Wut auf Politiker: Spaniens Jugend geht auf die Straße

Erstveröffentlicht: 
18.05.2011

Es begann am Sonntag und ging trotz eines Verbots auch in der vergangenen Nacht weiter: Zehntausende junge Spanier demonstrieren seit vier Tagen gegen die Sparpolitik der Regierung. Die zeigt sich ratlos.

 

Madrid –  Zwei Geister schweben über der Puerta del Sol, dem zentralen Platz der spanischen Hauptstadt Madrid. Der Geist des Kairoer Tahrir-Platzes und der Geist der europäischen Revolte von 1968. „Dies ist nicht dasselbe wie der Tahrir-Platz und nicht dasselbe wie der Pariser Mai“, sagt Bruno Correa. „Die gesellschaftlichen Umstände sind andere. Aber was wir hier tun, wird in die Geschichte dieses Landes eingehen.“

Bruno Correa, ein 30-jähriger Physiotherapeut, ist einer von Hunderten junger Leute, die sich an der Puerta del Sol unter improvisierten Zelten eingerichtet haben, um dort ihre Stimme für „einen wirklichen politischen und sozialen Wandel“ in Spanien zu erheben. Correa ist heiser vom vielen Reden. Seine Mitstreiter haben ihn zu ihrem Sprecher erkoren, er trägt eine reflektierende gelbe Weste − damit jeder, der etwas über ihren Protest erfahren will, ihn ausfindig machen kann.

Und viele sind gekommen: um mitzuprotestieren oder um sich zu informieren. Hier geschieht etwas Neues, wahrscheinlich etwas Wichtiges für ein Land, das seit drei Jahren eine der schwersten Wirtschaftskrisen seiner Geschichte erlebt und das bisher stillgehalten hat. Nun nicht mehr.


„Endlich wahre Demokratie“
Es begann am Sonntag, und für die meisten Spanier begann es überraschend. Weder in Madrid noch in den anderen größeren Städten Spaniens klebten auffällige Plakate, weder Zeitungen noch Radio- oder Fernsehsender hatten ihr Publikum darauf vorbereitet, dass für den Abend im ganzen Land Protestmärsche angekündigt waren. Dennoch kamen Zehntausende, aufgerufen über die sozialen Netzwerke von neuen Aktionsgruppen, die bisher niemand kannte. Democracia Real Ya heißt eine dieser Gruppen: Endlich wahre Demokratie. Gerade dass kein bekannter Name hinter dem Protestaufruf stand, verschaffte ihm Glaubwürdigkeit.

Allein in Madrid kamen mindestens 25.000 Leute, wahrscheinlich aber doppelt so viele, um friedlich und fröhlich durch die Innenstadt zur Puerta del Sol zu marschieren. „Wir sind keine Ware in Händen von Politikern und Bankern“, stand auf dem Transparent, das sie der Demonstration vorantrugen. „Einen solchen Widerhall hatten wir uns nicht vorgestellt“, sagte hinterher Fabio Gándara, Sprecher von Democracia Real Ya. Am späteren Abend machen ein paar radikale Systemgegner Randale. 24 nahm die Polizei fest. Doch damit waren die Proteste noch nicht zu Ende.

 

Am Montagabend versammelten sich mehr als 1000 hauptsächlich junge Leute an der Puerta del Sol, um für die Freilassung der Festgenommenen zu demonstrieren. Und sie beschlossen, die Nacht auf dem Platz zu verbringen. Am frühen Morgen schritt erneut die Polizei ein und vertrieb die Demonstranten. Die Bilder von der Räumung des Platzes, die bald im Netz kursierten, mobilisierten neue Demonstranten.

Am Dienstagabend war die Puerta del Sol wieder mit Tausenden Menschen jedes Alters gefüllt, die gut gelaunt und zugleich aufgeregt beieinanderstanden, weil sie das Gefühl hatten, eine neue Macht darzustellen: die Macht der Straße, die Macht des Volkes, das endlich von seinen Politikern gehört werden muss. „Letzte Neuigkeit: Spanish Revolution“, stand auf einem Transparent.

 


Über Nacht verwandelte sich der Platz ins Zentrum des Protestes, der auch andere spanische Städte ergriffen hatte. Mehrere Zeltplanen erstreckten sich gestern über die Puerta del Sol, auf dem Boden lagen auseinandergefaltete Pappkartons und Schlafsäcke, in einer Ecke stapelten sich Wasserflaschen und Essensvorräte, eine Lautsprecheranlage stand bereit. Hunderte junge Leute liefen umher, debattierten. Von irgendwoher klangen Trommeln. „Heute Abend um 20 Uhr die nächste Demonstration“, klang plötzlich eine Stimme aus der Lautsprecheranlage. „Wir sind dabei zu gewinnen!“ Die Menschen lachten und jubelten.

Und auch am Mittwoch versammelten sich rund 10.000 Menschen in Madrid: Ungeachtet eines Demonstrationsverbots haben sie erneut gegen die Sparpolitik der spanischen Regierung und die Arbeitslosigkeit protestiert. „No pasarán!“ (Sie werden nicht durchkommen), skandierten die Demonstranten in Anlehnung an die berühmte Durchhalteparole der republikanischen Widerstandskämpfer während des Spanischen Bürgerkrieges (1936-1939). Die Wahlbehörde hatte die Kundgebung wegen der anstehenden Regional- und Kommunalwahlen an diesem Sonntag verboten. Die Demonstration störe den Wahlkampf und sei nicht rechtzeitig beantragt worden. Kundgebungen gab es auch in anderen Städten, darunter Barcelona und Sevilla.

Gegen wen und was richtet sich der Protest? Bruno Correa versucht es zu erklären: „Bis zu einem gewissen Punkt können wir verstehen, dass der freie Markt uns diese Finanzkrise beschert hat. Was wir aber nicht verstehen, ist, dass die Politiker ausgerechnet diejenigen unterstützen, die uns in diese Krise geführt haben. Statt sie vor Gericht zu stellen und zur Verantwortung zu ziehen, hilft man ihnen sogar mit den Steuergeld, das die Arbeiter dieses Landes erwirtschaften.“ Die Demonstranten stellen die Systemfrage angesichts des Versagens eines Systems, das Spanien erst fast fünf Millionen Arbeitslose und dann ein schmerzhaftes Sparprogramm beschert hat. Die Demonstranten sind empört.

Wohin soll diese Empörung führen? „Wir sind eine friedliche soziale Bewegung“, sagt Bruno Correa. „Wir wollen keine Revolution anzetteln, keine Konfrontation schaffen oder das Land zerstören. Wir wollen friedlich, mit erhobenen Händen, eine wahre Demokratie schaffen. Die politische Klasse ist vollkommen abgekoppelt von der Gesellschaft und kennt unsere Sorgen nicht.“

Regionalwahl am Sonntag
Die politische Klasse, von der Correa redet, ist ziemlich ratlos. Die Parteien stecken im Wahlkampf. Die konservative Volkspartei weiß, dass sie die Demonstranten kaum für sich gewinnen kann, und die regierenden Sozialisten wissen, dass die Menschen an der Puerta del Sol gerade deswegen auf die Straße gehen, weil sie von der Regierung enttäuscht sind. Parteiwesen und Protestbewegung sind zurzeit zwei unversöhnliche Welten.

Mindestens bis zum Sonntag, dem Wahltag, sollen die Demonstrationen weitergehen. „Ich kann nicht sagen, was wir dann tun werden. Aber diese Geschichte wird nicht so schnell zu Ende sein“, sagt Bruno Correa.