Eine Geste des Grenzdenkens

Erstveröffentlicht: 
14.02.2017

Postfaktisch ist im Grunde ein alter Hut. Wer die Macht hat, kann seine Wahrheiten durchsetzen. Das sieht man auch an der Debatte darüber, ob Rassismuskritik „wissenschaftlich“ ist

 

Neben den mittlerweile salonfähigen Disqualifizierungen der Gender Studies werden immer häufiger rassismuskritische Beiträge und Ansätze Zielscheibe von – zum Teil hasserfüllten – Attacken. Es ist wohl kaum zufällig, dass in einer Zeit, in der rassistische Übergriffe rasant zunehmen, Rassismuskritik mit einer besonderen Vehemenz angegriffen wird. Der Vorwurf lautet dabei immer wieder, Rassismuskritik sei keine Wissenschaft, sondern lediglich Ideologie.

 

 

Einerseits setzten sich in mehr und mehr Ländern rechte Parteien mit migrationsfeindlichen und rassistischen Diskursen durch, gleichzeitig haben wir es mit dem Come-back einer äußerst gefährlichen Praxis zu tun, die immer weniger zurückgewiesen wird: rassistische Übergriffe werden bagatellisiert oder schlicht ignoriert, nicht nur im politischen Diskurs. Diejenigen, die darauf bestehen, dass es möglich ist, eine diskriminierungsfreie Sprache zu sprechen, müssen sich hingegen diffamieren lassen.

 

Wer es wagt, sich gegen die Reproduktion rassistischer Kategorien zu wehren, macht sich angreifbar – auch in großen Teilen der Linken. Es ist schon irrsinnig, dass das Argument, der Verzicht auf eine rassistische Sprache, mache es unmöglich, überhaupt noch zu sprechen, so oft und in so unterschiedlichen Räumen wiederholt werden kann.

 

Abwehrmechanismus


Eigentlich geht es hier doch eher um die Verteidigung des imperialistischen Rechts, die Anderen verachten und beschämen zu dürfen. Ein Verbot einer solchen Praxis wird von vielen als unmögliche Einschränkung erlebt. Der Verzicht auf die Lust an der Verachtung und Diffamierung der als anders bestimmten, die ja immer mit der Erhöhung des eigenen Selbst einhergeht, wird als Zurückweisung erlebt und darauf mit gewalttätigen Praxen reagiert. Ob aus dem Publikum nach Vorträgen, in Auseinandersetzungen in der U-Bahn, auf dem Amt, in der Bäckerei oder auf Blogs nach rassismuskritischen Veröffentlichungen, die Stimmung ist nicht nur aggressiver, die Reaktionen sind auch immer selbstbewusster und gewalttätiger, denn jetzt haben die Unverbesserlichen nicht nur den Präsidenten der Vereinigten Staaten hinter sich, sondern auch eine immer größere Bewegung rechter Populist_innen.

 

Wer heute darlegt, dass – und wie – wissenschaftliche Diskurse Rassismus stabilisieren, kann gar nicht wissenschaftlich arbeiten, so die Kritiker_innen. Rassismus wird damit zum Trugbild erklärt. Die Beschreibung und Auseinandersetzung mit rassistischen Diskursen und Praxen erscheint dann an den Haaren herbeigezogen. Ein klassischer Abwehrmechanismus.

 

Der französische Philosoph Michel Foucault fragte einmal provokant, welches Wissen eigentlich disqualifiziert werden solle, wenn gefragt würde, ob ein Text wissenschaftlich sei. Und wer solle eigentlich gering geschätzt werden, wenn einer von sich sagt, er sei ein Wissenschaftler und berufe sich auf wissenschaftliche Diskurse. Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit ist im akademischen Feld bei Weitem keine harmlose. Im Gegenteil, sie verweist auf den Kampfplatz Zivilgesellschaft, zu dem auch die Hochschulen zählen. Ein Kampfplatz, indem nicht nur um Bedeutungen, aber auch um Reputation, Stellen, Würde und die Hegemonie im politischen Diskurs gerungen wird. Krieg mit anderen Mitteln. Nicht selten wird mit harten Bandagen gekämpft. Abschätzige Bemerkungen, Beschämungen, Lächerlichmachen gehörten immer zum akademischen Geschäft. Es ist allerdings interessant, in welchen Zeiten und Räumen welche Positionen und Herangehensweisen Angriffe erfahren und wie und von wem die Attacken außerhalb des Akademischen sekundiert werden.

 

Gewalt durch Wissen

 

Was heute so gerne als postfaktisch bezeichnet wird, ist im Grunde ein alter Hut. Eine bekannte und beliebte Machtstrategie. Die, die Macht haben, können „Wahrheiten“ und mithin privilegiertes Wissen hervorbringen – während die, die Hegemonie angreifen, mit allen Mitteln disqualifiziert werden: Lügen war dabei immer schon ein beliebtes Mittel der Herrschenden. Trump ist nur ein besonders übles Beispiel für jemanden, der eine altbekannte Strategie zur Anwendung bringt. Konnte nicht schon zu Kolonialzeiten alles nur erdenklich Mögliche über die Kolonisierten behauptet werden, so wie jetzt auch fast alles Üble glaubhaft wirkt, das über muslimische Menschen kolportiert wird?

 

So wie Trump heute alle muslimischen Menschen zur Gefahr erklären kann, so war es während der Kolonialzeit möglich, Genozide zu legitimieren, indem behauptet wurde, die europäische Zivilisation sei in Gefahr. Was heute „die Muslime“ sind, waren wohl während der Kolonialzeit „die Barbaren, die Kannibalen“: Schreckensgestalten, die die westliche Zivilisation angreifen und jedes noch so unglaubliche brutale Vorgehen rechtfertigten.

 

Die postkolonialen Studien analysieren diese epistemische Gewalt, die Gewalt durch Wissen und Wissenschaft. Wie können sich rassistische Praxen halten? Warum ist es so schwer, postkoloniale Studien im deutschsprachigen Raum zu etablieren? Wer profitiert von einer Stabilisierung antimuslimischer Diskurse? Wer hat Angst davor, kritische Fragen in Richtung der Philosophie der Aufklärung zu richten?

 

Diejenigen, die immer wieder den Vorwurf der Ideologie erheben – ganz gleich, ob diese sich selber politisch rechts oder links positionieren –, ignorieren damit die Notwendigkeit von Ideologiekritik. Um das zu verstehen, muss jedoch zwischen Ideologiekritik und Ideologievorwurf differenziert werden, was bedauerlicherweise selten geschieht. Denn jede Theorie ist ideologisch.

 

Die Debatte: Nach der Wahl Donald Trumps heißt es in Medien und sozialen Netzwerken, Linke und Liberale hätten sich zu viel mit dem Kampf für Diversität befasst und die weißen „Abgehängten“ vergessen. Doch schon davor führte die Linke eine Debatte darüber, wie sich eine inklusive und gleichberechtigte Gesellschaft erreichen lässt. Es herrscht dabei große Uneinigkeit über die Strategien antirassistischer Arbeit. Wer hat welche Deutungshoheit, wer hat wie viel Macht? Und wer ist bereit zu teilen?

 

Die Reihe: In einer wöchentlichen Reihe beleuchtet die taz die Aspekte der Debatte. Alle Beiträge unter www.taz.de/ueberrassismusreden

Bereits in ihren Überlegungen zur deutschen Ideologie entwarfen Karl Marx und Friedrich Engels eine Kritikform, die auf die Differenz zwischen Theorie und materiellen Verhältnissen hinweist: Wenn es die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, die ein spezifisches Denken hervorbringen, dann können Theorien niemals unabhängig von diesen verstanden werden.

 

Das heißt, Ideologiekritik entlarvt Diskurse, die dafür sorgen, dass Gewalt und Ungerechtigkeit als normal erscheinen. Rassismus etwa, der auch in Mediendiskursen immer wieder naturalisiert, banalisiert oder rundweg negiert wird. So glauben immer mehr Menschen, terroristisch motivierte Attacken auf die Zivilbevölkerung berechtigten zu rassistischen Übergriffe auf Unbeteiligte. Nur weil diese möglicherweise dieselbe Religion praktizieren. Dieser Logik folgend, müssten wir eine Ausgangssperre für alle Männer fordern, denn es sind immer wieder Männer aller Klassen und Herkünfte, die Frauen vergewaltigen. So etwas würde schnell als Unsinn zurückgewiesen. Ersteres ist jedoch gängige Praxis. Ideologiekritik weist unter anderem auf diese inneren Widersprüche hin.

 

Im Gegensatz zur Ideologiekritik ist der Ideologievorwurf nichts weiter als eine Geste des Grenzdenkens. Ein Denken, das vorgibt, bestimmen zu können, welche Theorie wertvoll, welche Argumente sinnvoll und welche Methoden korrekt sind. Auf der einen Seite der Grenze findet sich die „reine Wissenschaft“, auf der anderen Seite allenfalls ein liederliches Vorgehen: unsauber, unkorrekt, bedenklich, naiv.

 

Einem solchen Vorwurf kann und muss mit Ideologiekritik begegnet werden: Wer profitiert, so müssen wir uns fragen, von der Marginalisierung einer rassismuskritischen Perspektive? Sicher nicht die, die von Rassismus betroffen sind. Gerade wer von Rassismus betroffen ist, wird immer wieder zur Zielscheibe des Ideologievorwurfs. Zufall? Wohl kaum.

 

Die Ideologiekritik erinnert uns daran, dass Wissensproduktion von Macht durchdrungen ist. Wissen ist nicht etwa harmlos oder gar objektiv und neutral.

 

Rassismuskritik indes ist gerade deshalb parteiisch, weil sie nicht an die Neutralität und Objektivität von Wissenschaft glaubt. Und selbstverständlich sind auch die parteiisch, die Rassismuskritik lächerlich machen. Denn sie paktieren mit den Mächtigen, sie bilden Allianzen mit denen, die hoffen, ihre eigene Marginalisierung würde durch eine Zustimmung mit den Mächtigen rückgängig gemacht. Nie war Rassismus- und Ideologiekritik wichtiger.

 

María do Mar Castro Varela ist Politikwissenschaftlerin und Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf. Im November 2016 erschien „Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart“ im Transcript Verlag.