»which side are you on?«

1. Mai 2015, Oldenburg

20 Jahre für Freiheit und Solidarität | Autonome 1. Mai-Demo # 13 Uhr # Kaiserstr./Hbf # Oldenburg | anschließend Straßenfest beim Alhambra

Es ist ein lauer Sommerabend, dieser 15. Juli 1931. Ein Mittwoch. Hier im Südosten des Bluegrass State Kentucky, genauer gesagt im Harlan Country, dem viertgrößten Kohlerevier in den USA, steht Florence eigentlich wie jeden Abend in der Küche und macht den Abwasch. Morgen ist wieder Schule und es war ihr diesmal zu ihrer großen Überraschung geglückt, ihre sieben Kinder ohne viel Stress und sogar einigermaßen satt ins Bett zu bugsieren. Doch zur scheinbaren Normalität dieses Abends gesellt sich Angst. Aber vor allem Wut und Entschlossenheit. Ihr Mann, Sam, steht auf der schwarzen Liste. Sie weiß was das heißt. Er weiß was das heißt. Alle in ihrer kleinen Bergarbeitersiedlung wissen es.

 

Als im Frühjahr die Zechenbetreiber eine zehnprozentige Lohnkürzung durchsetzten wollen, gingen die Bergarbeiter auf die Barrikaden. Bei weniger als knapp zwei Dollar am Tag für eine Zehnstundenschichten stellte sich nur noch die Frage, ob sie lieber kämpfend als arbeitend hungern wollten. Hilflos, spontan und unorganisiert begannen sie sich zu wehren. 3000 Kohlekumpel, unter ihnen auch Sam, gründen die Gewerkschaft United Mine Workers (UMW) und treffen auf die Macht der Kohlebosse: Einschüchterung, Zwang, Unterdrückung, Übergriffe, Mord, und eben diese schwarzen Listen. Sam ist deshalb untergetaucht. Florence nicht.


Jetzt nur noch eben die Gabeln und dann hat sie es endlich. Endlich ins Bett, endlich abschalten, endlich die Sorgen hinter sich lassen. Wooom, Wooom, Wooom. Es hämmert an die Tür. Sie zuckt zusammen. Da sind sie also wirklich, die Schergen von John Henry Blair, dem von den Kohlebaronen umschmeichelten Countrysheriff. Florence hatte sie erwartet, doch jetzt schießt ihr die Panik in den Kopf. Ihr wird schlecht. Sie will sich übergeben, am liebsten aber abhauen. Einfach wegrennen. So wie Sam.


Doch jetzt ist eh alles zu spät. Noch immer mit den Händen im nunmehr fettigen Abwaschwasser ballt sie ihre Fäuste, die Haut schon ganz aufgequollen. Sie schluckt die Panik runter – in ihrer Theorie war das allerdings um einiges einfacher. Doch es geht. Es muss gehen.


Wooom, Wooom, Wooom. Hämmert es erneut. Jetzt wird es also ernst. Sie geht zur Wohnungstür und öffnet. Ein Dutzend Hilfssheriffs stürmt herein. Sie schubsen Florence durch die Wohnung, reißen die Kinder aus Betten, drohen, schreien „Wo ist Sam?“ „Wo ist Sam?“, schlagen auf die Acht ein, verwüsten die Zimmer.


Vorbei. Sie sind endlich weg. Es dauert noch einige Zeit, bis Florence die Kleinen einigermaßen beruhigt bekommt. Doch jetzt herrscht Stille. Sie hat es überstanden. Aus ihren Augen funkelt Hass. Ihre Panik ist wie weggeblasen. Sie geht wieder in die Küche. Der alte Baptist*innensong „Lay the Lily Low“ bahnt sich aus den Tiefen ihres Gehirn den Weg über ihre Lippen, tausendmal gesungen im Gottesdienst der kleinen Siedlungskapelle. Doch diesmal ist es anders, diesmal ist es ihr Text. Sie reißt den Küchenkalender von der Wand und kritzelt ihre Gedanken zu Papier. Heraus kam wohl DIE Hymne der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung. Sie stellt nur eine einfache Frage, deren Antwort über so viel entscheidet: „Which Side Are You On?“

 

Und diese schlichte Frage haben wir dieses Jahr auch zum Motto unserer 1. Mai-Demonstration auserkoren. Denn zum nunmehr zwanzigsten Mal wollen wir in der Tradition des Haymarket Riot`s von 1890 auf unsere Weise ein gutes Leben für alle einfordern. Aber um ehrlich zu sein, haben wir keinen Plan, wie dass zu bewerkstelligen wäre. Dass es so wie es ist, nicht bleiben darf, ist eine Binsenweisheit. Also heißt es für uns – ganz im zapatistischen Sinne – fragend voranzuschreiten. Klingt pathetisch, nichtssagend und abgehoben – und das ist es auch. Die Frage die Florence, also Florence Reece, bis zu ihrem Tod im Jahr 1986 umhertrieb, die ihr Mut gab und die Kraft zum Durchhalten ist da schon um einiges konkreter:

 

Auf welcher Seite stehen wir, wenn islamistische Milizen oder die Türkei versuchen, die Ansätze von Selbstorganisierung und Daseinssicherung im kurdischen Rojava und die dort lebenden Menschen auszulöschen? Und auf welcher Seite stehen wir, wenn die Menschen dort die Waffe in die Hand nehmen, um sich, ihre Familien und ihre Nachbar*innen und ihren Versuch eines besseren Lebens zu verteidigen?

 

Wo stehen wir, wenn die Menschen in Griechenland unter der Last der Sparauflagen der Troika das Auskommen, die Unterkunft und die Gesundheitsvorsorge verlieren? Und wo, wenn diese Menschen versuchen, auch durch die Partei Syriza diese humanitäre Katastrophe abzuwenden.

 

Auf welcher Seite stehen wir, wenn Leute in Guinea, dem Jemen oder im Kosovo aufgrund der globalen Wirtschaftsordnung finanziell ganz tief in der Scheiße sitzen und nicht wissen, wie sie am nächsten Tag ihre Nahrung bezahlen sollen? Und wo stehen wir, wenn sich diese Menschen auf der Suche nach einer besseren Zukunft nach Deutschland kommen?

 

Einfache Fragen, einfache Antworten. Eigentlich. Denn ganz so einfach ist das alles dann doch nicht. Die Welt ist viel zu widersprüchlich, als dass sie mit starrem schwarz-weiß Denken aus den Angeln gehoben werden könnte. Aber sie ist auch nicht so verworren, dass man nicht Partei ergreifen könnte. „Als Linker steht man auf der Seite der Unterdrückten – bedingungslos“ sagte mal ein guter, leider inzwischen verstorbener Oldenburger Genosse. Wenn einem Menschen Rechte vorenthalten werden, weil er woanders geboren wurde, sollten wir wissen wo wir stehen. Wenn einem Menschen der Lohn gekürzt wird, weil ein anderer sich seine Yacht finanzieren will, sollten wir wissen wo wir stehen. Wenn ein Mensch nicht respektiert wird, weil sein Geschlecht als schwach oder unnormal gilt, sollten wir wissen wo wir stehen. Wenn ein Mensch wenig verdienen soll, weil er die „falsche“ Ausbildung hat, sollten wir wissen wo wir stehen. Bedingungslos! So einfach ist das. Und so kompliziert. Denn Unterdrückte können auch unterdrücken – und tun es leider auch. Die Betroffenen von Rassismus oder Sexismus oder Klassenherrschaft sind oft mit dabei, wenn es darum geht nach unten zu treten oder mit völkischem, religiösem oder antisemitischen Wahn ihre eigene Unterdrückung zu stützen. Doch das gute an Barrikaden ist, dass sie mobil sind. Man kann sie errichten, abbauen, umsetzen. Man kann mit Menschen auf der gemeinsamen Seite der Barrikade stehen und darauf hoffen, dass es zusammen nach vorne geht. Und man kann erkennen, dass mit einigen von diesen dann vielleicht doch kein Fortschritt zu machen ist und die Barrikade auch noch woanders hingehört.


Aber gerade wir in der autonomen Linken mit unseren schablonenhaften, dafür aber umso markigeren Parolen sowie unseren akademisch verstiegenen und unzugänglichen Theoriegebilden pochen nur allzu gern darauf, quasi als letzte moralische Instanz vor Gott, Adorno oder Marx als das Maß aller Dinge zu gelten. Vielleicht sollten wir mal anfangen, die Anderen nicht zuallererst als potentiell feindliche Kräfte zu begreifen oder deren angebliche Inkonsequenz zu belächeln, sondern sie als ZeitGENOSS*INNEN zu betrachten, die zu radikalisieren unser Anliegen sein sollte. Und ehrlich gesagt, die Chance, dass wir von Ihnen auch eine Menge lernen können, ist alles andere als gering.


David Graeber äußerte im Dezember 2014 den Verdacht, dass viele in der internationalen, radikalen Linken eigentlich nicht gewinnen wollen. „Die können sich nicht vorstellen, dass eine Revolution wirklich stattfinden kann, und insgeheim wollen sie die auch nicht, denn das würde bedeuten, dass sie ihren coolen Verein mit normalen Leuten teilen müssten – sie wären nichts Besonderes mehr“. Sich als „revolutionäre Avantgarde“ zu begreifen, fällt natürlich ungleich schwerer, wenn jederzeit die Gefahr besteht, während eines Vorbereitungstreffens oder einer Demonstration den eigenen Eltern über den Weg zu laufen.


Aber natürlich gibt es auch gute Gründe für einen kritischen Blick der autonome Linken. Wir wollen schließlich mehr als nur ein paar Krümel. Wenn im Gesellschaftsvertrag von Rojava das Recht auf Eigentum und Privateigentum festgeschrieben wird, sollte eine radikale Linke das kritisch sehen. Wenn Syriza sich den Spielregeln des Parlamentarismus, des Kapitals und der EU unterwirft, sollte eine radikale Linke das kritisch sehen. Wenn Flüchtlingsinitiativen damit argumentieren, dass gut ausgebildete Migrant*innen dem Wirtschaftsstandort Deutschland nützlich seien, sollte eine radikale Linke das kritisch sehen. Natürlich. Aber was folgt daraus? „Grundsatzdebatten über den Weg zum Sozialismus sind wunderbar“, sagte Giorgos Chondros vom Zentralkomitee von Syriza bei den Blockupy-Protesten in Frankfurt. „Aber meiner Mutter wurde die Pension auf 400 Euro halbiert“. Lohnt es sich nicht, für diesen Krümel zu kämpfen? Woraus soll denn der Kuchen sonst gemacht werden? Und auf welcher Seite stehst du?

 

Also noch mal 20, 40, 60, … Jahre für Freiheit und Solidarität auf die Straße!

Zeige Kommentare: ausgeklappt | moderiert

...

(solidarische grüsse aus berlin)