Gordischer Knoten Syrien

Erstveröffentlicht: 
11.01.2015

Momente eines Bürgerkrieges, bei dem kein Ende in Sicht ist von Wilhelm Langthaler Bereits vier Jahre dauert der bewaffnete Konflikt in Syrien, im Irak schon viel länger. Dabei macht er ununterbrochen Metamorphosen durch: Von einer demokratisch-sozialen Revolte zum konfessionellen Bürgerkrieg mit regionaler und internationaler Beteiligung. Im vergangenen Jahr kam eine islamistische Revolution und die Bildung eines Jihadi-Protostaats hinzu – den die USA zu ihrem Hauptfeind erklärten und damit die internationale Bündniskonstellation zugunsten des Assad-Regimes verschoben. Keine der Seiten scheint fähig zum Sieg, zu einem Kompromiss auf absehbare Zeit ebenso wenig.

 

Interaktive Karte, die eine gute Übersicht über territoriale Kontrolle der verschiedenen Kriegsparteien bietet.

 

Inhaltsverzeichnis


Kalifat
Beispiel Irak
Jihad-Staat: Stärke, die in Schwäche umschlagen kann
Substanzverlust des Regimes trotz militärischer Konsolidierung
„Conflict freeze“ in Aleppo?
Neue Eskalation?
Schlüssel Türkei
Kalifat light?
Konturen eines Kompromisses
Überkonfessionelle soziale Demokratie?

 

Schematisch betrachtet gibt es grob folgende mögliche Ausgänge: Entweder einer der beiden Seiten gelingt es doch noch die Überhand zu gewinnen, eventuell auch mit Hilfe substanzieller internationaler Intervention. Oder aber es kommt schließlich zu einem Kompromiss auf der Basis der Teilung der Macht. Diese wiederum kann sehr unterschiedliche Formen annehmen: Von der Teilung des Landes, über die verschiedenen Formen des Föderalismus bis hin zu einem multikonfessionellen System.

In der konkreten Realität von heute zeichnet sich keiner der genannten Tendenzen klar ab. Vielmehr wirken die verschiedenen Momente gleichzeitig, ziehen in die verschiedenen Richtungen, ein Ergebnis, eine Resultante noch nicht erkennbar. Zudem sind die Seiten keinesfalls homogen, der Bürgerkrieg ist ein vielgestaltiger auch innerhalb der Blöcke. Das konfessionelle Moment wurde zwar mittlerweile dominant, aber nicht absolut. Der soziopolitische Unterbau des Konflikts ist in den Hintergrund gerückt, aber deswegen nicht verschwunden oder wirkungslos. Versuchen wir dieses Geflecht zu entwirren und das Gewicht der verschiedenen Kräfte zu bestemmen, dabei beachtend, dass sie sich immer neu, Metamorphosen durchmachen und dabei natürlich auch das Gesamtsystem verändern.

 

Kalifat

 

Die wichtigste Neuerung ist die Gründung des „Islamischen Staates“ (IS). Für den Politischen Islam in der gesamten Region, in all seiner Vielfalt, handelt es sich um ein Ereignis größter Bedeutung. Denn trotz der Unterschiede streben alle Strömungen eine islamische Gesellschaft und Herrschaft im Gegensatz zur bestehenden, letztlich vom Westen beherrschten kapitalistischen Ordnung an. Diese Gegengesellschaft wurde nun zum ersten Mal mittels bewaffnetem Jihad verwirklicht – was nicht anders kann, als eine gewaltige Sogwirkung auf die islamische Bewegung auszuüben, vergleichbar mit der Solidarität für die republikanischen Seite im spanischen Bürgerkrieg und ihrem höchsten Ausdruck, den internationalen Brigaden. Für das Erste konnte sich das Kalifat einmal etablieren und auch halten. Solange das der Fall ist, wird die Anziehungskraft des Jihadi-Staates groß bleiben. Von außen betrachtet scheint dies keineswegs gesichert (siehe dazu später), von innen wird sich das wohl anders darstellen.

Wie kann erklärt werden, dass die radikalsten Jihadisten, die selbst Al Qaida an Brutalität, Grausamkeit und Härte in den Schatten stellen, am erfolgreichsten sind? Wir schicken gleich voraus: ausländische Unterstützung und geheimdienstliche Machinationen können es nicht sein, sie können nicht als spezifischer Grund herhalten. Denn alle Seiten und Fraktionen erhalten Ressourcen aus dem Ausland und Geheimdienste sind ein etabliertes und allseits eingesetztes Mittel der Politik. Diejenigen, die nicht über solche Verbindungen verfügen, sind bereits ausgeschieden – wie beispielsweise die demokratisch-soziale Bewegung. Zudem ist der IS vermutlich jene Kraft der sunnitischen Seite, die am wenigsten direkte Zuwendungen von Staaten erhält und am ehesten über selbständige Finanzierungsnetzwerke verfügt. Das soll nicht bedeuten, dass es keine indirekte Unterstützung oder Duldung gäbe (vor allem vom Grenzstaat Türkei), aber direkter Handlanger von anderen Staaten ist der IS im Gegensatz zu anderen Gruppierungen nicht.

 

Der Erfolg Daeshs hat vor allem einen politischen Grund, ist Konsequenz aus dem Verlauf des Bürgerkrieges. Assad folgte der seit vielen Jahren „bewährten“ Strategie seiner Sicherheitsapparate der harten Repression gegen jegliche Opposition. Im Fokus stand insbesondere die demokratischen, interkonfessionelle Bewegung, die das Regime langfristig mehr gefährdet hätte, als die islamische, die über das nichtsunnitische Drittel hinaus bei einem wichtigen Teil der Bevölkerung Abstoßungsreaktionen hervorrufen musste. Die These, nach der Assad gezielt islamistische Elemente in der Bewegung förderte oder hervorhob, ist bis zu einem bestimmten Grad plausibel, doch darf das nicht übertrieben werden. Die Strategie ging auf ihre Weise sogar auf, konnte aber nicht anders als in den konfessionellen Bürgerkrieg zu führen. Zwar kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass die sunnitischen Jihadis offen konfessionalistisch sind, aber versteckt ist es das Regime genauso. Es setzte auf die Angst der Minderheiten und trat damit die Spirale der konfessionellen Mobilisierung los. Einzig mit demokratischen Reformen, die letztlich unweigerlich zum Ende der Diktatur geführt hätten, wäre das Abgleiten der demokratischen Revolte in einen konfessionellen Bürgerkrieg verhinderbar gewesen. Doch dieser war bewusste, strategische Wahl von Assads Führungsgruppe, die ihn noch immer gewinnen zu können glaubt.

 

Anders gesagt: Das Regime versperrte jede politische Artikulationsmöglichkeit nicht nur für Linksdemokraten, sondern auch für die diversen Spielarten des Politischen Islam (einschließlich des reformistischen), der in der gesamten Region die wichtigste Opposition zum globalen Herrschaftssystem darstellt. Mit dem Militärputsch in Ägypten war der Beweis für die Radikalen erbracht, dass es mittels der Demokratie keine Möglichkeit der Islamisierung gibt. Denn in der Methode der Erreichung der Ziele liegt vor allem der Unterschied zwischen moderaten und radikalen Kräften im Politischen Islam, nicht so sehr im Ziel selbst. Schritt für Schritt konnten so die Jihadis die politische Hegemonie erobern und Muslimbrüder & Co verdrängen.

Dieser Prozess hat zentral natürlich auch einen militärischen Aspekt, den man vom politischen nicht abtrennen darf. Die blutige Repression des Regimes hatte in der Volksbewegung eine Tendenz zur bewaffneten Gegenwehr erzeugt, in der jihadistische Elemente ein ideales Habitat vorfanden.

 

Militärische Konfrontation bedarf großer materieller Mittel. Schnell entwickelte sich eine feste Verbindung zu privaten und staatlichen Geldgebern am Golf sowie in der Türkei, die die Islamisierung und Konfessionalisierung beförderten. „Rent a Jihad“ wurde auch zum Geschäft und führte zur Herausbildung von Milizen, die gleichzeitig auch ihre geschäftlichen Interessen vertraten – und negative Gegenreaktionen bei der Bevölkerung hervorriefen. Um die soziale Notlage ihrer Unterstützerbasis kümmerten sie sich wenig bzw. verfügten sie nicht über die dafür notwendigen Mittel. Das könnte man als charakteristisch für die Phase der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) bezeichnen, die auch vom Westen ein gewisses Maß an Unterstützung erhielt. Allerdings schwang die Skepsis vor den Jihadis immer mit und begrenzte diese Hilfe.

 

Die radikalen Jihadisten und allen voran ISIS und Nusra waren im Gegensatz zum Archipel der FSA nicht nur diszipliniert und etablierten eine neue öffentliche Ordnung. Sie boten sowohl den Kämpfern als auch der Bevölkerung eine gewisse soziale Grundversorgung. Noch wichtiger: Sie stellten unter Beweis, dass sie die besten und härtesten Kämpfer waren und auch über die beste Ausrüstung verfügten. Doch deren Ressourcen waren nicht direkt an ausländische Unterstützer gebunden, sondern wurden und werden durch die eigenen Netzwerke aufgebracht. Das gibt Unabhängigkeit von den Schwenks der Golfmonarchen und Glaubwürdigkeit gegenüber den Kämpfern.

 

Sehr wichtig auch das unterschiedliche Verhältnis zu den USA bzw. die Ideologie des islamischen Antiimperialismus. Die FSA und diverse andere Gruppen einschließlich der Muslimbrüder bettelten den Westen um Intervention oder zumindest Geld an – und erhielten es meist indirekt über den Golf. Doch in einem großen historischen Bogen betrachtet proklamiert und kämpft die islamische Revitalisierungsbewegung letztlich um die Unabhängigkeit vom Westen. Sich als verlängerter Arm der USA zu verdingen, wirkt da über kurzfristige Taktizismen hinaus wenig populär. Da erscheinen die Jihadis von ISIS und Nusra als konsequenter und ehrlicher. Aufgrund der soliden antiwestlichen Grundstimmung unter den Volksmassen der Region gelang es den USA zu keinem Zeitpunkt innerhalb der bewaffneten islamischen Bewegung einen verlässlichen Partner zu entwickeln, was wiederum zur nur verhaltenen materiellen Unterstützung führte und letztlich die Dominanz von Daesh und Nusra weiter bestärkte.

Die Luftangriffe der USA auf Daesh und Nusra haben deren antiimperialistische Rolle weiter bestätigt, während das Assad-Regime zum kleineren Übel für Washington mutierte.

 

Beispiel Irak

 

Der qualitative Sprung gelang Daesh im Nordirak. Überhaupt ist Daesh ein spezifisches Produkt des Irak, im Gegensatz zu Al Qaida. Es ist die Resultante des Widerstands gegen die USA-Besatzung und der Übernahme der Herrschaft durch den schiitischen Politischen Islam. Gehärtet in einem blutigen konfessionellen Bürgerkrieg, fließen in Daesh sunnitischer Jihadismus und Saddamismus zusammen. Zahlreichen Berichten zur Folge, besteht ein Großteil der Spitzenkommandeure des IS aus ehemaligen irakischen Offizieren.1

 

Die USA konnten sich aus dem Irak dank zweier Ereignisse mit einem blauen Auge zurückziehen. Einerseits brach der konfessionelle Bürgerkrieg 2006/7 dem Widerstand das Rückgrad. Andererseits verstanden die USA zu guter letzt die Notwendigkeit der Einbindung der sunnitischen Eliten, die durch die Debaathizierung vollständig ausgeschlossen und entsprechend verärgert worden waren. Statt dem Kern des alten Staatsapparates, wählte man zur Wiederannäherung jedoch seine klientelistische Peripherie, nämlich die Stämme und ihr Einflussbereich bis in die urbanen Regionen wie Falluja oder Tikrit. Die Sahwa-Bewegung (Erwachen), die die sunnitische Milizen regularisierte und einen wichtigen Schritt zur sozialen und politischen Einbindung des tribalen Teils des sunnitischen Elite bildete, reduzierte die Basis des Widerstands und vor allem Al Qaidas qualitativ.2 Anfänglich zivile Proteste, die sich im Gefolge des arabischen Frühlings3 vor allem unter der sunnitischen Bevölkerung entwickelten, ließ das Bagdader Regime letztlich militärisch niederschlagen – bis zu dem Punkt, an dem sich fast alle Vertreter der Sunniten aus dem „politischen Prozess“ zurückgezogen. Elemente des konfessionellen Bürgerkriegs lagen in der Luft. Die Auflösung des Protestcamps von Ramadi, dem Zentrum der Proteste, im Dezember 2013 wurde mit dem Vorwurf der Unterwanderung durch Al Qaida durchgeführt4 So trieb das Maliki-Regime den arabisch-sunnitischen Norden des Irak richtiggehend in die Hände von Daesh, zu der es keine Alternative mehr gab. Die eher schwachen Muslimbrüder mit ihrer IIP waren am politischen Prozess gescheitert. Die Saddamisten hatten historisch ausgespielt und viele von ihnen, getrieben vom Hass auf den Iran und die Schiiten, den sie mit den Salafisten teilen, haben sich Al Qaida angeschlossen und an der Gründung des IS beteiligt. Der Nordirak fiel wie eine reife Frucht, die von Daesh nur mehr aufgefangen zu werden brauchte. Mittels eines bewaffneten Aufstands mit extrem wenigen Kämpfern gelang es ISIS große Teile des Nordens im Handstreich einzunehmen, vor allem auch die Millionenstadt Mosul. Für die verschiedenen, nun in den Hinter- und Untergrund gedrängten politischen Repräsentanten der Bevölkerung des Nordens, die alte Baath, der alte Staatsapparat mit seinen Beamten und Soldaten mit ihrer Hochburg Mosul, die Sufi-Orden usw. handelt es sich um einen Volksaufstand bei dem Daesh für sie das kleinere Übel gegenüber dem schiitischen Regime in Bagdad.5

 

Solange Bagdad gemeinsam mit Washington und Teheran schiitische Milizionäre in den Norden schickt, mögen sie da und dort Territorium zurückerobern können. ISIS schlagen werden sie mit der konfessionellen Frontstellung aber nicht vermögen, denn so haben sie die große Mehrheit der Bevölkerung des Nordens gegen sich.

 

Die Ähnlichkeiten zwischen dem Irak und Syrien sind also frappierend.

Ein Unterschied ist, dass der IS in Syrien wichtige Teile der bewaffneten Bewegung aufsaugen, organisch wachsen konnte und sich darauf konzentriert, die verbliebenen Reste der Konkurrenz zu vernichten, während er im Irak mehr auf der De-facto-Duldung durch bestehende sozio-politische Strukturen beruht und diese bis zu einem gewissen Grad gewähren lassen muss. Wenn diese die Seiten zu wechseln bereit sein sollten, würde Daesh schnell politisch isoliert. Ihre militärische Kraft wäre mit ein paar Zehntausend Männern lächerlich gering.

 

Der andere wesentliche Unterschied zu Syrien besteht darin, dass das Bagdader Regime viel diverser, breiter und weniger versteinert ist, als die Damaszener Geheimdienstoffiziere mit ihrer monolithischen Quasi-Monarchie. Nicht nur verfügt der schiitische Politische Islam über eine starke Differenzierung, mit teilweiser heftiger innerer Konkurrenz und massiven regionalen Verzweigungen, sondern es gibt auch ein über- oder auch interkonfessionelles Moment innerhalb des politischen Systems, das in Richtung eines Kompromisses drängt. Ein Ausdruck dessen war das Iraqiya-Bündnis, geleitet durch den Säkularisten Iyad Allawi, das aus den Wahlen 2010 sogar stimmenstärkste Liste hervorging.6 Dazu kommt das eigenartige Kondominium zwischen Teheran und Washington, das einen gewissen Spielraum verleiht.

 

Das Bagdader Regime kann mit ruhigem Gewissen als konfessionell bezeichnet werden, doch ist ein Schwenk hin zur signifikanten Einbindung einer sunnitischen Sektion der Gesellschaft nicht ausgeschlossen. Zudem gibt es ausreichend Ölrente, um trotz eines Kompromisses weiterhin Klientelismus betreiben zu können. Anders gesagt, das Regime müsste sich anpassen, würde aber nicht gänzlich hinweggefegt. Zur Rückholung des Nordes mag das für Abadi & Co als leistbarer Preis erscheinen.

Die syrischen Offiziere haben sich im Gegensatz dazu völlig verbarrikadiert. Die Allawiten stellen in Syrien etwas mehr als 10%, die Schiiten unter den irakischen Arabern eine erdrückende Mehrheit, was ihnen wesentlich mehr Spielraum gibt. Neben der konfessionellen Loyalität kommt in Damaskus noch die familiäre dazu, die dem Regime keinerlei Reformmöglichkeit lässt – Assad oder tot.

 

Wenn die Beziehungen zwischen Washington und Teheran weiter auftauen sollten, würde so ein Einbindungsprojekt im Irak sogar wahrscheinlich. Jedenfalls ist der Irak der weiche Unterleib des IS an dem die USA anzusetzen versuchen (das bestätigen sowohl Medienberichte7 als auch Aktivisten), während Syrien eine harte Nuss bleibt. Würde der IS Mosul und die anderen wichtigen irakischen Städte verlieren, bedeutete das auch einen schweren Rückschlag für Syrien und könnte die Kräfteverhältnisse grundlegend ändern oder gar umwerfen.

 

Jihad-Staat: Stärke, die in Schwäche umschlagen kann

 

Köpfungsvideos und extreme Brutalität können in einer Phase des Aufstiegs und der Erfolge an der Front den Gegner terrorisieren und so eine wichtige psychologische Wirkung entfalten. Doch in einem verlängerten Bürgerkrieg kommt es unweigerlich zu Erschöpfungserscheinungen, stellen sich Niederlagen ein, tun sich Differenzen mit der Bevölkerung auf. Die extreme Rigidität, die diktatorische Härte gegenüber einer diversen und insbesondere städtischen Bevölkerung, die noch vor kurzer Zeit nach Demokratie verlangte, kann schnell in Ablehnung und Rebellion umschlagen.

Zudem ist die Kultivierung des jihadistischen Feindbildes, das der IS perfekt bedient, das wichtigste politische Argument Assads, das seinen soziopolitischen Block noch zusammenzuhalten vermag.

 

Gleiches gilt für die internationale Ebene. Die USA fürchten IS und Nusra qualitativ mehr als Assad. Auch die Golfstaaten haben Angst vor einer jihadistischen Macht, die sie nicht kontrollieren können. Die USA können den Jihadismus militärisch nicht vernichten – das gelang die vergangenen zwanzig Jahre schon nicht. Aber sie haben potentiell die Mittel den islamistischen Protostaat zu zerschlagen, umso mehr wenn sie ihre regionalen Verbündeten in die Kampagne einzubinden vermögen. Doch ohne den Protostaat wäre der IS wieder auf die alte Rolle als Guerilla-Gruppe zurückgeworfen und der spezifische propagandistische Vorteil, ein Kalifat zu repräsentieren, wäre weg. Es könnte zu einer richtiggehenden Implosion kommen.

Es bleibt allerdings die – entscheidende – Türkei, für die der IS weiterhin als Gegengewicht zu Assad dient. Zwar ist die Unterstützung vorwiegend indirekt, doch könnte ohne die Duldung Ankaras der IS niemals diese Rolle spielen. Allein Erdogan kann mit der IS im wahrsten Sinne des Wortes international keinen Staat machen.

 

Zusammengefasst: Einerseits wird der IS niemals in der Lage sein den Bürgerkrieg zu gewinnen, denn gewichtige Teile der Bevölkerung werden alles tun dies zu verhindern. Auch die internationale Kräftekonstellation macht das unmöglich. Andererseits ist auch das Regime seinerseits nicht in der Lage die bewaffnete Rebellion militärisch zu unterdrücken. Daraus ergibt sich eine Pattsituation, die aber für einen Kompromiss noch nicht reif ist.

Die spezifische Form der Mobilisierung der IS tendiert eher zu einer neuen Eskalation – denn bisher konzentrierte sich Daesh auf die Bekämpfung konkurrierender Jihadi-Gruppen. Doch scheitert eine solche Offensive, könnte ein Einbruch folgen, der den gesamten Jihadismus einen enormen Dämpfer geben würde. Es ist zu bezweifeln, dass die Nusra-Front, die eine integrativere Politik gegenüber den anderen Gruppen wie den Komponenten der „Islamischen Front“ führt, das Loch füllen könnte. Möglicherweise wären diese Kräfte und ihre Unterstützer dann eher zu einem Waffenstillstand bereit. Die Schlacht mit Daesh muss jedenfalls noch geschlagen werden.

 

Substanzverlust des Regimes trotz militärischer Konsolidierung

 

Werfen wir nun einen Blick auf die andere, die Regierungsseite. Das Assad-Regime konnte sich zweifelsohne im letzten Jahr stabilisieren und einige militärische Erfolge erzielen. Keiner rechnet mehr mit einem schnellen Zusammenbruch, sondern die Regierung der Sicherheitsapparate muss von Freund und Feind als Spieler anerkannt werden. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich auch auf dieser Seite, wie begrenzt, wie brüchig, wie bedingt diese Konsolidierung ist.

 

Den Umschwung für die Regierung brachte das massive militärische Eingreifen der Hisbollah in der Schlacht von Qusair im Mai und Juni 2013, die von der libanesischen Schiitenmiliz erfolgreich operativ geführt wurde. Im Verhältnis zu den syrischen Milizen und auch regulären Soldaten handelt es sich bei der Hisbollah um Eliteeinheiten, die hoch diszipliniert und motiviert sind. Seither spielen sie an vielen Fronten eine wichtige Rolle und geben den syrischen und irakischen Einheiten Rückhalt und Führung. Zudem scheinen auch iranische Kräfte eine immer größere Rolle zu spielen. Die militärische Abhängigkeit Damaskus’ vom Iran und seinen regionalen Verbündeten wird also immer größer – ganz zu schweigen von der logistischen und wirtschaftlichen.

 

Auf der Habenseite kann das Regime auch den Schwenk der USA verbuchen, der teilweise als Bestätigung der Strategie der Vergrößerung des jihadistischen Feinds gelesen werden kann. Zwar hatte sich Washington anfangs klar für den Sturz Assads ausgesprochen, aber es wurde den Herren der Welt schnell klar, dass sie über keine verlässlichen und ausreichend starken, verbündeten Kräfte im Land verfügten. Je mehr die militärischen Auseinandersetzungen anwuchsen, desto stärker wurden die jihadistischen Kräfte außerhalb ihrer Kontrolle. Ihre eigenen politisch-militärischen Versuche um die Koalition und die FSA erlitten eine zunehmende Marginalisierung. All das drückt einen präzedenzlosen Hegemonieverlust der USA und des Westen aus.

 

Von Anfang an wollte Obama nicht in ein weiteres Afghanistan oder einen Irak hineingezogen werden und schloss ein direktes militärisches Eingreifen, so sehr es von den regionalen als auch syrischen Verbündeten gefordert wurde, aus. Als im September 2013 als Konsequenz aus den amerikanischen Drohungen die Eskalation in Form von US-Luftangriffen unmittelbar bevorstand, zog das US-Regime im letzten Moment zurück. Es verstand, dass nach Assad nichts US-freundlicheres folgen würde. Im Irak hatte man die bittere Erfahrung gemacht, dass selbst mit der Besatzung kein US-höriges Regime installiert hatte werden können. Damit hatte Assad den Kopf aus der Schlinge gezogen. Er war für Washington zumindest kein größerer Feind mehr als die Jihadisten.

 

Die Etablierung des Kalifats im Juni 2014 brachte eine weitere qualitative Verschiebung. Die Luftangriffe der USA auf Daesh und Nusra, mit dem stillen Plazet Damaskus’ und seiner Verbündeten, bedeuteten für Assad das Downgrade zum kleineren Übel. Die massive militärische Unterstützung des syrischen PKK-Ablegers PYD gegen den IS im Herbst 2014, selbst gegen den ausdrücklichen Willen des Nato-Landes Türkei, bestätigte dies nochmals. Die Absetzung des US-Verteidigungsministers Hagel, der die Äquidistanz zwischen IS und Assad beihalten wollte, um mögliche Verbündete nicht als Anhängsel Assads erscheinen zu lassen8, kann ebenso als Beleg der These herangezogen werden, dass der Jihadismus wichtigster Feind des USA in der Region bleibt.

 

Allerdings ändert das nichts daran, dass das Regime kaum mehr auf Reserven zurückzugreifen vermag und zunehmend ausblutet. Auch die konfessionelle Mobilisierung zeigt ihre Kehrseite:

Ein wichtiges Element der militärischen Stabilisierung war die Regularisierung der vorwiegend allawitischen Shabiha-Milizen zur National Defense Force (NDF) gewesen, die auch Einheiten der anderen Minderheiten wie Christen und Drusen mit einschließt. Diese Konfessionalisierung der Streitkräfte bzw. Professionalisierung der konfessionellen Milizen brachte erhöhte Kampfkraft, mehr Kämpfer und bessere Motivation, vor allem wenn diese Truppen ihr eigenes, bereits konfessionell konzipiertes Territorium verteidigen. Für Offensivoperationen auf fremdem Gebiet sind sie nicht geeignet. Vor allem aber handelt es sich im Gegenzug auch um eine Shabihisierung des Regimes9, welche die Rückgewinnung sunnitischer Bevölkerung noch schwerer bis unmöglich macht. Überhaupt beruht diese konfessionelle Strategie auf der permanenten Aufblähung des Gegners zu einem furchteinflößenden islamistischen Monster – was der Motivation der Soldaten nicht nur zuträglich ist. Überhaupt erweisen sich die Regime-Medien wahrscheinlich als die besten Verbreiter der IS-Gräuelvideos.

 

Vor allem ihre allawitische Unterstützerbasis ist gezwungen einen enorm hohen Blutzoll zu zahlen, der immer schwieriger abzuverlangen wird. Es häufen sich die Berichte von Zwangsrekrutierungen selbst an Checkpoints. Wer kann, flüchtet in den Libanon oder versteckt sich zu Hause, um dem Tod oder der Verletzung in einem Krieg zu entgehen, in dem kein Ende, keine Lösung abzusehen ist – denn an die Siegesparolen glaubt kaum noch jemand. Unmut und Wut in der allawitischen Bevölkerung steigen, doch die Angst vor dem konfessionell motivierten Massaker durch die Jihadisten überwiegt noch. Nur mittels des IS-Monsters kann Assad den Zerfall seines sozialen Blocks verhindern. Hier ergäbe sich potentiell eine große Chance für eine demokratisch-überkonfessionelle Kraft, die das Assad-Regime nicht umsonst mit der allergrößten Härte verfolgte und aus dem Land trieb.

 

Selbst an der durch die Abwehr des israelischen Angriffs gestählten Hisbollah geht der konfessionelle Krieg nicht spurlos vorbei. Vom antiimperialistischen Helden aller Araber mutierte Nasrallah zum Exekutor einer unhaltbaren Diktatur gestützt auf den schiitischen Block. Statt der „Abwehr der Takfiris“10 importiert die Hisbollah den Konflikt in den Libanon und bietet dem Jihadismus politisches Terrain mit sehr gefährlichen Perspektiven. Trotz der politischen Mobilisierung hat es einen gänzlich anderen Stellenwert das Leben seiner Söhne für den Kampf gegen den zionistischen Besatzer oder im Kampf gegen arabische Brüder zu opfern. Der politische Preis, den Hisbollah zu zahlen haben wird, kann noch gar nicht vollständig ausgelotet werden. Teuer wird es allemal.

 

Unter dem Strich: Wie beim Gegner sind die Kräfte begrenzt und Erfolge nicht stabil. Solange der Feind die bevorzugte Form des IS hat, wird die Front wohl gehalten werden können. Auch kann man sich auf die ausländischen Partner, vor allem den Iran, nach wie vor verlassen. Zu groß ist deren strategischer Einsatz. Die Hoffnung der Militärmachthaber bleibt, dass gegen Daesh eine größere, internationale Koalition „gegen den Terror“ zusammengestellt werden kann oder zumindest geduldet würde. Die Frage ist, wie lange Assad die harte Linie aufrecht zu erhalten vermag oder nicht selbst der Preis für eine solche Front sein könnte. Auf der jeden Fall wären ein Waffenstillstand und ein Kompromiss das schmachvolle Eingeständnis einer historischen Niederlage mit dem Potential auf innere Destabilisierung. Die Zeit spielt also nicht für das Regime. Militärische Erfolge müssen schnell erzielt werden, denn bei einem Waffenstillstand gingen große Territorien verloren. In der Logik der herrschenden Gruppe müssen also die militärischen Anstrengungen möglichst intensiviert werden.

 

„Conflict freeze“ in Aleppo?


Für das Regime hätte es im Verlauf des Konflikts, und natürlich noch mehr davor, einige Male andere Optionen gegeben als die pure militärische Repression – wohlgemerkt, um die eigene Haut zu retten. Zugegeben, demokratische Reformen wären schwer zu begrenzen gewesen, hätten vermutlich Tür und Tor für eine unkontrollierbare Situation mit offenem Ausgang geschaffen. In der Phase des offenen Bürgerkriegs hätte man Verhandlungen und einen Kompromiss mit der prowestlichen Opposition anstreben können. Gerade weil diese das nicht wollte und auch von den westlichen Staatskanzleien darin bestärkt wurde, hätte man daraus einen Vorteil ziehen und die Basis des Regimes mit einer sehr begrenzten Öffnung etwas verbreitern und stärken können (etwa so wie es gegenwärtig die Moskauer Initiative11 vorsieht). Die lokalen Waffenstillstände in Homs12 und den Damaszener Vororten13 hätte man ebenfalls politisch entwickeln können zumal die Kämpfer oft aus den betroffenen Viertel selbst stammten, doch das Regime konzipierte sie als De-facto-Kapitulationen. Es hielt durchgehend an der harten Linie fest, mit der Hoffung auf den vollständigen militärischen Sieg. Es kannte auch aus seiner Vergangenheit keine andere Methode.

 

Nun tut sich um Aleppo eine neuerliche Möglichkeit auf, die von der UNO unter De Mistura forciert wird14. Die prowestlichen militärischen Kräfte stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie befinden sich zwischen dem Hammer der Regierungstruppen und dem Ambos der Jihadisten in einer hoffungslosen Lage. Sie sind nicht nur von der IS, sondern auch von der Nusra-Front bedroht, die gewissermaßen hinter ihren Linien operiert und letztendlich im Kleinen jene Taktik gegenüber den Resten der FSA anwendet, die das Regime im Großengegenüber jenen einschlagen könnte: Assad könnte den sogenannten Moderaten nun einen Waffenstillstand anbieten. Angesichts der akuten Drohung der Vernichtung könnten sie wohl kaum anders als ihn anzunehmen, solange er keine volle Kapitulation impliziert. Damit würde das Regime sich einen wirkungsvollen islamischen Schild gegen die Jihadisten schaffen.

 

Gleichzeitig könnte es von der Türkei als politische Tributzahlung angenommen werden und den gescheiterten Neo-Sultan besänftigen. Denn Erdogan war der Architekt der islamischen Eroberung Aleppos und kann ohne Teilergebnis nicht ablassen. Die Macht zur Fortsetzung hat er allemal.

Der Preis für das Regime ist nicht genau einschätzbar und hinge vom weiteren Kriegesverlauf und natürlich der politischen Ausgestaltung ab – irgendwo zwischen islamischen Vasallentruppen Assads bis hin zu den von Ankara geforderten Einflusszonen. Und hier liegt auch das Problem, denn es bedeutete das Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Strategie. Die politische Konsequenz wäre jedenfalls die Akzeptanz des Prinzips der Machtteilung auch auf territorialer Ebene – etwas, gegen das man sich bereits auf gesamtstaatlicher Ebene radikal verwehrt hatte. Daher spricht vieles dafür, dass das Regime die altbewährte harte Linie fortsetzen wird – mit allen bitteren Konsequenzen.

 

Neue Eskalation?


Wie beschrieben gibt es also durchaus Keime eines Kompromisses, doch für beide Seiten überwiegen in ihrem jeweiligen Kalkül die Vorteile der Fortsetzung des Krieges, der Aufbau neuer Offensiven und die Hoffnung auf militärische Erfolge. Bisher haben sich die Pole vor allem um die Begradigung ihrer Frontlinien bemüht und in den eigenen Reihen aufgeräumt. Will man Medienberichte glauben schenken, war das Ausmaß der direkten Konfrontation Assad-IS bescheiden. Vielleicht steht also eine solche große Konfrontation erst bevor.

 

Schlüssel Türkei

 

Angesichts des Vormarsches des IS hatte sich wie beschrieben das internationale Blatt zugunsten Assads gewendet. Das heißt im Umkehrschluss aber keineswegs, dass die USA und ihre Verbündeten Assad gewinnen lassen, sondern lediglich die Jihadisten in die Schranken weisen wollen. „Rent a Jihad“ war für Saudiarabien ein gangbarer Weg, doch vor relativ selbständiger islamistischer Massenmobilisierung, wie es die Moslembrüder und Daesh auf jeweils ihre Art und Weise darstellen, haben die islamistischen Monarchen Angst. Ihnen geht es mehr darum, Irans regionale Macht zu beschränken. Ein domestizierter, geschwächter, aus dem Orbit Teherans entfernter Assad wäre für die Sauds vielleicht sogar akzeptabel.

Das größte Problem mit der Anti-IS-Koalition hat aber die türkische AKP-Regierung, die wiederum mit dem Iran selbst kein Problem hat. Erdogan hatte alles auf den arabischen Frühling gesetzt, zu dessen Galionsfigur er werden wollte. Als Schwierigkeiten auftraten, trieb er die Militarisierung und Islamisierung voran, was wiederum zurückwirkte und den Charakter seiner eigenen Regierung verhärtete. Der unschlagbare Block mit den liberalen Mittelschichten, mittels dessen er die kemalistischen Militärs sensationell friedlich zurückgedrängt, ja ins Abseits geschoben hatte, zerbrach.15 Selbst den Ausgleich mit den Kurden gefährdet Erdogan, indem er die Jihadisten gegen die PYD/PKK gewähren ließ und lässt – siehe die Schlacht um Kobane16. Kurz, er hat sein Schicksal auf die Karte des Sturzes Assads gesetzt und kann sich aus der Angelegenheit nicht ohne Erfolg zurückziehen. Als mächtigstes und einflussreichstes Land in Syrien hat er jedenfalls die Macht den Ausgang mit zu beeinflussen. Da ein vollständiger Sieg praktisch ausgeschlossen werden kann, stellt sich die Frage wie aus AKP-Sicht ein akzeptabler Teilerfolg aussehen könnte. Anders gesagt: Was kann die AKP mit dem IS anfangen? Ist er domestizierbar, ist er kompromiss- und friedensfähig?

 

Kalifat light?


Der Islamische Staat ist kein Staat im vollständigen Sinn, sondern ein auf permanente kriegerische Mobilisierung aufgebauter Protostaat. Klassische staatliche Funktionen der öffentlichen Verwaltung sind, wenn überhaupt, nur rudimentär vorhanden. Ob Daesh zum Aufbau solcher fähig ist, kann bezweifelt werden.

Die Macht der Kriegerelite steht auf äußerst wackeligen Beinen und wird durch den Krieg und den damit einhergehenden Ausnahmezustand legitimiert und durch Terror aufrecht erhalten. Während zum Beispiel die Islamische Republik Iran ihren neuen islamischen Staat gestützt auf zwei mächtige Klassen, die traditionelle und breite Händlerbourgeoisie und den auch sozial einflussreichen Klerus, aufbaute, verfügt der IS über nichts Vergleichbares. Die alten sozialen Eliten, einschließlich der sunnitischen, sind weg und tendieren wenn eher zu Assad. Der sunnitische Klerus ist sowieso viel schwächer als der schiitische, jedoch wurde das traditionelle religiöse Establishment ebenfalls hinweggefegt. Die neue religiöse und juridische Führung (die Gerichtsbarkeit ist das Prärogativ, die eigentliche Funktion der Religionsgelehrten, der Ulama) verschmilzt vollständig mit den Kämpfern und verfügt über keine eigenständige Legitimation, geschweige denn soziale Basis. Ein Staatsapparat müsste vollständig aus dem Nichts neu erschaffen werden. Vermutlich müsste er sich vor allem aus dem Pool Saddams bedienen, was wiederum Bruchlinien hervorrufen würde. Die Fortsetzung dieser Sozialingineursspekulation ist hier nicht mehr zweckdienlich, das Problem von Daesh indes ganz klar.

 

Es ist schwer vorstellbar, den IS zu zähmen, selbst wenn auch Elemente von Realpolitik wahrnehmbar sind, wie die De-facto-Respektierung der Grenze mit dem Beschützer Türkei. Jedenfalls wird die führende Gruppe nicht freiwillig auf Geheiß Ankaras die Macht abtreten, sondern es würde einer Art Putsch oder Coup einschließlich der Eliminierung des Kalifen und seiner Umgebung bedürfen und vor allem eines bereitstehenden Ersatzes. Doch an diesem Punkt droht wiederum die Implosion, denn ist die neue Führung zu moderat, drohen die Desperado-Jihadis abzufallen. Mit der Transformation des Jihad-Protostaates in ein Kalifat light oder eine sunnitische Entität noch zu definierender Gestalt wird Ankara seine liebe Not haben. Auch deshalb ist diese Seite noch kaum zu einem Waffenstillstand bereit.

Umso wichtiger muss es der AKP erscheinen, andere islamische Gruppen wie die Muslimbrüder und ähnliche Mittelstandsislamisten im Spiel zu behalten, die unter gewissen Umständen eine wichtige Rolle für die Türkei spielen könnten.

 

Konturen eines Kompromisses

 

Der Ausgang des Konflikts ist nach wie vor offen und alles ist möglich, letztlich jedoch ein Kompromiss wahrscheinlich, auch wenn der Krieg noch Jahre fortdauern kann. Je länger er dauert, desto stärker wird die notwendige Teilung der Macht territoriale Form annehmen, weil sie auch die konfessionelle Trennung weiter verfestigt. Ausgangspunkt wird in jedem Fall die Herrschaft der Milizen über das von ihnen gehaltene Territorium sein. Die Neubildung eines Zentralstaates kann fast ausgeschlossen werden, die Frage ist eher der Grad an Föderalisierung und vor allem der Konfessionalisierung der verschiedenen Entitäten.

 

Ein Ergebnis könnte ein Modell entsprechend der gescheiterten Pläne der französischen Kolonialverwaltung sein, die Syrien in vier Teilstaaten zergliederte: Damaskus, Aleppo, ein Allawitenstaat an der Küste und ein Drusenstaat im Süden. Der panarabische Volksaufstand fegte die Kolonialprojekte hinweg, nur der Christenstaat Libanon mit konfessionellem Proporz verblieb. Der libanesische Bürgerkrieg vermochte zwar nicht den konfessionellen Charakter des zedernbeflaggten Staates zu verändern, doch brachte er über einen bis heute andauern Konflikt eine qualitative Verschiebung der konfessionellen Machtverhältnisse mit sich. Von der Herrschaft der prowestlichen Christen mit der Kooptierung der sunnitischen Bourgeoisie ging es über zahlreiche Mutation bis hin zur antiwestlichen Herrschaft der Schiiten mit Kooptierung der Christen (gegen den Willen von deren Eliten).

 

Die Rückkehr der französischen Kolonialträume ist paradox, denn der syrische Bürgerkrieg zeigt eigentlich den Hegemonieverlust des Westens an, der so weit geht, dass er vom direkten Eingreifen strategisch zurückschreckt, weil die Versuche in Afghanistan und dem Irak im Desaster geendet hatten. Letztlich ist die Rehabilitierung kolonialer Konzepte Ausdruck der extremen Selbstschwächung der syrischen und arabischen Gesellschaft durch den Bruderkrieg.

 

Ein ähnliches Paradoxon kann bei den kolonialen Grenzen in Region überhaupt festgestellt werden. Der Panarabismus war angetreten, diese zu überwinden und endete als deren wichtigster Verteidiger. Der Jihadismus ist an der oberen Schicht eine panislamische Ideologie, doch in den unteren Schichten wiederbelebt er und setzt er eine panarabische Tradition fort, die insbesondere im Irak, in dem Daesh geboren wurde, sunnitisch eingefärbt ist – und antikurdisch. Doch der jihadistische Vereinigungsgedanke ist wegen seiner extremen Rigidität und Exlusivität noch mehr und noch schneller zum Scheitern verurteilt als der Panarabismus es war, der immerhin ein halbes Jahrhundert die Geschicke der Region bestimmte.

 

Ein Kompromiss wird daher vermutlich auf die bestehenden, kolonialen Grenzen zurückgreifen, auch wenn die gesellschaftlichen Strukturen umgewälzt werden. Auch Washington tendiert nach den Schwierigkeiten im Irak zur Beibehaltung der historischen Grenzen. Denn jede Grenzänderung destabilisiert die bestehende brüchige Ordnung schon allein als Präzedenz. Manche mögen darauf hinweisen, dass die neokonservative Konzeption des kreativen Chaos sich in Syrien letztlich bewährt habe. Der Bürgerkrieg könne noch lange andauern, Gewinner sei in jedem Fall das kapitalistische Zentrum. Doch die Selbstschwächung der Araber heißt im Gegenzug keine Stärkung des Westens. Denn die lokalen kapitalistischen Elite, die Stützen der US-Vorherrschaft, werden durch die Bürgerkriege und Revolutionen verschiedenster Art weiter unterspült. Darum bleibt der Jihadismus auch der Hauptfeind Westens und nicht lokale kapitalistische Eliten, die sich geopolitisch multipolar verhalten, wie eben Assad.

 

Überkonfessionelle soziale Demokratie?


Ist für die überkonfessionelle demokratisch-soziale Bewegung des allarabischen Tahrir überhaupt kein Platz mehr? Sind diejenigen, die sich gegen die Militarisierung stemmten, durch den Verzicht auf Waffengewalt auch politisch stimmlos – auch weil sie weitgehend das Land verlassen mussten? Solange die Waffen sprechen, scheint es jedenfalls so zu sein.

Doch im Rahmen eines Kompromisses, bei dessen Entwicklung und Gestaltung, wird das Tahrir-Milieu eine wichtige Rolle spielen, denn es kann potentiell einen bedeutenden Teil der Bevölkerung repräsentieren und einen Ausgleich der konfessionellen Gegensätze vermitteln.

Ein Kompromiss hat zwei extreme Pole. Einerseits die Absteckung der Machtbereiche der zwei Bürgerkriegsparteien als Eliten mit ihren internationalen Unterstützern im Rücken. Andererseits die Verwirklichung von demokratisch-sozialen Forderungen der Volksbewegung.

Man mag einwenden, dass die Kriegsherren keinen Grund haben, Zugeständnisse zu machen. Doch das ist eine Fehlannahme. Der Bürgerkrieg ist zu einem guten Teil auch ein innerer (bewaffneter) Konflikt der jeweiligen Seiten – ist es übrigen in fast jedem Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg dient sogar zu einem guten Teil dazu, diese Zugeständnisse nicht machen zu müssen, weil sie die Macht der jeweiligen Eliten gefährden, nicht nur von Assads Sicherheitsapparaten, sondern auch jene der Jihadisten, wie weiter oben ausgeführt. Ein Kompromiss braucht einen gewissen Konsens in der Breite der Bevölkerung. Er kann in Rahmen der konfessionellen Konstituierung oder auch jenseits von dieser sich entfalten – oder in Kombination. Jedenfalls bedeutet Kompromiss eine politische Isolierung der jeweiligen Falken. Hier kann eine überkonfessionelle demokratische Kraft sehr wohl eine Rolle spielen und die Bedingungen, die Koalition für einen Waffenstillstand schaffen.

 

Jedenfalls geht es darum, ein Modell des Ausgleichs der Konfessionen, die durch den Bürgerkrieg als politische Subjekte konstituiert wurde (im Ansatz gab es sie auch schon zuvor), mit der demokratischen Partizipation der Volksmassen, die auch ihre sozialen Forderungen transportieren, zu verbinden.

Politisch konkret: Das alte Regime der Erben des Panarabismus setzte auf den repressiven Ausschluss der mächtigen Volks- und Elitenbewegung des Politischen Islam – und fungierte damit als Geburtshelfer des Jihad. Der Tahrir muss als Hauptleistung den Ausgleich mit einem Teil des Politischen Islam schaffen, um die Jihadisten zu isolieren. Das ist eine denkbar schwere Aufgabe, denn die säkularistischen Traditionen im französischen, elitären, antidemokratischen Sinn sind sehr stark.17 Siehe auch die Unterstützung die ein Teil des Tahrir dem ägyptischen Militärputsch des alten Regimes gegen die Muslimbrüder zuteil werden ließ.http://www.antiimperialista.org/es/node/244334 ">18 Gelingt das nicht – und dieses Scheitern ist mehr als möglich – wird es zur harten konfessionellen Teilung des Landes unter der Herrschaft neuer antidemokratischer Eliten kommen.

 

Die „Internationale Initiative für eine Politische Lösung des syrischen Konflikts“ (www.peaceinsyria.org), setzt sich für die Unterstützung solcher demokratisch-überkonfessioneller Tendenzen und Kräfte in der syrischen Gesellschaft ein und versucht ihnen eine Stimme zu verleihen. Besonders wichtig erscheinen dabei bereits existente Initiativen in Richtung einer demokratischen Konstituante, der politischen Hauptforderung des arabischen Frühlings. Die konkrete Vorstufe dessen heißt in Syrien „Nationale Versammlung“.

Doch Achtung, hier ist große Vorsicht und strikte Absetzung von westlichen Interessen geboten, denn der Imperialismus spielt auch auf diesem Terrain. In vielen Konflikten erscheinen die Verhältnisse ganz klar. Der Westen verteidigt die kapitalistischen Eliten, die Massendemokratie im Allgemeinen fürchten. Dann gibt es den gegenteiligen Fall, wo antiwestliche Regime mit dem Hebel der westlichen Demokratie gestürzt oder bekämpft werden sollen. Syrien mag anfangs von Washington unter zweitere Kategorie subsumiert worden sein, doch die Konfessionalisierung und der Aufstieg der Jihadismus hat diese Linie falsifiziert. Nachdem der Westen keine der beiden Seiten kontrolliert und ein gelungenes nation building unter der Flagge der westlichen Demokratie sein in der Defensive befindliches globales System stärken würde, sieht er die überkonfessionelle Variante als Möglichkeit in Erwägung, sollte sie sich wirklich ergeben. Jeder ernsthafte Versuch in diese Richtung läuft also Gefahr vom Westen vereinnahmt zu werden. Und aufgrund des Ressourcenmangels und der Stimmlosigkeit dieses Milieus ist diese Gefahr sehr groß.

Die Umarmung durch Washington kann nur ein Todeskuss sein. Denn es ist genau die relative Unabhängigkeit der beiden Bürgerkriegsseiten von den USA und vom Westen (nicht von den regionalen Mächten, die ihrerseits mit diesem verbunden sind), die ihnen Legitimität bei ihrer Basis erhält. Wer auf der Basis der umfassenden globalen Macht des kapitalistischen Zentrums kommt, der wird – zu recht – von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Echte Demokratie kann nur antiimperialistisch sein und vom Volk und seinen sozialen Interessen ausgehen – und nur so kann sie sich auf historische Sicht durchsetzen.