NSU-Aufklärung: BfV-Präsidenten als Scheinriesen

Erstveröffentlicht: 
18.02.2017

Im Bundestagsuntersuchungsausschuss erlebt man Geheimdienstchefs ohne Wissen und Führungskraft - Soll das vielleicht sogar so sein?

 

Ganz oben und ziemlich unten. Zwei Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) sowie ein V-Mann standen auf der Zeugenliste des NSU-Bundestagsausschusses bei der jüngsten Sitzung. Während Hans-Georg Maaßen und sein Vorgänger Heinz Fromm in öffentlicher Sitzung befragt wurden und sich dabei als Figuren ohne wirkliche Macht präsentierten, konnte man sich von ihrem früheren Zuträger Michael See alias "Tarif" keine eigenes Bild machen. Seine Vernehmung lief hinter verschlossenen Türen ab.

 

Immerhin war es eine Premiere: See ist der erste V-Mann überhaupt, den dieser Ausschuss vorgeladen hat. In den U-Ausschüssen von Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen dagegen sind mehrere V-Leute vernommen worden.

 

Michael See stand von 1994/1995 bis 2001 in Diensten des BfV. Er bewegte sich in der rechtsextremen Szene Thüringens und hatte Kontakt zum Thüringer Heimatschutz (THS). Unter Kontrolle des BfV gab er das Neonazi-Magazin "Sonnenbanner" heraus. Ob er das Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe persönlich kannte, ist unklar.

 

Von Bedeutung, aber umstritten, ist folgender Vorgang: Nach dem Untertauchen des Trios will See von dem Jenaer THS-Aktivisten André Kapke gefragt worden sein, ob er die drei verstecken könne. Das will er seinem V-Mann-Führer mitgeteilt haben, der ihn davon abgehalten haben soll. Das BfV bestreitet das. Kapke selber sagte vor dem Oberlandesgericht in München als Zeuge im Zschäpe-Prozess, er kenne See gar nicht.

 

Nach dem Auffliegen des NSU-Kerntrios im November 2011 war die "Tarif"-Akte eine derjenigen, die im BfV vernichtet wurden. Sie soll später in weiten Teilen rekonstruiert worden sein, aber eben nicht vollständig. Verdächtig ist vor allem, dass sich in den wiederhergestellten Aktenstücken so gut wie kein NSU-Bezug findet. 

 

Auseinandersetzungen um den Auftritt


Jetzt kam See, der seit Jahren in Schweden lebt, nach Berlin. Um seinen Auftritt gab es im Vorfeld, wie am Sitzungstag, Auseinandersetzungen. Der frühere V-Mann hatte erklärt, in öffentlicher Sitzung befragt werden zu wollen. Das wollte der Ausschuss nicht. Dann hat See sein Interesse bekundet, nach seiner Vernehmung die Auftritte der beiden BfV-Präsidenten Fromm und Maaßen auf der Zuschauertribüne verfolgen zu dürfen.

 

Das wurde ihm mit der Begründung untersagt, er sei als Zeuge noch nicht entlassen. Da es sein könne, dass er noch einmal geladen werde, könne er an anderen Zeugenvernehmungen noch nicht teilnehmen. Für See bedeutete das eine Chancenungleichheit, denn das BfV konnte seinerseits anwesend sein, als er befragt wurde. Die Vertreter der Regierung und der Exekutive sitzen auch in den nicht-öffentlichen Sitzungen des Ausschusses.

 

Die Befragung von Michael See dauerte drei Stunden. Gegenüber Presse und Öffentlichkeit fassten die Obleute sie einheitlich so zusammen: Bei der Frage "Unterbringung der drei Untergetauchten" stehe Aussage gegen Aussage, Aussage See gegen Aussage BfV. Was stimme und was nicht, lasse sich nicht überprüfen, weil entscheidende Akten eben fehlten. Ausschussmitglied Irene Mihalic (Bündnisgrüne) sprach von einem "Großteil" der Akten, der nicht rekonstruierbar sei. Petra Pau (Linke) machte darauf aufmerksam, dass die wichtigen Deckblatt-Meldungen in den "Tarif"-Akten für die fraglichen Jahre 1998/99 komplett fehlten.

 

Zur Frage "NSU-Bezug" soll See selber erklärt haben, mit dem Trio nie befasst gewesen zu ein. Das passt jedoch nicht ganz damit zusammen, dass Kapke ihn nach einem Versteck für die drei gefragt haben soll. Möglicherweise sagt See hier nicht die volle Wahrheit, schließlich könnte er sich auch belasten. Und vielleicht muss man den Kreis um den Komplex, der sich hinter der Chiffre "NSU" verbirgt sowieso weiter ziehen, als nur um das Trio Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe.

 

Die Abgeordneten bescheinigten See jedenfalls, "glaubhaft", "authentisch" und "konstruktiv" gewesen zu sein. 

 

Nicht gefunden, weil nicht gesucht


Für die Antworten auf die vielen Fragen zuständig sind Heinz Fromm, BfV-Chef von 2000 bis 2012 sowie sein Nachfolger Hans-Georg Maaßen, der seit August 2012 dem Amt vorsteht. Der erste steht für die erfolglose Suche nach dem Trio - der zweite für die fortgesetzte Vertuschung der Gründe, warum das Trio nicht gefunden wurde. Doch beide wollten oder/und konnten die Antworten in weitem Maße nicht geben.

 

Ob er heute eine Erklärung habe, wollte der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger (CDU) von Fromm wissen, warum es trotz der vielen V-Leute nicht gelungen sei, nicht einmal den Aufenthaltsort von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe herauszufinden. Er habe keine Erklärung, antwortete Fromm. Dem Ausschuss sei unklar, fuhr Binninger fort, wie die V-Leute eingesetzt wurden.

 

In den Akten hätten sie nichts darüber gefunden, dass die Quellen überhaupt nach dem Trio befragt worden seien und auch nichts, dass Meldungen ausgewertet wurden. "Ich habe ja keine V-Leute geführt und auch keine gekannt", versuchte Fromm zunächst auszuweichen.

 

Doch dann gab er eine Auskunft, die man in dieser Deutlichkeit bisher nicht kannte. Da man nicht gewusst habe, dass die Ceska-Morde aus dem Rechtsextremismus heraus geschahen, so der ehemalige Geheimdienstchef, habe man die Quellen im Bereich Rechtsextremismus auch nicht befragt.

 

Im Klartext: Nicht gefunden, weil nicht gesucht. Doch der Widerspruch setzte sich nach 2011 fort: Warum wurden im Bundesamt nun ausgerechnet Akten von Quellen im Bereich Rechtsextremismus gelöscht? Und zwar, wie man inzwischen weiß: vorsätzlich. Dem BfV sollten unangenehme Nachfragen erspart werden, warum der Dienst trotz seiner vielen V-Leute dem Terrortrio nicht auf die Fährte gekommen sein will. Wieder gab sich der damalige Präsident des Amtes ahnungslos: Das habe er auch nur der Presse entnommen, er wisse nicht, ob es so war. Und auf die Frage, ob er ausschließen könne, dass Vorgesetzte in die Aktenvernichtung einbezogen waren, antwortete er: Ausschließen könne er gar nichts.

 

Heinz Fromm hatte 2012 seinen (Schlapp-)Hut genommen, als er von der Aktenvernichtung in seinem Amt erfuhr. Er machte dabei sogar einen glaubwürdigen Eindruck. Hat der Chef wirklich vieles in seinem Hause schlicht nicht gewusst?

  • Der BfV-Mitarbeiter und -Aktenvernichter namens Axel M. alias "Lothar Lingen" war zuvor an der offiziellen Suche nach dem Trio beteiligt gewesen (Operation Drilling). Dazu lieferte die Quelle "Teleskop" Informationen. Fromm: "Sagt mir nichts."
  • Kannte er die Quellen-Lage nach der Anwerbeoperation "Rennsteig", mittels der Ende der 90er, Anfang der 2000er Jahre Neonazis als Spitzel gewonnen wurden? Fromm: "Ist mir erst 2011 bekannt geworden."
  • 2005 übergab der V-Mann "Corelli" seinem Führungsmann beim BfV eine CD mit der Aufschrift "NSU/NSDAP", die das Bundeskriminalamt (BKA) erst 2014 bei dem Nachrichtendienst aufstöberte. Fromm: "Kann sein."
  • Gab es zwischen Bundesanwaltschaft (BAW), BKA und BfV Absprachen, wie man damit umgeht, wenn man bei den NSU-Ermittlungen auf V-Leute stößt? Fromm: "Solche Absprachen sind mir nicht bekannt."
  • Auf Anfrage des BKA übermittelte das BfV im Frühjahr 2012 Informationen zu Ralf Marschner aus Zwickau. Dass der Neonazi auch als V-Mann, Deckname "Primus", für das BfV tätig war, teilte der Dienst nicht mit. Fromm: "Kann sein. Ich war an dem Vorgang nicht beteiligt."

Ein Verfassungsschutz-Präsident, der wenig weiß, wenig wissen will und womöglich wenig wissen soll - dieses Bild setzte sich bei seinem Nachfolger fort.

 

Am 1. August 2012 löste Hans-Georg Maaßen Heinz Fromm als Behördenleiter ab. Er sei vorher nicht VS-Mitarbeiter gewesen, weshalb er zum NSU und dem Untertauchen des Trios nichts beisteuern könne, versuchte Maaßen als Ausschuss-Zeuge abzuwiegeln. Die Abgeordneten erinnerten jedoch an seine vorherige Tätigkeit im Bundesinnenministerium (BMI), wo er unter anderem für Terrorismusbekämpfung mitverantwortlich war. Das BMI will weder vom BfV noch vom BKA Informationen über rechtsterroristische Strukturen erhalten haben, so Maaßen. Von Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe will er am 4./5. November 2011, als das NSU-Trio aufflog, zum ersten Mal gehört haben.

  • Auch bei Maaßen ein ähnliches Antwortverhalten wie bei Fromm. Hat er mit dem Aktenvernichter "Lingen" selber mal gesprochen? Maaßen: "Nein."
  • Was wurde ihm als Motiv für die Aktenvernichtung mitgeteilt? Maaßen: "War uneinheitlich. Ging von blindem Gehorsam bis zu Arbeit ersparen."
  • "Lingen" hat 2014 gegenüber der Bundesanwaltschaft eingeräumt, die Akten vernichtet zu haben, um das BfV zu schützen. Ist das nicht Vorsatz? Maaßen: "Ich kenne Herrn Lingen nicht. Das soll er am besten selber erläutern."
  • Wann hat er von dieser Aussage "Lingens" im Jahr 2014 erfahren? Maaßen: "Erst als es vor ein paar Monaten öffentlich wurde."
  • Gab es hausinterne Untersuchungen, ob "Lingen" unter Umständen im Auftrag gehandelt hat? Maaßen: "Ich habe von Lingen eine Klarstellung erwartet. Habe keine weiteren Maßnahmen initiiert."
  • Hätte man nicht zu erwarten, dass ein BfV-Präsident etwas veranlasst, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Maaßen: "Es hat mich veranlasst darüber nachzudenken. Will aber nichts dazu sagen."
  • Die Versionen von Michael See/"Tarif" und den zuständigen BfV-Mitarbeitern widersprechen sich. Warum meint er, dass seine Mitarbeiter Recht haben? Maaßen: "Ich habe mit den Mitarbeitern gesprochen und mir ein persönliches Bild gemacht. Da ist nichts dran."
  • Der BfV-Präsident hat die Überprüfung der Panzerschränke im Amt angeordnet. Trotzdem wurden zahlreiche Handys des toten V-Mannes "Corelli" zunächst nicht gefunden. Wieso? Maaßen: "Wir haben ein Führungskräfte-Problem. Manche Kräfte sind nicht konfliktbereit."
  • Wurde die Operation Drilling, mittels der das Trio gesucht worden sein soll, im Amt aufgearbeitet? Maaßen: "Mir nicht bekannt."
  • War er in die Schutzmaßnahmen für den V-Mann "Corelli" eingebunden? Maaßen: "In Blick auf die Anordnung, ja. Bin dann bestimmt ein ganzes Jahr nicht mehr informiert worden."

Der Zeuge, aktuell Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, wurde im Laufe seiner Befragung immer kleiner, je näher man ihm kam. Ein Scheinriese, wie man ihn aus einem berühmten Kinderbuch kennt.

 

Braucht der Geheimdienst-Apparat solche Scheinriesen, in Wahrheit Zwerge, weil sie seine Kreise nicht stören? Weil sie der Garant sind, dass er so weiter machen kann, wie bisher, unkontrolliert und unkontrollierbar? Ein Wesen, das ein gefährliches Eigenleben führt. Und mit Präsidenten an der Spitze, ob sie nun Fromm heißen oder Maaßen und vielleicht bald anders, die reine Symbolfiguren sind, ohne wirkliche Kenntnis und ohne Einfluss.

 

Das Führungskräfte-Problem im BfV, von dem Maaßen sprach, ist er selber, wie es scheint. Möglicherweise ist das jedoch gewollt: Denn eigenwillige Berufsagenten brauchen eine schwache Führungsspitze, die sie nicht von ihrem Treiben abhält. Die Panne ist, dass das im Zuge der Turbulenzen um die NSU-Verstrickungen der Sicherheitsbehörden erkennbar geworden ist.

 

War Maaßen auch nur diese Symbolfigur, als er dem Ausschuss folgende Information aus der Höhle des BfV überbrachte, die möglicherweise unter dem Stichwort: "Desinformation" abgelegt werden muss? Die Verfassungsschutzakte zu "Tarif" alias Michael See sei zu "76 Prozent" rekonstruiert worden und die Meldungen, die "Tarif" abgeliefert hat, zu "93 Prozent", behauptete er.

 

Nicht nur die Einschätzungen von Irene Mihalic und Petra Pau (s.o.) lassen das bezweifeln. Im November 2016 hatte der frühere Leiter des BfV-Referates Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus im Ausschuss von lediglich "10 bis 20 Prozent" der Akte gesprochen, die wiederhergestellt seien. Der Vertreter des Innenministeriums bot daraufhin zwar etwas mehr, - "über 20 Prozent" - aber auch das wäre deutlich unter den Maaßenschen "76 Prozent".

 

Die Causa "Tarif"/Michael See jedenfalls ist weder abgeschlossen noch aufgeklärt. Und noch eine V-Mann-Personalie ist offen: Ralf Marschner, der zehn Jahre lang, von 1992 bis 2002, unter dem Decknamen "Primus" für das BfV tätig war, in Zwickau, wo das NSU-Trio untergekommen war. Nach Angaben mehrerer Zeugen hatte Marschner direkten Kontakt zu allen dreien. Er lebt in der Schweiz. Der NSU-Ausschuss hat bei den dortigen Behörden beantragt, ihn vernehmen zu können. Eine Antwort steht bisher aus, wie der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger auf eine Journalistenfrage erklärte.

 

Der NSU-Ausschuss No. 2 tagt im März zum letzten Mal. Dann soll der Vertreter des Generalbundesanwaltes, Bundesanwalt Herbert Diemer, vernommen werden. Diemer vertritt in München auch die Anklage gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und die drei anderen Angeklagten.

 

Für eine Fortsetzung der NSU-Aufklärung mittels eines dritten U-Ausschusses nach den Bundestagswahlen war diese Sitzung ein Argument.