Gefangene – voller Defizite?

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Viele Menschen denken erst einmal an Defizite, die das Gegenüber tatsächlich oder vermutlich aufweist: Zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn, zu affektiert, zu laut, zu leise, zu egozentrisch, zu unaufmerksam, zu unhöflich, und anderes mehr.
Insoweit unterscheidet sich das Miteinander in Freiheit nicht vom Leben hinter Gittern, nur hat es auf Dauer gesehen vielleicht unerfreulichere Wirkungen, wenn gerade Inhaftierte auf Defizite reduziert werden.


Exkurs: Ein Mal pro Woche spaziere ich mit P. im Gefängnishof im Kreis, etwa für eine dreiviertel Stunde und es geht meist recht heiter zu. Er hält sich für einen Realisten, wenn er sein Umfeld an Mitgefangenen überwiegend defizitär wahrnimmt und wirft mir vor, eine rosarote Brille zu tragen, wenn ich die Ressourcen sehe, die in diesen Menschen noch verschüttet liegen.

Ressourcen, das ist das Stichwort. Wenn ein Mensch es einmal geschafft hat, ins Gefängnis zu kommen, liegt eine lange Wegstrecke hinter  ihm. Ausgeschlossen von der freien Welt, finden sich die Gefangenen an einem Ort wieder, der (in aller Regel) das fortsetzt, was sie schon von Kindesbeinen an kennen gelernt haben. Nicht ihre Ressourcen, ihre Talente, Fähigkeiten stehen im Fokus, sondern das, was sie nicht-können, all diese negativen Zuschreibungen, die suggerieren, ein Mensch sei so, sei ein statisches Wesen, unveränderlich.

Schnell entsteht der Eindruck, Verhaltensmerkmale wie „ist kriminell“, „ist aggressiv“, „ist faul“ seien manifest, vielleicht unveränderbar.

So zementieren sie eine Welt und die Gefangenen fühlen sich bestätigt auch in ihrem eigenen, meist wenig wohlwollenden Selbstbild, aber ebenso in ihrem (Vor)Urteil vom Gegenüber, das sie erneut auf die Defizite reduziert.

Exkurs: Manche werden schon vom Mittel des Umdeutens gehört haben. Aus der mentalen Sackgasse, das Gegenüber sei doch „verhaltensauffällig“ wird ein „verhaltensoriginell“, denn neue Worte schaffen neue Gefühle und öffnen so einen Zugang zu den Ressourcen eines Menschen.

Wenn wir negative Bewertungen durch ressourcenbeschreibende Bezeichnungen ersetzen, verändern wir zum einen unser eigenes Bild von unserem Gegenüber, zugleich eröffnen wir diesem die Möglichkeit, sich selbst und seine Umwelt mit anderen Augen wahrzunehmen. Nennen wir ihn Frank: Als Kind haute er oft von zu Hause ab, schwänzte die Schule und prügelte sich herum.

Verhaltensweisen und Zuschreibungen, wie sie sich in vielen Lebensläufen von weiblichen, wie männlichen Inhaftierten finden lassen.

Wie verändert sich unsere Wahrnehmung, unser Gefühl für Frank, wenn wir stattdessen hören: Er zeigte großen Freiheitsdrang, organisierte sich Freiräume und kämpfte um Anerkennung!?

Exkurs: Welche Anstrengungen unternehmen wir, um tief aus der Erde Kohle oder auch Diamanten zu fördern? Hunderte von Millionen werden in die Suche und hernach in das Schürfen gesteckt. Wäre es wohl möglich, mit derselben Energie und Hartnäckigkeit in anderen Menschen nach dem zu suchen, was wertvoll ist?

All das hat nichts mit einer „rosaroten Brille“ zu tun, sondern es geht um eine positive Veränderung der Eigen- wie der Fremdwahrnehmung, um so Kampfgeist und die Kompetenz der Gefangenen zu verdeutlichen.

Wer sie auf ihre Defizite reduziert, der nimmt ihnen auch ein Stück ihrer Würde.

Thomas Meyer-Falk, c/o JVA – Z. 3113, Schönbornstr. 32, D-76646 Bruchsal

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