"Wir werden gelebt."

Über das Verhältnis der Freudschen Trieblehre zur materialistischen Gesellschaftskritik - Vortrag von Martin Dornis

 

Die Psychoanalyse Freuds seziert den seelischen Haushalt des Individuums in der spätkapitalistischen Gesellschaft: „Wir sind nicht Herr im eigenen Hause." Zugleich wird jedoch der Regression des Individuums zum Massenwesen die Reflexion entgegengehalten: „Wo ES war soll ICH werden, ist also der Leitspruch der Psychoanalyse." Die Menschen wähnen sich frei, sind aber in ihrem Denken, Handeln und Wünschen von unbewußten Impulsen bestimmt. Diese Determination wird in der Trieblehre ihrerseits naturalisiert, was sich insbesondere an der Lehre vom Todestrieb zeigt. Daher wird Freud häufig vorgeworfen, den Menschen auf ein reines Triebwesen zu reduzieren: Er habe „die Gesellschaft" vergessen, seine Lehre sei daher soziologisch zu ergänzen – ein Vorwurf der jedoch am Begriff des Triebes, der nicht als biologischer Instinkt, sondern als geschichtsphilosophische Konzeption zu interpretieren ist, völlig vorbeigeht. Und auch die Einwände der sog. empirischen Psychologie verfehlen den Kern der Freudschen Lehre. Denn gerade an seiner Trieblehre läßt sich verdeutlichen, daß Freud das Individuum als zugleich natürliches und gesellschaftliches Wesen kennzeichnet, als ein Wesen, daß gerade dort, wo es gesellschaftlich ist, natürlich, und wo es natürlich ist, gesellschaftlich agiert. Die Behauptung, daß der Mensch nicht biologisch, sondern gesellschaftlich bestimmt sei, kommt soziologisch denkenden Menschen (namentlich „Linken"), allzuleicht über die Lippen. Sie verkennen, daß er als gesellschaftliches vielmehr ein ungesellschaftliches und als natürliches gerade ein unnatürliches Wesen ist. Den Begriff des Triebes aus Freuds Lehre zu eliminieren, bedeutet, seine Lehre ihrer gesellschaftskritischen Intention, damit ihrer Wahrheit zu berauben.

 

Es spricht Martin Dornis (Leipzig), Autor u.a. von Der Meister aus Deutschland. Zur Kritik der Ideologie des Todes, in: Alex Gruber/Philipp Lenhard (Hg.), Gegenaufklärung. Der postmoderne Beitrag zur Barbarisierung der Gesellschaft (ça ira).

 

 

Um 20°° im Jos Fritz-Café, Wilhemstr. 15 (Spechtpassage).

 

 

 

 

Initiative Sozialistisches Forum

Jour fixe

Herbst / Winter 2013 / 2014

 

 

Der Einleitungstext „I am what I am – my own special creation. Zur Pathologie einer grünen Charaktermaske" sowie das Kommentierte Programm unter: www.isf-freiburg.org