Die Kernschmelze des Kapitalismus

Erstveröffentlicht: 
17.03.2011

Atom- und Finanzkrise hängen zusammen. Die japanische Schuldenmisere und die weltweite Energieknappheit werden auch die Probleme der Euro-Zone weiter verschärfen. Am Ende des Jahrzehnts wird sich das kapitalistische System von Grund auf geändert haben.

 

Nach der Finanzkrise steckt die Welt nun in einer sich dramatisch verschlimmernden Atomkrise. Es sieht so aus, als würde unser gesamtes kapitalistisches System unter den von ihm generierten Krisen zusammenbrechen. Momentan stehen wir unter dem Schock dieser neuen Krise. Aber beide Ereignisse hängen zusammen. Die gesamte Finanzkrisenpolitik verläuft ähnlich wie der verzweifelte Versuch des japanischen Energiekonzerns Tepco, mit Meerwasser die Brennstäbe unter Kontrolle zu halten. Man fummelt an den Symptomen, kann aber das eigentliche Problem nicht lösen. Solche Strategien fliegen am Ende auf. Wir stehen in unserer Finanzkrise vor einer ähnlichen Situation wie in Fukushima: vor einer Kernschmelze - mit dem Unterschied, dass sie im Finanzsystem deutlich langsamer abläuft.

 

Mir geht es aber nicht in erster Linie um die Parallelen beider Krisen, sondern um deren Interaktion. Erdbeben, Tsunami und Nuklearkatastrophe werden über eine ganze Reihe von Effekten unser Finanzkrisenmanagement beeinträchtigen. Der wichtigste dieser Effekte ist nicht einmal der direkte, der Produktionsausfall in Japan. Japans Industrie wird sich nach dieser Katastrophe erholen und die verloren gegangenen Produktionskapazitäten wiederherstellen. Die drei wesentlichen ökonomischen Effekte dieser Katastrophe sind ihr Einfluss auf die Solvenz Japans, auf die globalen Finanzmärkte einschließlich der Versicherungsindustrie und auf die langfristigen Energiepreise.


Mit einem Schuldenstand von 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist Japan ein Land ohne haushaltspolitische Reserven. Die meisten Länder würden bei einer derart hohen Verschuldung als insolvent gelten. In Japan war sie bisher nur deshalb möglich, weil eine hohe Sparquote die Nachfrage nach japanischen Staatsanleihen stetig steigerte, was wiederum die Zinsen niedrig hielt.

 

Die Krise wird die Solvenz Japans in mehrerlei Hinsicht negativ beeinflussen. Zunächst werden die Steuereinnahmen zurückgehen und die Staatsausgaben steigen - eine direkte Folge der Krisenpolitik. Gleichzeitig hat die Krise einen negativen Effekt auf die Ersparnisse der Bevölkerung und damit sowohl auf den Konsum als auch auf die Nachfrage nach japanischen Staatsanleihen. Es ist noch zu früh für eine gesamtökonomische Kostenanalyse, aber es besteht kein Zweifel, dass diese Katastrophe ein makroökonomisches Ausmaß erreicht hat. Die Welt hat möglicherweise eine weitere neue Schuldenkrise, die sich zu den bestehenden Schuldenkrisen gesellt.


Wir kommen an einen Punkt, wo Staaten extrem geringe Marktzinsen benötigen, um überhaupt noch über die Runden zu kommen, wo aber gleichzeitig die Bereitschaft sinkt, Staaten zu derartigen Konditionen zu finanzieren. Der unausweichliche Anstieg der Zinsen, auch im Zuge steigender Energie-und Rohstoffpreise, wird die globale Schuldenblase verschlimmern. Wir Europäer sind dabei gar nicht einmal am stärksten betroffen. Der Gesamtschuldenstand der Euro-Zone ist - relativ zum BIP - geringer als der der USA, Großbritanniens und erst recht Japans. Wir sehen ja schon an unserer eigenen Krise, wie stark die systemischen Auswirkungen einer Schuldenkrise auf Nachbarländer sind. Wenn Japan befallen wird, dann ist das ist ein Katastrophenfall für die gesamte Weltwirtschaft. Dagegen sind unsere Krisen in Irland und Griechenland - einschließlich unserer deutschen Pfennigfuchserei - nahezu lächerlich.

 

Der zweite Krisenverbreitungsmechanismus sind die Finanzmärkte. Der dramatische Kursverfall japanischer Aktien ist nur eine erste Reaktion. Zunächst floss das Geld in vermeintlich sichere japanische Staatsanleihen ab, deren Renditen daraufhin sanken. Die Preise für japanische CDS, also Kreditausfallversicherungen, sind hingegen gestiegen.

 

Auch die Hausse an den globalen Aktienmärkten ist jetzt erst einmal zu Ende. Der Deutsche Aktienindex (DAX ) war Dienstagmittag bei einem Niveau von 6500 Punkten angelangt - und damit meiner Ansicht nach immer noch zehn bis 20 Prozent überbewertet. Die Krise ist möglicherweise auch der Auslöser für eine überfällige Marktkorrektur, was wiederum indirekte Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung der Industrieländer hat.


Der dritte Krisenmechanismus wirkt über den Energiemarkt. Wir leben in einer Zeit strukturell steigender Ölpreise. Nach dieser Katastrophe wird sich der globale Ausstieg aus der Kernenergie beschleunigen. Selbst im höchst kernenergiefreundlichen Frankreich diskutiert man mittlerweile über alternative Energien. Die Welt wird sich deshalb auf permanent höhere Energiepreise einstellen müssen. Auch die Entscheidung der chinesischen Regierung, jetzt verstärkt neuen Kernkraftwerke zu bauen, wird diesen Trend nicht umkehren.


Nun gibt es in jedem System automatische Stabilisatoren. Sollte es zu einem Rückgang des Weltwirtschaftswachstums kommen, dann werden auch die Energiepreise wieder etwas fallen. Am strukturellen Trend steigender Preise wird das aber nichts ändern. Die Teuerung wird das Wirtschaftswachstum in der westlichen Welt verlangsamen und damit die Möglichkeit einschränken, aus der Finanzkrise herauszuwachsen. Genau diese Strategie verfolgt aber die europäische Krisenpolitik. Man hofft, dass sich die Banken und damit die überschuldeten Staaten durch Wirtschaftswachstum erholen. Ohne exzessiv optimistische Wachstumsannahmen sind Griechenland und Irland auf jeden Fall bankrott. Und für diese optimistischen Annahmen ist es unentbehrlich, dass die Energiekosten nicht explodieren, dass es keine weiteren Schuldenkrisen gibt und dass die Finanzmärkte bei Laune gehalten werden.


Welche dieser Krisenfaktoren überwiegen werden, ist noch nicht abzusehen. Sicher ist aber, dass nicht nachhaltige Systeme irgendwann untergehen. Für die Kernenergie ist dieser Moment spätestens mit Fukushima gekommen. In der Finanzindustrie wir der Prozess länger dauern. Eine Kernschmelze ist immer noch möglich. Und wenn wir das überstanden haben, vielleicht am Ende des Jahrzehnts, wird sich unserer kapitalistisches System von Grund auf geändert haben.


Wolfgang Münchau ist FTD- und FT-Kolumnist. Er leitet den Informationsdienst Eurointelligence.