„Will die Union eine Gesinnungspolizei?“

Erstveröffentlicht: 
29.12.2015
Staatsministerin Özoguz über Flüchtlinge, deutsche Werte und die Hilfe von Migranten
Interview: Marina Kormbaki

 

Frau Staatsministerin Özoguz, laut Union sollen sich Flüchtlinge zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, zum Existenzrecht Israels, zu den Rechten von Homosexuellen bekennen. Wird von ihnen mehr erwartet als von Deutschen?


Natürlich muss sich jeder bei uns an Regeln und Gesetze halten. Das ist so selbstverständlich, dass man es eigentlich nicht ständig wiederholen müsste. Wer aber solche Bekenntnisforderungen aufstellt, der muss auch sagen, wie er sie umzusetzen gedenkt. Wollen die Unionsparteien zur Überprüfung von Einstellungen eine Gesinnungspolizei einsetzen? Ich bin sicher, dass wir auch in der deutschen Bevölkerung Menschen finden, die Grundwerte ignorieren. Die zum Beispiel etwas gegen Homosexuelle haben. Wollen wir wirklich bei allen die Gesinnung abfragen und dabei mit Leistungskürzungen drohen? Mir scheint, die Unionsparteien beschränken sich weiterhin darauf, Nebelkerzen zu werfen, um Ressentiments zu bedienen.


Kann es ein Miteinander ohne geteilte Werte geben?


Das Miteinander kann dann nicht funktionieren, daher ist es sehr wichtig, dass wir den Flüchtlingen Deutschland und seine Regeln näherbringen. Aber das passiert ja bereits in den Sprach- und Orientierungskursen und dann natürlich hauptsächlich über Begegnungen. Wer die Forderung nach einem Bekenntnis zu Deutschland und seinen Werten ernst meint, der muss sich dafür einsetzen, dass die Flüchtlinge schnell in Integrationskurse, Kinder schnell in Kitas und Regelklassen kommen.


Die Integration Hunderttausender Flüchtlinge soll über den Arbeitsmarkt gelingen. Ist das realistisch?


Für viele gibt es jetzt eine reelle Chance, denn Millionen Arbeitskräfte werden in den nächsten Jahren aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und in ihre verdiente Rente gehen. Wir haben gar nicht ausreichend Nachwuchs, um diese Lücke zu schließen. Das heißt: Wer jetzt nach Deutschland kommt und sich anstrengt, hat eine wirkliche Chance. Aber wir brauchen auch ein wenig Zeit, um Qualifikationen zu erkennen, Nachschulungen anzubieten oder in Ausbildung zu bringen. Trotzdem werden es nicht alle schaffen.


Wirtschaftspolitiker und Unternehmer fordern ein Aussetzen der Vorrangprüfung, die Deutsche und EU-Ausländer bei der Jobvergabe bevorteilt. Sind Sie auch dafür?


Wir haben im vergangenen Jahr die Frist der Vorrangprüfung von vier Jahren auf 15 Monate gesenkt. Es geht weniger um Bevorzugung als um einen riesigen bürokratischen Aufwand für die Unternehmen. Eine Wartezeit von 15 Monaten halte ich derzeit für vertretbar, damit Flüchtlinge in dieser Zeit Spracherwerb und Berufsvorbereitung machen können. Wichtig ist, dass die Menschen nicht herumsitzen müssen, sondern Mitmachmöglichkeiten haben.


Aus Flüchtlingsunterkünften ist jedoch zu hören, dass Asylbewerber selbst beim Sortieren der Kleiderspenden nicht mithelfen dürfen – aus Versicherungsgründen. Übertreiben wir es mit der Bürokratie?


An manchen Stellen müssen wir ohne Frage flexibilisieren, denn manche Regelungen stehen den Menschen unnötig im Wege. Klar ist aber auch, es darf kein neuer Niedriglohnsektor entstehen, deshalb darf der Mindestlohn nicht aufgeweicht werden. Es besteht schon jetzt die Möglichkeit, dass Flüchtlinge Praktika machen, in Unterkünften mithelfen oder in Ein-Euro-Jobs arbeiten und so mit anpacken können.


Bringen sich alteingesessene Migranten in der Flüchtlingshilfe ausreichend ein?


Die Reaktion der Migranten ist so vielschichtig wie die der Gesamtbevölkerung. Es gibt sehr viele Migrantenorganisationen oder Einzelpersonen, die an Bahnhöfen, in Unterkünften, bei Deutschkursen und vielen anderen Dingen mithelfen. Moscheen beherbergen viele Flüchtlinge. Doch sie sind noch nicht so richtig Teil des Systems. Sie sollten stärker in den Fokus der ehrenamtlichen Arbeit rutschen. Dafür müssen etablierte Verbände sie miteinbeziehen. Das möchte ich in den nächsten Wochen gern unterstützen.


 

 

Zur Person


Aydan Özoguz ist Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und als solche Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Die SPD-Politikerin aus Hamburg ist stellvertretende Bundesvorsitzende ihrer Partei und zog 2009 als Abgeordnete in den Bundestag ein. Sie hat türkische Eltern und erhielt 1989 die deutsche Staatsbürgerschaft. Die 48-Jährige ist mit dem Hamburger Innensenator Michael Neumann (ebenfalls SPD) verheiratet. Gemeinsam haben sie ein Kind.


 

 

Auch die CSU fordert Integrationspflicht

Nach der CDU fordert nun auch die CSU eine Art Integrationspflicht für Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen. „Wir müssen Integrationsbereitschaft einfordern“, heißt es in einer am Montag bekannt gewordenen Beschlussvorlage für die bevorstehende Klausurtagung der CSU-Landesgruppe in Wildbad Kreuth Anfang Januar. Jeder müsse sich „individuell im Rahmen einer Integrationsvereinbarung zu unseren Werten, unserer Rechtsordnung und den Regeln eines friedlichen Zusammenlebens bekennen“, heißt es darin weiter. Bei Nichtbefolgen könnten zur Strafe Leistungen gekürzt werden.

 

Einen ähnlichen Beschluss hatte vor zwei Wochen bereits die CDU auf ihrem Parteitag gefasst. Sie sprach sich für verbindliche Integrationsvereinbarungen aus, welche die gegenseitigen Rechte und Pflichten von Staat und Migranten festlegen und vermitteln. Auch die CDU drohte bei Verweigerung mit Kürzungen.