Gestern war nicht aller Tage

Dieser Flyer-Text ist zwar schon etwas älter (Mitte/Ende Oktober 2010), hat aber wenig an Aktualität eingebüßt.

 

Welt in Aufruhr

 

Vor einer Woche, am Dienstag den 12. Oktober, demonstrierten in ganz Frankreich gut 3,5 Millionen Menschen. Der offizielle Anlass war die Pensionsreform, die unter anderem das Renteneintrittsalter um zwei Jahre erhöhen soll. Auffällig war eine enorme Beteiligung junger Menschen, hunderte Schulen wurden bestreikt. Warum sollte sich die Jugend für Pensionen interessieren? Sind die Menschen in Frankreich einfach nur arbeitsfaul und haben Gaudi beim Streiken und Demonstrieren? Oder sehen die Menschen vielleicht, dass die Pensionsreform nur einer der größeren Brocken ist in einem „Sparpaket“, das sie zu Recht als Angriff auf ihre Lebensqualität und auf sozialstaatliche Errungenschaften betrachten? Ein Angriff, für dessen Abwehr sie die künstlichen Grenzen, die von Staat und Wirtschaft zwischen ihnen errichtet wurden, überwinden müssen.

 

Mit jenem Tag war es nicht etwa vorbei in Frankreich, seit dem gab es fast jeden Tag ähnlich große Demonstrationen, gleichzeitig streiken ArbeiterInnen in Ölhäfen und Raffinerien, blockieren Öl-Depots, und sorgen so bereits für Benzin-Engpässe. In Umfragen ist eine deutliche Mehrheit für eine Ausweitung von Streiks und Demonstrationen. Sind die verrückt geworden, weltfremd, oder haben die Menschen einfach die Schnauze voll?

 

In Athen blockierten letzte Woche Angestellte des Kulturministeriums die Akropolis, weil sie seit fast zwei Jahren keinen Lohn erhalten hatten. Sie wurden mit Tränengas und Schlagstöcken vertrieben, sind aber nicht etwa nach Hause gegangen, sondern harren seit Tagen neben den Spezialeinheiten der Polizei bei der historischen Stätte aus.

 

Auch in Griechenland war vor ein paar Monaten die Versorgung mit Benzin am zusammenbrechen, weil die LKW-FahrerInnen streikten. Der Staat setzte ein 36 Jahre altes Gesetz ein, das die Einberufung der Streikenden zur Arbeit unter Androhung von Gefängsnisstrafen ermöglicht. Der Streik wurde vorerst ausgesetzt, seit dem aber schon mehrmals tageweise wieder aufgenommen.

 

Selbst im eher Demo- als arbeitsfaulen Deutschland brodelt es. Die Kanzlerin macht in einer selten so offensichtlichen Arroganz hinter verschlossenen Türen Deals mit der Atomwirtschaft, die den längst beschlossenen und von einer breiten Mehrheit getragenen Austieg aus der atomaren Stromerzeugung aufschieben und rückgängig zu machen drohen. Kurz danach gehen in Berlin 100.000 Menschen auf die Straße. Das Thema schlummert gerade, aber Anfang November rollen wieder Atomtransporte unter dem klingenden Namen Castor. Die Mobilisierung zu Protesten und dem Versuch, den Transport zu stoppen gehen weit über die Grenzen der am Boden geglaubten Anti-Atom Bewegung hinaus. Besonders die Kampagne „Castor? Schottern!“ macht von sich reden: In einer Massenaktion soll der Schotter unter den Gleisen, auf denen der Castor rollen wird, abgetragen werden. Nun wurden 500 Strafanzeigen größtenteils gegen Personen ausgestellt, die sich auf der Homepage der Kampagne solidarisch erklärt haben. Das Resultat ist eine neue Welle von öffentlichen Solidarisierungen.

 

In Stuttgart wird ein absurdes Bahnhofsbau-Großprojekt von einer zunehmend breiten Bewegung bekämpft. Natürlich ging es von Anfang an um mehr, mit dem Alten Bahnhof werden zum Beispiel viele alternative Kultur- und Wohnräume geräumt und abgerissen. Investoren freuen sich darauf, das große Areal in der Innenstadt endlich mit teuren Luxuswohnungen und Büros zu bebauen.

 

Nachdem die Polizei dort einen Park mit großer Brutalität räumen ließ, gingen die Bilder von auf SchülerInnen einprügelnden Bullen und einem durch einen Wasserwerfer blind geschossenen Mann durch Medien und Internet, und werfen die Frage auf: Which side are you on? Inzwischen sagen viele, das es längst nicht mehr um den Bahnhof geht, sondern darum, dass die Politik Entscheidungen gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzt, und dass es gelte, sich dagegen zu wehren.

 

Das wachsende Unbehagen

 

Wer im Herbst 2010 mit offenen Augen durch die Welt geht, hat allen Grund, die Schnauze voll zu haben. Ob nun als Studierende/-r oder ArbeiterIn, AMS-Unterworfene/-r oder prekär Beschäftigte/-r in der Wissens- und Kulturindustrie oder der Dienstleistungsbranche, als Mensch ohne Papiere oder Flüchtling, wir alle wissen, dass diese Welt für uns bestenfalls ein Überleben bereithält, ob mit oder ohne Plasmabildschirm und rollender PS-Blechkiste auf Raten.

 

Der Blick in die Zeitung offenbart eine Welt, in der Irrationalität zu regieren scheint.

 

Die angeblich auf dem Fundament von Humanismus und Aufklärung gebauten Staaten des gesitteten Europa schieben täglich unter Einsatz von Gewalt Menschen ab, ein Aufschrei erfolgt höchstens wenn diese unmenschliche Politik kleine Kinder trifft, die den Großteil ihres Lebens hier verbracht haben.

 

Banken werden für viele Milliarden gerettet, kurze Zeit später erhöhen sich deren ManagerInnen bereits die Gehälter um saftige Prozente. Nur verständlich, an ihrer Stelle würden wohl die Meisten versuchen noch ein paar Mille ins Trockene zu bringen, bevor die nächste Krisenwelle kommt.

 

Gleichzeitig heißt es, es muss hart gespart werden, so ist die Erosion oder schrittweise Zerschlagung des sogenannten Sozialstaats quasi eine unausweichliche Bedingung für das Überleben des Standorts, und unter der Flagge des nationalen Selbsterhalts im Spiel Alle-gegen-Alle ziehen zähneknirschend alle mit.

 

Weiterhackeln, wer eine Arbeit hat! Und wer nicht, möge sich geschwind besser anpassen, in ihr/sein eigenes Humankapital investieren, und soll sich nicht wundern, wenn die Gesellschaft nur Almosen abfallen lässt. Die sind selbstverständlich an Bedingungen geknüpft, und sei es eben der zehnte AMS-finanzierte Kurs in HTML oder „Wie bewerbe ich mich richtig?“.

 

Das Wichtigste ist ja ohnehin, dass wir lernen uns unterzuordnen und den Verhältnissen zu fügen. Dass der Laden sonst nicht rennen kann, sollte ja wohl allen klar sein.

 

Die von den Staaten in eiligen Nachtsitzungen für Banken zur Verfügung gestellten Unsummen müssen natürlich irgendwo wieder reingeholt werden. Schaut mensch sich an, wie das passiert, sieht das nicht zufällig aus wie die Erfüllung der kühnsten Traumvorstellungen neoliberaler Ideologie. Die „Krise“ wird von oben genutzt, um den Staat auf seine Grundfunktionen zurecht zu stutzen und ihm alles Soziale endgültig auszutreiben.

 

Ohne Zweifel waren die Bankenrettungen „notwendig“, um das weitere Funktionieren der Wirtschaft zu ermöglichen. Die Frage, die wir uns aber letztlich stellen müssen ist: Wollen wir, das die Wirtschaft so funktionert?

 

Die Ausbreitung der sozialen Wüste

 

Denn selbst in scheinbar guten und stabilen Zeiten hat die gesellschaftliche Form in der wir leben wenig Erfreuliches.

 

Oft fällt uns die Öde der vorstrukturierten Ausbildung und der Lohnarbeit gar nicht mehr auf, weil sie so allgegenwärtig ist. Als Studierende/-r kann die Welt noch recht abwechslungsreich sein. Wer erstmal ein paar Jahre einen Vollzeitjob gemacht hat weiß wie es ist, wenn keine Zeit bleibt, am eigenen Leben zu stricken. Egal ob nervtötende Akkordarbeit oder ein scheinbar spannender Job, wir verkaufen unsere Zeit für fremde Zwecke und zu einen Preis, der immer unangemessen bleiben muss, weil er die veräußerte Lebenszeit nicht ersetzen kann. Wenn wir gut darin sind, unseren eigenen Marktwert zu optimieren, winkt vielleicht ein Lohn, der es uns ermöglicht allerlei Dinge anzuhäufen, für deren Nutzung wir immer weniger Zeit haben.

 

Mehr Inhalt bekommt das Leben nicht durch das erhöhte Konsumieren von teureren Waren, das fühlen wir implizit, aber welche andere Kategorie bleibt zur Messung unseres Erfolgs im Leben? Auch steigt durch das dickere Bankkonto nicht wirklich unser Selbstwertgefühl, es ist eher das gezwungene Grinsen der Gesichter aus glänzenden Werbeprospekten, das uns winkt, aber besser als sich im Winter zu sorgen, ob mensch die nächste Gasrechnung bezahlen kann ist das doch allemal. Oder?

 

Gerade wer viel verdient oder einmal verdienen will arbeitet ja deshalb nicht weniger, sondern sieht es oft irgendwann als ganz normal an, dass sich die Arbeit bis zum Schlafen Gehen in den eigenen vier Wänden fortsetzt. Die Freiheit zum Kauf von Waren und zum Besitz von Dingen ist das einzige Heilsversprechen, die das Siegersystem des Kalten Krieges noch glaubhaft rüberzubringen im Stande ist. Das Potential zu erlangen, über das absolut Notwendige hinaus konsumieren zu können, bedeutet, es geschafft zu haben, am guten Leben teilzuhaben. Triste Aussichten.

 

Wer meint, mensch könne auch etwas „Sinnvolles“ tun, die oder der schaue sich doch mal um, wie gerade u.a. die europäischen Staaten die Budgets für alles streichen, was über sogenannte „Sicherheit“, also Überwachung und Schutz von Privateigentum, und Armutsverwaltung hinaus geht. In Staaten wo die sozialen Spannungen etwas offensiver zu Tage treten, verschmelzen diese beiden Aspekte in der Aufstandsbekämpfung. In Frankreich denkt die Regierung wohl schon wieder über den Einsatz des Militärs nach.

 

Die sicheren Posten mit geregelten Arbeitszeiten und diversen Zuschlägen, die mensch zumindest mit einem Universitätsabschluss bis in die frühen Neunziger recht ernsthaft hoffen konnte zu ergattern, gehören großteils der Vergangenheit an. Wer nicht zu nah an die Armutsgrenze kommen möchte, die oder der übe sich bitteschön in lebenslanger Ellenbogen-Konkurrenz. Dabeigeht es eben nicht, wie uns gerne verkauft wird, darum, das Beste aus sich herauszuholen. Lohnarbeit ist nie die Entfaltung des Selbst, der eigenen Fähigkeiten und Kreativität, sondern immer eine Anpassung an äußere Anforderungen. „Gut sein“ heißt nur noch, besonders effektiv für andere Gewinn zu produzieren, und als Belohnung ein paar mehr Krümel von der Torte abzubekommen.

 

Wenn die Krümel grad nicht reichen, kann du ja einen Kredit aufnehmen, das machen doch alle so. So kannst du auch schon heute einen schnuckeligen Neuwagen fahren, mit dem du ohnehin hauptsächlich zur Arbeit und zum Einkaufen fährst.

 

Aber wahres Glück ist doch genau das, oder?

 

Wenn dieser Gedanke etwas übel aufstößt, kommt bestimmt grad die neue Staffel deiner Lieblings-Serie raus. Andere Lieblings*-Beschäftigungen kannst du dir zeitlich zwar kaum leisten, oder du redest es dir zumindest ein, aber die würden ohnehin das flaue Gefühl nicht so effektiv vertreiben wie die Flimmerkiste. Ganz nebenbei hast du irgendeiner Bank einen beachtlichen Teil deiner zukünftigen Lebenszeit übertragen, bevor du ihn überhaupt gelebt hast. Geht es nach dem Willen besonders dreister Freunde und Freundinnen des neoliberalen Weges, wie etwa Wissenschaftsministerin Karl, würde so auch die Finanzierung jeglicher Hochschulbildung aussehen.

 

Das durchzusetzen scheint vielleicht noch etwas schwierig, deshalb wird jetzt erst einmal konsequent kaputtgespart, letztlich wird wohl eine kreditfinanzierte Studienfinanzierung als rettende „Lösung“ präsentiert werden, nebenbei lassen wir doch gleich den Unis und jeweiligen Studienrichtungen die Möglichkeit, die Höhe selber festzulegen, und aus die Maus mit der öffentlichen Universität. In Großbritannien ist genau das jetzt geplant, bisher waren die Gebühren zumindest gedeckelt. In Zukunft wird es dort ungezügelte Konkurrenz geben, die guten Abschlüsse werden eine dicke Brieftasche erfordern. Für die Gelder aus Steuertöpfen werden die RektorInnen weiter gern die Hand aufhalten. Damit lassen sich gut Strukturen ausbauen, deren Vermarktung letztlich dem Unternehmen Uni gute Bilanzen beschert.

 

Die Hoffnung, in Österreich als Land der Sozialpartnerschaft und des institutionalisierten Klassenkompromisses werde es wohl nicht so arg kommen, wird vermutlich zu Enttäuschungen führen. Wenn in der EU die Länder der südlichen Peripherie, allen voran Griechenland, dazu gezwungen werden, zur Abzahlung ihrer Schulden an die Banken des Nordens ihren Sozialstaat zu zerschlagen und alles was über Grundfunktionen des Staates hinaus geht zu privatisieren, Löhne und Pensionen zu senken, dann übt das auf die restlichen Staaten der EU schon einen gewissen Druck aus, das selbe zu tun. Wenn, wie es jetzt gerade passiert, auch große Länder wie Deutschland und Frankreich mitziehen, wird sich der Rest nicht mehr drücken können.

 

Noch sind die Details des Budgets von Pröll, Faymann und Co aus wahltaktischen Gründen geheim gehalten worden, in den nächsten Tagen werden wohl Details bekannt gegeben, am 1. Dezember will der Finanzminister seine Budgetrede im Nationalrat halten.

 

 

Erste Bewegungen

 

Letzten Herbst war es für viele Studierende und andere Universitätsangehörige genug. Wieder ein Semesteranfang mit Problemen, einen Platz zu bekommen, sei es in der Vorlesung oder im elektronischen Anmeldesystem. Eine totale Modularisierung nicht nur der neuen Studienpläne sondern auch der Wahlfächer. Die Unmöglichkeit, das Studium nach eigenen Interessen auszurichten. Eine Uni-Leitung, die zwar Banken, Beraterfirmen und Supermarktketten regelmäßig Platz auf der Uni einräumt, aber Räume zur freien Entfaltung für Studierende unterbindet. Eine höchst prekäre Jobssituation vor allem für junge Lehrende. Die Übermacht des Rektorats, die Entmachtung oder Ausschaltung demokratischer Mitbestimmung.

 

Das Universitätsgesetz von 2002 unter schwarz-blau hatte den Umbau der öffentlichen Unis zu autoritär geführten Unternehmen eingeleitet, die Novelle 2009, die mit roter Zustimmung den Nationalrat passierte manifestierte diese Schlagrichtung noch, trotz scharfer Kritik aus diversen Richtungen. Aber wen wundert's: War doch schon das Gesetz von 2002 auf dem Mist bzw. Entwurf der Industriellenvereinigung gewachsen. Politik ganz unverblümt im Sinne der großen Banken und Konzerne zu machen ist derzeit scheinbar in. Immer weniger scheinen es die Ausführenden für nötig zu halten, sich dabei zu verstecken. Der Widerstand dagegen ist vereinzelt, von begrenzter Dauer, und am Ende reicht die Medienmaschine in Kombination mit dem allgemeinen Gefühl der Alternativlosigkeit aus, damit der Großteil der Leute doch wieder irgend ein „kleinstes Übel“ wählt.

 

Wenn dann doch mal eine Partei an die Macht kommt, die vorher die Verhältnisse kritisiert hat, so bleibt sie am Ende in der Logik der Sachzwänge verhaftet, sie hat sich darauf eingelassen, einen Staat zu verwalten, dessen Hauptfunktion die Aufrechterhaltung von für die Warenzirkulation günstigen Bedingungen ist. Wer, ob glaubhaft oder nicht, mit dem großen Versprechen vom großen „Change“ an die Macht kommt, wird spätestens dort letztlich korrumpiert, anfänglich gute Intentionen mal unterstellt, siehe Obama, siehe die deutschen Grünen.

 

Wo Protest ein bisschen entschlossener wird und effizient zu werden droht, bleibt dem Staat noch immer das Gewaltmonopol zur Aufrechterhaltung der Ordnung, siehe Stuttgart 21, Akropolis, und die Drohung des Militäreinsatzes im Inneren in Frankreich.

 

 

Was bleibt?

 

Es scheint fast aussichtslos, sich gegen die Misere zur Wehr zu setzen, besonders die vielen kleinen Kämpfe werden von den Mächtigen oft einfach ausgesessen.

 

Eine andere Perspektive könnte sich aber vielleicht auftun, wenn wir aufhören, vereinzelt um unsere eigenen Privilegien innerhalb des Systems zu kämpfen, sondern uns wirklich mit all jenen verbinden, die auch sehen, dass grundsätzlich etwas falsch läuft.

 

Wann wir die Kraft haben werden, die herrschende Ordnung wirklich ins Wanken und zu Fall zu bringen, und auf ihren Trümmern eine andere, solidarische, menschlichere Welt aufzubauen, lässt sich schwer sagen.

 

Aber auch so lange diese Perspektive fern erscheint, würde es uns gut tun, in unseren Kämpfen eine generalisierte Ablehnung der Verhältnisse zu artikulieren und so über die Grenzen sozialer Gruppierungen hinweg einen Bund zu schließen. In Momenten, in denen das in der Luft liegt bekommen die ProfiteurInnen der bestehenden Ordnung kalte Füße und sind zu echten Zugeständnissen bereit. Bleiben wir bei vereinzelten Kämpfen um die Rechte unserer jeweiligen Gruppen, werden wir höchstens einen langatmigen „Dialog“ angeboten bekommen, an dessen Ende alles so gemacht wird wie es eh am Anfang geplant war.

 

Wien, Oktober 2010