Amerikas Linke geht zu Tausenden auf die Straße

Erstveröffentlicht: 
19.02.2011

Sie wehren sich gegen Sozialkürzungen und republikanische Politik: 2010 gehörte der rechten Tea Party, nun blasen linke Gewerkschaften zur Gegenrevolution.

 

Wer hätte das gedacht: Während Amerika wie gebannt auf die Revolutionen im Mittleren Osten starrt, findet daheim ebenfalls ein Volksaufstand statt. Seit zwei Tagen belagern Tausende von Demonstranten den Kapitolplatz und das Parlament von Madison, der Hauptstadt des US-Bundesstaats Wisconsin. Sie haben Schlafsäcke mitgebracht und kampieren auf dem Boden der Rotunde. Der Bürgerrechtler Jesse Jackson ist angereist und singt mit ihnen den Protest-Evergreen "We shall overcome!". Die aufgebrachten Menschen recken die Fäuste und brüllen: "Wir sind das Volk!"

Nicht nur in Wisconsin, auch in Ohio und in Indiana gehen die Leute auf die Straße. In den kommenden Tagen rechnet man mit Demonstrationen an vielen Orten Amerikas. Die Menschen wehren sich gegen radikale Kürzungen in den Landeshaushalten. Sie wehren sich dagegen, dass der Rotstift in erster Linie die Armen und Kranken ins Visier nimmt, die staatlichen Sozial- und Krankenprogramme. Und dass man überdies die Staatsdiener zur Kasse bittet, dass man ihre Stellen streicht und ihre Gehälter kürzt. Und Zehntausende von Lehrern, Bibliothekaren, Postlern wehren sich gegen den Plan des neuen republikanischen Gouverneurs von Wisconsin, die Gewerkschaften der Staatsbediensteten zu entmachten. Scott Walker will ihr Tarifrecht weitgehend abschaffen.

Nach seinem Willen sollen die Gewerkschaften künftig nur noch über Mindestlöhne verhandeln dürfen, aber nicht mehr über all die vielen Dinge, die in Amerika ebenfalls zum Gehaltspaket gehören – und oft wichtiger sind als der Grundlohn: Pensionsansprüche zum Beispiel, die Krankenversicherung für die gesamte Familie, Urlaub, Krankentage und so weiter. Experten sagen, dies sei seit Jahrzehnten der größte Angriff gegen Gewerkschaften. Andere republikanische Gouverneure wollen Walker nacheifern. Im Angesicht des gewaltigen Schuldenbergs und der gigantischen Finanzkrise wollen sie gleich mit allem aufräumen, was sie stört.

 

Das vergangene Jahr gehörte dem Aufstand der rechten Tea Party, jetzt könnten linke Gewerkschaften und Verbände zur Gegenrevolution blasen. So viele aufgebrachte Menschen haben Staaten wie Wisconsin und Ohio schon lange nicht mehr gesehen. Der Streit teilt in erster Linie Demokraten und Republikaner, vor allem in der Frage des Tarifrechts. Präsident Obama hat den Gewerkschaften bereits seine Solidarität versichert.

Doch der Riss geht weiter, mitten durch die Parteien, wenn die Frage beantwortet werden muss, wo der Staat denn, bitteschön, einsparen soll. Seit Wochen kann man das bereits auf der Bundesebene beobachten. Um Dreierlei wird in Washington miteinander gerungen: Erstens, um den gegenwärtigen Haushalt, der im vergangenen Jahr nicht beschlossen wurde, und deshalb alle paar Monate mit einem neuen Scheck finanziert werden muss. Anfang März steht der nächste Scheck an und die Republikaner wollen ihn verweigern, wenn die Obama-Regierung nicht gleichzeitig etwa 100 Milliarden Dollar einspart, von der Bildungs- über die Sozialpolitik bis zur Infrastruktur.

 

Zweitens geht es um die Anhebung der allgemeinen Verschuldensgrenze. Das rechtliche Limit wird in wenigen Wochen erreicht und zum Anheben des Schuldendeckels braucht man ebenfalls die Zustimmung der Republikaner.

Der dritte Streit dreht sich um den Haushalt für das kommende Jahr und die Frage, wie man den großen Schuldenmachern in den kommenden Jahrzehnten zu Leibe rückt, der Sozialversicherung, vor allem aber den Krankenversicherungen für Rentner, Behinderte und Arme, Medicare und Medicaid.

 

Die Vereinigten Staaten können kaum noch mehr Schulden aufnehmen. Um ihrer selbst willen. Die Zinszahlung für die gegenwärtigen Schulden werden sich innerhalb der nächsten fünf Jahre verdreifachen, auf jährlich 627 Milliarden Dollar. 2018, sagen Finanzexperten, könnten die Zinsen nach Verteidigung und Sozialversicherung bereits der drittgrößte Haushaltsposten sein.

Das ist das Bundesbudget. Auf Landesebene sieht es nicht besser aus. Amerikas 50 Staaten stehen insgesamt mit 135 Milliarden Dollar in der Kreide. Am Schlimmsten trifft die Last Kalifornien. Gleich dahinter kommt Illinois, Obamas Heimatstaat, dessen Schulden sich auf 15 Milliarden Dollar belaufen. Wisconsins Defizit fällt dagegen mit 137 Millionen Dollar eher bescheiden aus.

 

Und trotzdem, auch Wisconsin steht das Wasser bis zum Hals. Gouverneur Scott Walker setzt den Rotstift überall an, mit Vorliebe bei Sozialprogrammen, bei staatlichen Schulen – und bei der Entlohnung von Staatsbediensteten.  Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes sollen künftig für die Hälfte ihrer Pensionsbeiträge und für etwa zwölf Prozent der Krankenversicherung selber aufkommen. Für viele heißt das: ein Zehntel weniger Gehalt. Das können sich viele nicht leisten. Schon gar nicht im Angesicht der Wirtschaftskrise und ständig steigender Preise für Versicherungen, für Benzin und für die Ausbildungs- und Universitätsgebühren ihrer Kinder.

Und weil der Republikaner schon die Axt anlegt, will er in einem Streich auch die Gewerkschaften fällen. Sie sind ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Doch Scott Walker hatte nicht mit dem erbitterten Widerstand gerechnet. Nicht mit Zehntausenden von Demonstranten und nicht mit dem Widerstand der Demokraten. Sie wittern plötzlich eine eine neue Chance und unterstützen gemeinsam mit den Graswurzelbewegungen aus Obamas Präsidentschaftswahlkampf den Protest. 

Etliche demokratische Abgeordnete aus Wisconsin flüchteten in den vergangenen Tagen in den Nachbarstaat Illinois. Denn dort darf die Parlamentspolizei von Wisconsin sie nicht aufgreifen, in ein Auto verladen und zur Abstimmung ins Kapitol von Madison karren. Denn es gilt: Solange die Demokraten nicht zum Votum erscheinen, kann der Gouverneur und seine republikanische Mehrheit nicht den neuen Haushalt beschließen.

Madison, die Hauptstadt von Wisconsin, wird in diesen Tagen zur Zentrale des Widerstands gegen eine republikanische Partei, die den Staat um jeden Preis entmachten will.