese Ideologie zieht und in dessen Institutionen aktiv solche Mordtaten befördert werden. Gerade in den Seilschaften des Verfassungsschutzes – aber auch in Innenministerien, Polizei und Justiz – haben sich im Rahmen der Neonazi-Mordserie des „NSU“ zuhauf Fälle von fahrlässigem Gewährenlassens bis hin zu aktiver Unterstützung für die Mörder gezeigt.


Immer noch vertraut die Gesellschaft anscheinend ausgerechnet den staatlichen Behörden in ihrer vorgeblichen Aufklärungsarbeit. Teile der Presse haben in anstrengender Kleinstarbeit viele Fakten zum „NSU“ zusammengetragen und die wohl bisher besten Zusammenfassungen geliefert. Zunehmend unterliegt die Berichterstattung allerdings wieder den regulären journalistischen Begebenheiten. Über den Prozess wird noch berichtet, häufig genug aber nur als Human Interest Story. Die Hintergründe und Widersprüche im staatlichen Umgang mit dem „NSU“ werden fast nur noch von den üblichen Verdächtigen tiefergehend thematisiert. Spätestens jetzt, da der gesellschaftliche Diskurs im Sand zu verlaufen droht, ist es unsere Aufgabe einzugreifen und dem Thema wieder die Relevanz zu verschaffen die es verdient und benötigt.


Unser Ziel ist dabei nicht, eine weitere Chronik von Neonazis, „NSU“ und fehlender Aufklärung zu erstellen. Das haben Andere bereits gut und ausführlich getan. Vielmehr wollen wir das Thema aus antifaschistischer Perspektive neu beleben. Die Frage eröffnen, an welchen Punkten und wieso die Antifa beim Thema „NSU“ versagt hat und andeuten, welche Schlussfolgerungen an unsere Positionierung wir aus dieser konkreten Reflexion für die Zukunft ableiten müssen.

Kontinuität rechter Gewalt in Deutschland


Nachdem im November 2011 dieser Skandal in seiner Einzigartigkeit geradezu beschworen wurde, normalisiert sich das Empörungsniveau nun wieder. Kurz wird über ein NPD-Verbot gesprochen, nur um zu realisieren, dass der VS, gedeckt durch die Innenministerien, seine V-Leute nicht abziehen will. Ebenso kurz ist die Erschütterung über einen Staat, der Opfer rechter Gewalt nicht schützt und seine Sicherheitsversprechen in keinster Weise einlöst. Der Großteil der Menschen geht einfach davon aus, dass es sich um einen Einzelfall handele, dass die Verantwortlichen jetzt tot oder im Gefängnis sind und sich so etwas nicht wiederholen werde. Schlimmer noch, die Beihelfer und Mittäter in den Behörden bleiben nicht nur in Amt und Würden, sondern werden als Dank mit mehr geheimdienstlichen Kompetenzen ausgestattet. Dass in diesem Zuge ein weiterer Baustein gelegt wird, in der de-facto Auflösung der Trennung von Polizei und Geheimdiensten – immerhin eine Lehre aus dem deutschen Faschismus – ist das zynische Überbleibsel des Reformversprechens.


Ein Blick in die Vergangenheit lässt ohnehin keinen Platz für solche Illusionen. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist eine Geschichte kontinuierlicher, rechter Gewalt und wiederholter neonazistischer Angriffe, die durch staatliches Handeln immer wieder beflügelt wurden. Rassistische Gesellschaft und Staat ergänzten sich dabei immer wieder auf fatale Art und Weise, spielten sich den Ball gegenseitig zu und reproduzieren und interagieren mit der reaktionären, rechten Grundstimmung. Seit der Gründung der BRD traten immer wieder organisierte und gewaltbereite Nazi- und Neonazigruppen in unterschiedlichsten Erscheinungsformen hervor. Oft pflegten sie enge Kontakte zum Verfassungsschutz, der Polizei und Politik und wurden von diesen geschützt und aktiv unterstützt. Als direkte Blaupause aus dem deutschen Faschismus für derart bewaffnet agierende Neonazis kann das „Werwolf“-Konzept gelten, bei dem Alt-Nazis den Zweiten Weltkrieg auch nach der militärischen Niederlage noch als Untergrundkampf weiterführen wollten. Spätere gewalttätige Neonazi-Organisationen haben sich auf dieses Konzept als Vorbild-Mythos bezogen.  


In diese Kontinuität reiht sich unter anderem die sogenannte „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Das Münchener Oktoberfestattentat im September 1980, bei dem 13 Menschen starben und über 200 Menschen teilweise schwer verletzt wurden, wurde von mindestens einem Mitglied dieser „Wehrsportgruppe“ durchgeführt. Doch auch damals wurde von Polizei und Staatsanwaltschaft eine vermeintliche Einzeltäterschaft herbeigeredet. Die Tat sollte alleinig von dem Neonazi Gundolf Köhler geplant und durchgeführt worden sein. Köhler war zuvor in der „WSG Hoffmann“ aktiv gewesen und verwendete beim Anschlag militärischen Sprengstoff. Mehrere Zeugenaussagen wiesen auf Mittäter hin. Ermittelt und verurteilt wurde Köhler jedoch als psychisch gestörter Einzeltäter.


Neonazi-Organisationen wie die Wehrsportgruppen oder der „NSU“ können sich in ihrem Handeln, vor dem Hintergrund eines nationalistischen und rassistischen Konsenses, als Vollstrecker einer schweigenden Mehrheit fühlen. Wichtige Elemente der Operation „Gladio“ wurden in Diskussionen von der militanten und international vernetzten Neonaziszene konzeptionell übernommen: führerloser Widerstand, Kleinstzellen, keine Bekennerschreiben. So wie der „NSU“ agiert hat, ist es vorher detailliert in Handreichungen von „Combat 18“ beschrieben worden. „Combat 18“ ist der militante und gewaltbereite Arm des internationalen Neonazinetzwerks „Blood&Honour“.


Wenn aber fortdauernd vertuscht wird, Beteiligte nicht zur Verantwortung gezogen werden, dann ist es auch nicht verwunderlich, wenn sich diese Strukturen verselbstständigen – die Ideologie, die notwendige Ausbildung und die Waffen sind bereits vorhanden. Dass Neonazis wie z.B. 1998 in Celle ganze Lager von Kriegswaffen mit Gewehren, Granaten, Minen und tausenden Schuss Munition horteten, schien dabei keine großen Sorgen zu bereiten. Warnungen vor einem bewaffneten, rechten Untergrund ergaben sich in den Verfassungsschutzberichten der Folgejahre jedenfalls nie.


Die Gewalt der Neonazis wirkt auch in die Mehrheitsgesellschaft hinein, statt lediglich durch sie legitimiert zu werden. Anfang der 1990er Jahre spitzte sich nach der nationalistisch abgefeierten „Wiedervereinigung“ die rassistische Stimmung anhand des Asyldiskurses zu. Dieser Diskurs war zielgerichtet von politischen Strategen in der CDU eingeleitet worden. Schon nach kurzer Zeit spitzte sich die Situation soweit zu, dass es immer wieder zu pogromartigen Angriffen auf die Unterkünfte von geflüchteten Menschen kam. Die parlamentarische Politik befeuerte diese Stimmung durch ihre „Das Boot ist voll“-Rhetorik.


Bei den Pogromen entlud sich aber nicht einfach ungeplant aufgestauter, dumpfer Hass. Neonazis sahen in dieser Stimmung ihre Chance gekommen und befeuerten und organisierten die Angriffe. In Rostock-Lichtenhagen verteilten 1992 organisierte Neonazis tagelang vor den Ausschreitungen und den Angriffen Flugblätter. Während der Angriffe schafften sie Steine und Brandsätze heran. Der rassistische Normalzustand der Gesellschaft und ihre Neonazis griffen hier wie geschmierte Zahnräder ineinander. Der Staat wiedrum stand mit seiner Polizei daneben und ließ alles geschehen.


Staat, Nazis und rassistische Mehrheitsgesellschaft schufen Hand in Hand das Asylrecht in Deutschland ab.


In letzter Zeit deutet sich eine ähnliche Konstellation in Berlin-Hellersdorf und an vielen anderen Stellen erneut an.

 

Der VerfassuNgsSchUtz - Wegbereiter und Gehilfe


Wie bereits erwähnt gehen wir davon aus, dass im Wegschauen der staatlichen Behörden Methode und Absicht, kein Versagen, liegt. 2004 kommt das Bundesamt für Verfassungsschutz in einer internen Broschüre  unter dem Titel „Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten – Entwicklungen von 1997 bis 2004“ zu dem Ergebnis: „Insgesamt sind derzeit in Deutschland keine rechtsterroristischen Strukturen erkennbar.“ Unter den Fällen, die in dieser Broschüre analysiert werden, ist auch der Rohrbombenfund in Jena, gelegt von eben jenem Kerntrio aus Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, die zu diesem Zeitpunkt bereits als „Nationalsozialistischer Untergrund“ sechs Menschen ermordet hatten. Regelmäßige Waffenfunde bei Razzien, das Untertauchen gesuchter Neonazis, mehrere Bombenanschläge in deutschen Innenstädten, sechs Tote, die mit gleicher Waffe erschossen wurden und kein Anhaltspunkt für „rechtsterroristische Aktivitäten“ für den Verfassungsschutz!


Dass die Rolle der verschiedenen Geheimdienste, insbesondere der verschiedenen Verfassungsschutzämter und ihrer V-Leute, nicht vollständig an die Öffentlichkeit gerät, dafür haben die Behörden durch das Schreddern von vielen tausenden Akten direkt nach dem Bekanntwerden des mörderischen Treibens gesorgt. Trotzdem kann bereits, durch die Fakten, die öffentlich bekannt sind, klar gesagt werden, dass Institutionen wie der Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und der Militärische Abschirmdienst mindesten 25 V-Leute in und um den „NSU“ herum hatten und so zumindest auf einen Teil der Geschehnisse unmittelbaren Einfluss ausüben konnten. Der „Thüringer Heimatschutz“, aus dem heraus sich der „NSU“ entwickelte, war durchsetzt mit V-Leuten – bis hin zum Anführer des „THS“, Tino Brandt, der jahrelang vom Verfassungsschutz bezahlt wurde.


Klärend muss hier gesagt werden, dass V-Leute eben keine Verfassungsschützer in der Neonaziszene sind, sondern Neonazis, die vorgeben für den Verfassungschutz zu arbeiten. Doch ist bei dieser dichten Informationstruktur, die die Geheimdienste in und um den „NSU“ aufgebaut haben und die abtauchen und das Leben im Untergrund von Beginn an begleiteten, eine Unwissenheit über Morde und Anschläge des Kerntrios nahezu unvorstellbar. So halfen V-Leute bei der Flucht und der Suche nach Unterkünften und verhalfen zu neuen Ausweispapieren und Geld.


Die Selbstbezeichnung „Untergrund“ ist vor diesem Hintergrund fast schon euphemistisch; Fakt ist, dass selbst wer den Lügen des VS noch gewillt ist Glauben zu schenken, nicht um die Tatsache herum kommt, dass das System V-Leute rechte Strukturen finanziert und nicht bekämpft.


Dass der Verfassungsschutz von Beginn seiner Gründung an als Instrument im antikommunistischen Abwehrkampf der westlichen Blockmächte in Westdeutschland fungiert hat, ist für Linke eine Binsenweisheit. So besetzten bis in die 1970er Jahre ehmalige SS- und Gestapo-Mitarbeiter führende Positionen des Inlandgeheimdienstes. Denn wer konnte die neu ausgerufene „wehrhafte Demokratie“ schon besser vor der im Osten lauernden Sowjetunion verteidigen, als die, die dies schon vorher an der sogenannte Ostfront getan hatten. Hierdurch wird ein Betriebsklima ausgebildet, das bis heute an alle neuen Verfassungsschützer vererbt wird. Das führt zu Intressensverschiebung zwischen gedachter und realer Funktion des VS. Denn so steht der Verfassungsschutz in einer grundlegend antikommunistischen Tradition, bei der der Feind immer im linken und antifaschistischen Lager zu finden ist. Dies zeigt sich besonders in der systematischen Diskreditierung antifaschistischer Bewegungen, Zeitschriften und Archive, migrantischer Organisationen – umso mehr wenn diese eine allgemeine, emanzipatorische Politik verfolgen – sowie soziokultureller und autonomer Jugendzentren, durch die verschiedenen Landesämter für Verfassungsschutz.


Auch findet sich in allen Ämtern des Verfassungsschutzes und anderer Geheimdienste ein Muster, Waffenfunde, bewaffnete Aktionen und Strukturen der Neonazis schlichtweg kleinzureden oder zu leugnen, bei Linksradikalen hingegen schon bei der Verwendung von Wasserpistolen in Heiligendamm Säureattentate zu erfinden.

Der Job, den die Antifa zu erledigen hätte


Antifaschistische Strukturen weisen auf diese Missstände in den Behörden und die ernstzunehmende Gefahr und Brutalität der Neonazis seit Jahrzehnten hin. Immer wieder haben wir betont, dass Waffenfunde bei Neonazis nicht nur vereinzelte Zufälle sind, sondern dass dahinter organisierte Strukturen stecken und Neonazis nicht einfach so Waffen horten, sondern diese auch einsetzen wollen und werden. Häufig genug haben wir über rassistische Motive für Angriffe und Morde aufgeklärt, während staatliche Organe keine politischen Hintergründe ausmachen wollten. Nicht nur, aber auch dafür, dass wir hierbei ein strukturelles Versagen des politischen Systems der BRD erkennen, werden wir teilweise belächelt und ignoriert, teilweise angegriffen und mit Repression überzogen. So erschreckend wie dieser Zustand ist, so sehr haben wir uns in ihm eingerichtet, uns mit der konkreten Situation arrangiert; die Antifa-Bewegung vertraut verbreiteten Rechercheinformationen, outet lokale Neonazis und ihre Strukturen, stellt sich in den Weg wenn sie aufmarschieren wollen, etabliert eine Gegenkultur, zeigt strukturelle Hintergründe wie Alltagsrassismus auf und versucht Erkenntnisse und Sichtweisen zu vermitteln, auch um politische Wirkungsmacht zu erlangen.


Aber auch wir haben über zehn Jahre lang nicht die konkrete Mordserie des „NSU“ als solche gesehen. Auch dann nicht, als migrantische Communities längst Alarm schlugen. Wir haben keinen Einspruch gegen die unsäglichen, medialen Begriffe „Döner-Mord“ und „Sonderkommission Bosporus“ erhoben, ihre Verwendung entsprach den Erwartungen, die wir an Polizei und Gesellschaft haben, wir sind trotz allen kritischen Denkens an den hegemonialen rassistischen Diskurs gewöhnt.


Nicht zufällig wählen wir als Ausgangspunkt unserer Politik einen antifaschistischen Ansatz, denn im Land der Täter zu leben schafft – auch 68 Jahre nach dem militärischen Sieg über den deutschen Faschismus – ein besonderes Vorzeichen für das Handeln einer radikalen Linken. Aber die Perspektive, die wir damit wählen ist häufig eine deutsche Perspektive. Die Betroffenen von Rassismus, die hier lebenden, internationalen Communities und die seit Generationen als „Fremde“ stigmatisierten, erleben die rassistische Grundstimmung vor einem anderen, unmittelbaren Hintergrund: sie merken durch eigene Betroffenheit den Hass und die Feindseligkeit, die ihnen durch die rassistische Grundhaltung in dieser Gesellschaft alltäglich entgegen gebracht wird. Diese alltägliche Erfahrungswelt kann von der mehrheitlich weißen, deutschen Antifa nicht nachvollzogen sondern nur von außen versucht werden, sie zu analysieren.


Diese Sichtweise von Außen führt allerdings zu einer anderen Herangehensweise an die politische Dimension rassistischer Angriffe. Neben der StellvertreterInnenpolitik wird selbstverständlich ein aktiver, internationalistischer Bezug aufgebaut und auch versucht sich mit Betroffenen in Deutschland auszutauschen und im besten Falle eine gemeinsame Politik zu gestalten. Dabei sind wir aber nicht unvoreingenommen: wir beziehen uns maßgeblich wenn nicht sogar ausschließlich auf emanzipatorische Kräfte, sowohl international als auch innerhalb der deutschen migrantischen Communities. Mit diesem kleinen Ausschnitt an Betroffenen stehen wir dann vielleicht kurzfristig in engem Kontakt für die jeweilige Kampagne oder Demo, aber seltenst in einem langfristigem Austausch und Vertrauensverhältnis.


Gleichzeitig teilen wir die miteinander verknüpften Kampffelder innerhalb der radikalen Linken auf, ohne dass es zu einem ausreichenden Austausch sowohl von harten Informationen als auch von unterschiedlichen Analysen der politischen Situation kommt. Hier die Antifa, die Nazis haut, dort die Recherchegruppen die Informationen zusammenstellen und zwischen drin die Antira, die den engen und langfristigen Kontakt mit Betroffenen pflegt.


Auf lokaler Ebene und auch bei zeitlich und räumlich begrenzten, bundesweiten Ereignissen, bei denen wir problemlos auf unser übliches politisches Handwerkszeug zurückgreifen können, scheint dieser Ansatz bisher ausreichend, wenn auch nicht zufriedenstellend. Zumal auch bei einem besseren Austausch wohl nicht davon ausgegangen werden kann, in direkter Konfrontation mit dem VS, den „NSU“ in seiner Form erkannt haben zu können.


Die beängstigende Vermutung, dass hinter anderen Anschlägen, die wir immer als Einzeltaten betrachtet haben, andere, langjährig aktive Neonazi-Zellen stecken, möchte die Antifa  – nicht zuletzt auf Grund mangelnder Rechercheerkenntnisse – auch heute nicht aussprechen. Vielleicht sollten wir uns mehr trauen, bei immer wieder ähnlichen Handlungsabläufen auch öffentlich auf die Möglichkeit von langfristig organisierten Neonazis, die aus dem Untergrund oder als Feierabendtäter agieren, hinzuweisen, selbst wenn es erst mal nur als langer Wurf erscheint.


Für uns noch ernüchternder ist aber, dass nach der Selbstenttarnung des „NSU“ nahezu einheitliche Schockstarre in der Antifa herrschte; wir fühlten uns in unserer Sichtweise auf Geheimdienste, Polizei und Politik bestätigt, waren vielleicht auch überrascht oder verängstigt ob der Dimension und des zeitlichen Ausmaßes des „NSU“, vermuteten wahrscheinlich sofort, dass gleich wieder die Lügen, Beschwichtigungen und Vertuschungsversuche der Verantwortlichen kommen würden und unser übliches politisches Handwerkszeug wie Demos, Veranstaltungen und Flyer ließ uns im Stich.


Dabei wäre dies genau der richtige Zeitpunkt gewesen, an die Öffentlichkeit zu gehen, Forderungen zu erheben und nicht locker zu lassen, politischen Druck auf alle unsere BündnispartnerInnen aufzubauen und in dem Falle, dass dies nicht nützt, den Forderungen durch militantes Einschreiten die nötige Drohkulisse zu verschaffen.


Mit der ersten Aktenvernichtung hätten wir die VS-Behörden belagern und ausräumen müssen, letzendlich die gleichen Bilder produzieren wie bei der Stürmung der Stasi-Zentrale, eine internationale Untersuchungskommission hätte eingesetzt werden müssen, damit deutsche Behörden nicht so leicht vertuschen können. Wir hätten auch auf bundesweiter Ebene eine Stimme haben müssen, die auf Augenhöhe im öffentlichen Diskurs mithalten kann, statt aus vielen Städten vereinzelte kleine Aufschreie zu hören, die im medialen Gewitter doch wieder untergehen.


Die gemeinsame Arbeit mit Betroffenen bzw. ihren Hinterbliebenen wäre in diesem Moment nicht nur auf unmittelbarer, individueller Ebene richtig, sondern hätte auch moralisches Gewicht mit sich gebracht.


Neben der absolut richtigen Forderung nach Auflösung des VS hätte die sofortige Einstellung aller Zahlungen an V-Leute zumindest eine realpolitisch umsetzbare Forderung sein können.


Wir haben aber zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich noch nicht einmal vollständig erkannt, dass in diesem konkreten Fall weniger die Neonazis als die sie unterstützenden Behörden unsere Angriffsfläche sein mussten.


Die Tatsache, dass wir hiermit nicht alleine stehen, sondern auch Opferstellen, die Antira-Bewegung, bürgerliche Bündnisse und Ähnliche nicht in der Lage waren, den  „NSU“ zu erkennen oder angemessen auf diesen zu reagieren, zeugt von einer grundsätzlichen und strukturellen Problematik. Weder die rein akademische Selbstreflektion noch das Abschütteln von Kritik durch Hinweis auf eigene Leistungen können hier einen einfachen Ausweg bieten.


Langfristig müssen wir unser politisches Handwerkszeug dahingehend erweitern, Handlungsoptionen abseits der eingetretenen Pfade zu erhalten. Der direkte Austausch mit Betroffenen muss intensiviert und eine gemeinsame Politik entwickelt werden, auch mit Menschen die uns anderweitig politisch nicht bereits nahestehen, oder die nicht gerade um die Ecke wohnen. Ein Austausch muss nicht nur zwischen den unterschiedlichen Politikfeldern der Linksradikalen stärker und organisierter angegangen werden, sondern auch bundesweit unter verschiedenen Gruppen. Nur so kann letztendlich aus unzusammenhängenden Rechercheergebnissen und lokalen Ereignissen eine gemeinsame Analyse entstehen. Auch wenn dies selbstverständlich nicht automatisch dazu führt, dass Untergrund-Neonazis als solche erkannt werden können, bietet dieser Austausch letztendlich die Grundlage, um mit einer gemeinsamen Stimme im öffentlichen Diskurs zumindest punktuell Wirkungsmacht zu entfalten.


Nicht zuletzt ist es nötig, grundlegende Pläne für politische Handlungsoptionen zu entwickeln, die es uns erlauben, auf zeitlich unerwartete Ereignisse reagieren zu können.


Abseits vom „NSU“ kann in der aktuellen Lage wohl mit Fug und Recht behauptet werden, dass die deutsche Gesellschaft gerade auf eine Situation wie 1991 oder 2000 zusteuert, in der Flüchtlingsheime angegriffen werden und der Bürgermob noch am Abend davor „Wir sind das Volk“ skandiert. Gibt es erste Tote, werden eine breite gesellschaftliche Empörung gepaart mit klammheimlicher Freude wieder die einzig wahrnehmbare Reaktion sein.

Wir sind in der Verantwortung, ob direkt oder durch politische BündnispartnerInnen, diesen Konflikt offensiv anzugehen. Nicht noch einmal sollten wir der Staats-Antifa mit ihrem verlogenen „Aufstand der Anständigen“ und „lückenlosen Aufklärung“, das Feld der Empörung  überlassen.


Der Rassismus dieser Gesellschaft legt den Mördern die Waffe in die Hand


Das Problem entsteht nicht erst da, wo längst ideologisch gefestigte Neonazis sich entscheiden, paramilitärisch zu agieren, sich zu bewaffnen und ihr Welt- und Menschenbild durch Mord und Verfolgung umzusetzen. Was bei der Antifa die Blindheit der eigenen Perspektive ist, ist in der deutschen Gesellschaft eine rassistische Macht- und Deutungsstruktur, die nicht nur blind macht, sondern die Unterdrückung, Diskriminierung und Verachtung gegenüber MigrantInnen und von Rassismus betroffenen Menschen erst hervor bringt.


Die Norm, die diese Ideologie herstellt, suggeriert immer noch, dass die deutsche Gesellschaft eine weiße wäre und sogar eine weiße sein sollte. Wo „deutsch“ gesagt wird, wird immer noch „weiß“ gedacht. Alles, was nicht „weiß“ ist, wird damit gleichzeitig als nicht dazugehörig hingestellt.


Das alleine schon liefert die Grundlage für einen rassistischen Nährboden, auf dem Sarrazin wieder behaupten kann, dass es „biologische“ Unterschiede zwischen „Rassen“ geben würde; oder auf dem Menschen, die auf der Flucht hierher kommen, von den Ausländerbehörden drangsaliert werden, mit dem Ziel, sie zu einer „freiwilligen“ Ausreise zu bewegen; er ist die Grundlage dafür, dass ein Mob von frustrierten Deutschen überhaupt auf die Idee kommen kann, dass an sozialen und gesellschaftlichen Missständen „die Anderen“ schuld sein sollen, die sie dann z.B. in Rostock-Lichtenhagen als Projektionsfläche ihres Hasses missbrauchen. Rassistische Ideologie in der Gesellschaft und die Abschottung des Nationalstaates, der bürgerliche Rechte verteilt und diejenigen, denen er sie nicht zukommen lässt abschiebt, gehen dabei Hand in Hand und bestärken sich gegenseitig.


Wo eine solche Norm das Fundament der Gesellschaftsstruktur bildet, da fällt die Wertung des sozialen Geschehens dann auch dementsprechend aus: rassistisch motivierte Gewalt wird nicht oder kaum benannt. Auch wenn Fälle noch so offensichtlich sind, versucht die Polizei fast immer zu betonen, dass sie rassistische oder „rechtsextreme“ Tatmotive nicht erkennen könne. Rassistische Gewalt wird als solche nicht erkannt und benannt. Teils weil sie der Norm entspricht, teils weil rassistisch motivierte Taten politisch unerwünscht sind und sich Behörden vorauseilend daran halten, teils weil Neonazis ausnahmsweise geschickt und heimlich vorgehen, teils weil im öffentlichen Bild der provozierende, junge Migrant eine viel deutlichere Stellung hat, als der Neonazi von nebenan.

 

Kein Wunder also, wenn sich aus so einer Stimmung heraus überzeugte Rassisten dazu beflügelt sehen, ihre menschenverachtenden Wahnvorstellungen auch mit der Waffe in der Hand umzusetzen.  Eine Auswirkung der Verbindung zwischen staatlich-ideologischem Apparat und rassistischem Gewaltsystem ist dabei, dass rechte Brutalität in dieser Gesellschaft, auch durch die Deutungshoheit staatlicher Institutionen, unsichtbar gemacht wird. Jahrelang hat der „NSU“ Menschen ermordet, ohne dass es in der Öffentlichkeit oder im gesellschaftlichen Bewusstsein irgendeine Aufmerksamkeit erregt hätte. Es störte einfach niemanden, dass reihenweise Migranten umgebracht wurden, solange man nicht wusste, dass die Täter Neonazis waren. Wer weiß, wie die gleiche Mordserie wahrgenommen worden wäre, wenn die Opfer deutsch gewesen wären. Genau an dieser Stelle reicht das Problem aber weiter: ebenso wie die staatlichen Ermittlungsbehörden bei neun Morden an MigrantInnen auf deren Communities gezeigt und in der Öffentlichkeit dafür Gehör gefunden haben, deuten bürgerliche Öffentlichkeit und rassistischer Staat im gesellschaftlichen Diskurs Angriffe auf MigrantInnen und Diskriminierte immer wieder als unbedeutendes Alltagsgeschehen.


Der „NSU“ ist bewusst unsichtbar geblieben, auch um lediglich diffus mit seinen Taten eine Stimmung der Angst und Verunsicherung unter MigrantInnen zu verbreiten. Den gleichen Effekt haben die alltäglichen Gewalttätigkeiten, unter denen MigrantInnen leiden müsse und die auch vom staatlichen Deutungsmonopol und dessen unkritischer Rezeption einer rassistisch strukturierten Öffentlichkeit unsichtbar gemacht werden. Für die Betroffenen aber ist diese Gewalt allgegenwärtig. Wie viele Opfer der „NSU“ oder ihm verwandte, rechte Gewalt tatsächlich gekostet hat, lässt sich vor diesem Hintergrund ihrer Unsichtbarkeit nicht einmal sagen.

 

Es liegt an uns – Rassismus bekämpfen! Antifaschismus organisieren!


Die Mordserie des „NSU“ ist für die antifaschistische Bewegung ein schmerzhaftes, mahnendes Signal. Antifaschistische Politik muss da ansetzen, wo die Betroffenen rassistischer Gewalt alleine gelassen werden. Die Verbindung von antifaschistischer und antirassistischer Politik, wie sie vielerorts schon begonnen wurde, muss weiter vorangetrieben werden und darf nicht als getrennte Politik- und Kampffelder behandelt werden.

Während Teile der antifaschistischen Bewegung noch in einer Art Schock über die eigene Handlungsunfähigkeit verharren, drohen sich in verschiedenen Bundesländern die rassistischen Anfeindungen gegen Flüchtlingsunterkünfte oder migrantische Einrichtungen zu einem Flächenbrand zu entwickeln. Parallel und in Wechselwirkung zur Wirtschafts-Krise und dem ohnehin vonstatten gehenden Ausbau der Festung Europa gewinnt damit ein rassistischer Diskurs an Bedeutung der uns in kurzer Zeit in eine ähnliche Situation bringen wird, wie Anfang der 90er Jahre. Gebrannt hat es in den letzten zwei Monaten bereits mindestens sieben mal.


In den Metropolen sind wir als Bewegung noch ausreichend aufgestellt um eine Gegenöffentlichkeit zu organisieren, zugegebenermaßen sind wir aber kaum in der Lage, als eine Art Alternativpolizei einen täglichen Schutz für alle bedrohten Heime zu stellen. Lösungsansätze müssen also sowohl versuchen breiter anzusetzen und dennoch das Ziel haben, das nächste Pogrom zu verhindern bevor es geschieht. Es ist jetzt an uns, die Vorzeichen des gesellschaftlichen Rollbacks zu erkennen, zu benennen und zu intervenieren.

 

Antifaschistische Linke Interantional, November 2013

 

Mehr infos unter: www.ali.antifa.de

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Mittlerweile rufen mehr als 50 Gruppen und Organisationen mit einem gemeinsamen Aufruf zur Teilnahme an der Demonstration am 29.11. auf. 

Diesen gibts hier!

Er kann auch weiterhin per Mail an goettingen@gj-nds.de unterstützt werden.