Die Hoffnungslosen von Klein-Marokko

Erstveröffentlicht: 
20.01.2016
Düsseldorf-Oberbilk gilt als neues Symbol für den deutschen Kontrollverlust gegenüber Kriminalität von Migranten – Szenen aus einem erschütterten Quartier

Von Thorsten Fuchs

 

Düsseldorf. Als die Staatsmacht nach Oberbilk kommt, hat Mohammed kein Problem damit, auch wenn er selbst zu den Verdächtigen zählt. Er zeigt seine – deutschen – Papiere, lässt sich die Fingerabdrücke nehmen und führt sein Smartphone vor, das nicht gestohlen ist und auf dem sich auch keine Aufnahmen aus der Kölner Silvesternacht befinden. Nichts also, wonach die Beamten suchen. Mohammed befolgt alle Befehle mit einer gewissen Genugtuung.

 

„Ich bin ja froh, wenn ich die Polizei hier sehe“, sagt der 35-Jährige zwei Tage nach der Razzia bei einem Minztee im Café „Mamounia“. Aus seiner Sicht hat die Sache nur einen grundsätzlichen Fehler. Flutlicht vor dem Gemüseladen aufbauen, Zelt mit Erkennungsdienst, 300 Polizisten, alles in Ordnung, sagt er. „Aber wenn die Polizei hier wirklich Ruhe will, dann müsste sie öfter kommen.“

 

Die letzte Razzia im Maghreb-Viertel gab es ein Jahr zuvor. Mohammed findet, das reicht nicht. Jedenfalls nicht für diejenigen seiner früheren Landsleute, die hier wirklich ein Problem seien.

 

Düsseldorf-Oberbilk, das marokkanisch geprägte Viertel gleich hinter dem Hauptbahnhof, das ist das neueste Synonym für die Hilflosigkeit gegenüber bestimmten Formen der Kriminalität von Flüchtlingen und Einwanderern. Ein Jahr lang hat die Düsseldorfer Polizei die Szene der Trick- und Taschendiebe in den Kneipenvierteln der Altstadt beobachtet. Das Ergebnis: die gewaltige Zahl von 2244 Verdächtigen aus Nordafrika, mehr als die Hälfte aus Marokko. Auch die Verdächtigen der Kölner Silvesternacht stammen aus Nordafrika.

 

Köln und Düsseldorf-Oberbilk stehen zusammen für die Ohnmacht des Staates – und für das Unbehagen gegenüber einer ganzen Gruppe von Einwanderern. SPD-Chef Sigmar Gabriel fordert nun eine rasche Abschiebung nach Nordafrika – und droht mit Kürzung der Entwicklungshilfe, wenn Länder wie Algerien, Tunesien oder Marokko abgelehnte Flüchtlinge nicht zurücknehmen. Kraftvolle Worte. Aber sind sie auch ein Teil der Lösung? Oder sind sie nur ein weiteres Zeichen der Hilflosigkeit?

 

Mohammed kennt das Problem, er erlebt es jeden Tag. Tagsüber sieht er, wie junge Männer, offenkundig aus Nordafrika, ältere Frauen vom Bürgersteig drängen, sie bespucken, manchmal beschimpfen. Abends, als Security-Mann eines Gasthauses an der Rheinpromenade, sieht er, wie dieselben jungen Männer Kneipengänger beklauen. „Die sind aggressiv, respektlos, durch nichts zu beeindrucken“, sagt er.

 

Mohammed hat mit ihnen manches gemeinsam. Er stammt aus Marokko, zählt mit seinen 35 Jahren gerade noch zur Gruppe der jungen Männer, er geht gern in jene Cafés in Oberbilk, wo sich auch die „Klaubanden“, wie die Polizei sie nennt, vor ihren Diebestouren treffen. Das reicht offenbar, um Mohammed in den Augen der Polizei zu den Verdächtigen zu zählen.

 

Es gibt nur auch viel, was ihn von den jungen Banden unterscheidet. Als Mohammed vor elf Jahren nach Deutschland kam, hatte er eine Perspektive. Er arbeitete als Artist beim Zirkus, zuletzt stand er bei „Afrika, Afrika“ von André Heller in der Menschenpyramide. Damals musste er schwarz geschminkt werden, um bei den Deutschen als Afrikaner durchzugehen. Heute, ungeschminkt, sieht er den Deutschen immer noch zu afrikanisch aus, um bei der Razzia als unverdächtig durchzugehen. Auch mit deutschem Pass steht er zwischen den Welten, vielleicht mehr denn je. „Die Deutschen können nicht gut unterscheiden“, sagt er. „Zwischen denen, die sie ausnutzen wollen – und denen, die sich hier Mühe geben.“

 

Gefährden die Verbrechen von einigen Kriminellen das geglückte Miteinander, die mühsame jahrzehntelange Annäherung? In Düsseldorf-Oberbilk, in der Stadt auch Klein-Marokko genannt, sieht es in manchen Momenten ganz so aus. Wie angespannt die Atmosphäre zwischen traditionell Deutschen und den Kindern der Einwanderer inzwischen ist, zeigt ein Dialog im marokkanischen ­Alhociema-Supermarkt, zwischen der Fleischtheke mit Lamm und Hühnerinnereien und den gewaltigen Schalen voller Oliven.

 

„Sie müssen Ihre Landsleute mal zur Vernunft bringen, Sie kennen die doch alle“, sagt eine Kundin, eine ältere Frau, zum Besitzer.

 

„Wir haben doch mit denen überhaupt nichts zu tun, wir leiden doch unter denen wie Sie“, antwortet der Besitzer.

 

„Als die Oberbilker Schützen hier durchmarschierten und beschimpft und beworfen wurden, haben Sie doch Beifall geklatscht“, schimpft die Frau.

„Oh nein, wir haben x-mal an die Stadt geschrieben und mehr Polizei gefordert“, sagt der Besitzer, lauter als zuvor. „Sie vermischen da etwas.“

„Und Sie mischen sich nicht ein“, sagt die Frau, greift ihre Tüte und eilt hinaus.

 

Als sie fort ist, erzählt der Besitzer, wie sie hier selbst von jungen Männern mit Messern bedroht und bestohlen wurden. Selbst wenn die Polizei die Täter festnahm, waren sie nach einem Tag zurück. „Das verstehen die doch nur als Ermutigung“, sagt er. „Was sollen wir denn da machen?“ Seine Stimme klingt halb empört, halb ermattet von vielen Diskussionen.

 

Und die, um die es geht, was sagen sie? Die jungen nordafrikanischen Männer? An einem ihrer Treffpunkte vor einem Telefonladen steht ein junger Mann mit Weste über dem Kapuzenpulli, Said nennt er sich, 18 soll er sein. Er spricht Spanisch, Schwedisch, ein wenig Englisch, Folge jahrelangen Driftens durch Europa. Seit einem Jahr sei er in Deutschland. Wovon er lebt? „Von nichts“, entgegnet er. „Ich will arbeiten“, sagt er immer wieder, „will eine Ausbildung machen.“ Mit seiner Duldung darf er jedoch nicht arbeiten. Ob er stiehlt? Said, wenn er so heißt, zieht die Schultern hoch. Weiß nicht, soll das wohl heißen.

 

Einer, der mit vielen dieser Jugendlichen gesprochen hat, ist der Pädagoge Samy Charchira. Der 43-Jährige stammt selbst aus Marokko, heute betreibt er die einzige arabischsprachige Sozialberatung der Stadt. In seinem Büro in einer früheren Fabrik im Stadtteil Bilk klingelt fast pausenlos das Telefon. Französische, niederländische, marokkanische Medien, sie alle wollen wissen, was in Düsseldorf zurzeit geschieht.

 

Charchiras Erklärungen handeln davon, dass Härte und Polizei allein möglicherweise nicht reichen werden. Seit gut drei Jahren gebe es die Probleme mit aggressiven jungen Männern aus Nordafrika. Die meisten seien schon seit Jahren in Europa unterwegs, oft in Italien und Spanien, verroht vom Leben auf der Straße. „Die meisten sind illegal hier“, sagt Charchira. Einen Asylantrag? Stellen sie nicht, mangels Aussicht auf Erfolg. Abschieben kann man sie nicht, da sie ihre Papiere vernichtet oder verloren haben. In Deutschland sind sie meist geduldet, ohne Aussicht auf Arbeit, Wohnung und Unterstützung. „Im Prinzip sind das Phantome“, sagt Charchira. Menschen, für die Diebstahl eine vergleichsweise naheliegende Option ist.

 

50 bis 60 gebe es in Düsseldorf. Das Viertel in Oberbilk sei jedoch ein ­Treffpunkt für junge Nordafrikaner aus ganz Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und sogar Sachsen, sagt Charchira – was die Polizei bestätigt.

 

Für die durchaus stattliche Zahl an Unbelehrbaren unter ihnen hält Charchira Polizei und Justiz für die einzige Lösung. „Die, die sich helfen lassen wollen, sollten jedoch eine Grundversorgung bekommen, sodass jedenfalls niemand mehr für Essen und Kleidung stehlen muss.“ Charchiras Sorge ist, dass man darüber kaum mehr diskutieren kann in Zeiten, in denen sich Politiker in Forderungen nach mehr Härte überbieten.

 

Die Razzia in Oberbilk allerdings war kein großer Erfolg. 294 Menschen hat die Polizei kontrolliert. 40 wurden festgenommen. Bis auf zwei sind alle wieder auf freiem Fuß.

 

Im Supermarkt an der Ellerstraße steht der Besitzer und sorgt sich um die Zukunft. 400 000 Marokkaner leben in Deutschland. „Wir sind die dritte Generation“, sagt er. Ihre Kinder sprächen fast nur noch Deutsch. „Aber für die vierte Generation“, fügt er hinzu, „könnte es jetzt ziemlich schwierig werden.“

 


 

Abschiebungen gelingen selten

Die SPD will Abschiebungen nach Nordafrika mithilfe von Rückübernahme-Abkommen erleichtern. Konkret geht es um Asylbewerber, deren Antrag abgelehnt wurde, und Straftäter, die aus Deutschland ausgewiesen wurden. Da es bei Algeriern und Marokkanern in der Regel keine humanitären Abschiebehindernisse gibt, könnten diese nun in ihr Heimatland zurückgebracht werden. Allerdings müsste das Heimatland sie auch wieder aufnehmen, was bei diesen Ländern eher die Ausnahme ist.

 

Tatsächlich sind zwar alle Staaten völkerrechtlich zur Aufnahme ihrer eigenen Staatsbürger verpflichtet. Doch wer ist Algerier, wer ist Marokkaner? Rückübernahme-Abkommen regeln, welche Beweise Deutschland anbringen kann, wenn der Ausländer keinen Pass und keinen Ausweis bei sich hat. Deutschland hat mit dreißig Staaten solche Abkommen abgeschlossen, unter anderem mit Algerien (1997) und auch mit Marokko (1998). Die EU hat weitere 17 Rückübernahme-Abkommen ausgehandelt, teilweise mit den gleichen Staaten. Ziel ist, dass das Land ein Heimreisedokument als Passersatz ausstellt, ein „laissez-passer“-Papier.

 

Im deutschen Abkommen mit Algerien ist zum Beispiel geregelt, dass als Beweis der algerischen Staatsangehörigkeit auch ein algerischer Führerschein akzeptiert wird oder auch Aussagen des Ausländers vor einer deutschen Behörde oder einem Gericht. Wenn es keine Beweise gibt, führen algerische Diplomaten mit der Person eine „Anhörung“ durch. Für die Ausstellung des Passersatzes genügt, dass die Diplomaten die „nachhaltige Vermutung“ haben, die Person sei algerischer Staatsbürger. Falls es keine stichhaltigen Beweise gibt und der mutmaßliche Algerier nicht mit den Diplomaten redet, hat es die algerische Botschaft leicht, die Rücknahme abzulehnen. Christian Rath