Hunger wird zu Assads effektivster Waffe

Erstveröffentlicht: 
27.01.2014

Seit Monaten blockiert die syrische Armee ein palästinensisches Flüchtlingslager bei Damaskus. Die Menschen werden systematisch ausgehungert. Das Tagebuch einer jungen Frau gibt Einblicke ins Leid.

 

Von Alfred Hackensberger 

 

Die Vorräte zu Hause reichten nicht lange. Als sie aufgebraucht waren, brachen Bewohner des palästinensischen Flüchtlingslagers Yarmouk in Lebensmittelläden und Supermärkte ein, deren Besitzer geflüchtet waren. Nach wenigen Monaten blieben trotzdem nur Tomatenmarkpulver und – mit viel Glück – eine Tasse Linsen oder Reis pro Tag und Familie.

 

Andere mussten sich mit Tierfutter und Gras, in Wasser gekocht, zufrieden geben. Einige, die Katzen jagten, starben an Fleischvergiftung. "Ich schwöre zu Gott, ich habe Hunger", sprühte jemand an die Fassade eines Geschäfts.

Die syrische Armee riegelt das Camp ab

 

Seit sechs Monaten ist das Camp, nur acht Kilometer vom Zentrum der syrischen Hauptstadt entfernt, von der syrischen Armee eingekesselt und damit von der Außenwelt abgeschnitten. Der Grund für die Blockade: Im Dezember 2012 war Yarmouk von unterschiedlichen Rebellengruppen, die das Regime von Präsident Baschar al-Assad bekämpfen, besetzt worden. Darunter waren Liwa al-Asifa, aber auch Al-Qaida-Gruppen wie Jabhat al-Nusra und Islamischer Staat im Irak und der Levante (Isil).

 

Es war nur eine Frage der Zeit bis es den ersten Toten gab. Am 2. November starb Abdelhay Youssef. Er wurde nur sechs Jahre alt. Einer von insgesamt 48 Menschen, die laut der palästinensischen Vereinigung für Menschenrechte in Yarmouk an den Folgen von Unterernäherung und mangelnder medizinischer Behandlung bisher starben. Bewohner des Camps, die über die Abwasserleitungen geflohen waren, berichteten von rund hundert Opfern seit Beginn der Abriegelung.

 

Wer kann, flieht aus dem Lager. Von den ursprünglich 150.000 Einwohnern Yarmouks sind nur noch 18.000 geblieben, als die Kämpfe zwischen Rebellen und Regierung begannen.

 

Gebiete werden ausgehungert

 

Hunger als Waffe ist eine neue Strategie der syrischen Armee. Wenn Rebellen trotz wochenlanger oder sogar monatelanger Bombardierung und unablässigen Artilleriebeschusses nicht aufgeben, werden die betroffenen Gebiete umzingelt und ausgehungert.

 

So vermeidet die syrische Armee Verluste in den eigenen Reihen, die sie bei einer Großoffensive zwangsläufig erleiden würde. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Geduld bis man das betreffende Territorium kampflos einnimmt.

 

Der Hunger als Waffe wurde nicht nur in Yarmouk sondern auch in einigen Stadtteilen und ländlichen Vororten von Damaskus erfolgreich angewandt. Andere Teile der Hauptstadt wie Duma, Hajar al-Aswad, Yalda, al-Goutha oder Joba werden noch belagert.

 

250.000 Menschen eingeschlossen

 

"Die Situation ist wirklich sehr schlecht", sagt Tariq über Skype aus al-Goutha. Das ist einer jener Stadtteile, in dem die mit Sarin gefüllten Raketen im August niedergegangen waren und Hunderte Bewohner töteten. "Es gibt kein Wasser und keine Elektrizität, aber was das Essen betrifft, geht es uns nicht so schlecht wie den Leuten in Yarmouk."

Die Armee habe vor etwa einem Monat ihre Vorstöße aufgegeben und halte nur mehr ihre Stellungen an der Front. "Aber sie sollen sich keine großen Hoffnungen machen. Bei uns haben sie kein leichtes Spiel", sagt Tariq. Im fruchtbaren al-Goutha gebe es landwirtschaftliche Anbauflächen, von denen nicht viel, aber genug zum Überleben komme.

 

"Rund 250.000 Menschen sind in Homs, Aleppo und in Damaskus eingeschlossen", stellte Valerie Amos, die Vize-Generalsekretärin für Humanitäre Angelegenheiten der Vereinten Nationen, auf der Syrien-Konferenz in Genf fest. "Sie sind leider außerhalb unserer Reichweite."

 

Es wird keinen schnellen Sieg geben

 

Amos wolle zusammen mit Lakhdar Barahimi, dem Syrien-Sondergesandten der Vereinten Nationen, dieses Problem gezielt mit den Konfliktparteien ansprechen. "Politische Verhandlungen können sehr lange dauern und wie wir gesehen haben, sind die Meinungsverschiedenheiten sehr groß", erklärte Amos. "Wir dagegen brauchen eine schnelle Lösung, um diese betroffenen Gemeinden erreichen zu können." Bisher habe es nur sehr moderate Fortschritte gegeben.

 

Die Taktik der Aushungerung sei eine neue Dimension des syrischen Bürgerkrieges, glaubt Joshua Landis vom Zentrum für Studien zum Mittleren Osten der amerikanischen Universität Oklahoma. "Nach fast drei Jahren Krieg machen sich Abnutzungserscheinungen bemerkbar."

 

Beide Konfliktparteien wüssten, dass es keinen schnellen Sieg gebe und der Krieg noch Jahre dauern könne. "Vor ein oder zwei Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, ganze Stadtteile auszuhungern", sagt Landis. "Das wäre eine feige, hinterhältige Tat gewesen. Heute scheint das kein Tabu mehr zu sein."

 

Tagebuch der Hoffnungslosigkeit

 

Für Ekram klingt das alles sehr zynisch. Sie stammt aus Yarmouk, hat aber das Flüchtlingslager verlassen, als die Kämpfe zwischen Rebellen und der syrischen Armee im Dezember 2012 begannen. Die 23-jährige Studentin ist mit Freunden, Bekannten und Familienangehörigen im Lager auch nach ihrer Flucht in Kontakt geblieben. Einige ihrer Freunde sind bereits gestorben.

 

"Mit jedem Tag, den die Blockade andauerte, verloren sie mehr Hoffnung", erzählt Ekram, die darüber Tagebuch führte. Teile davon hat eine dänische Zeitung abgedruckt. "Ich habe immer versucht, denen im Lager Mut zu geben, aber irgendwann funktionierte das nicht mehr."

 

Das junge Mädchen beginnt Geschichten aus Yarmouk zu erzählen. Von einem 18-Jährigen, der zu seiner weinenden Mutter sagte, er ginge nur raus, um Essen zu holen. Er sei aber nie zurückgekommen. Er hatte sich aufgehängt.

 

Oder von einer Witwe mit fünf Kindern, die von Tag zu Tag schweigsamer und sonderlicher wurde. Eines Tages sei sie einfach leise gestorben. Und dann ist da Abdelhay, der sechsjährige Junge und das erste Hungeropfer im Camp. Ihm hat Ekram ein Kapitel ihrer Tagebücher gewidmet. Sie schreibt wie sehr der Junge das Leben genoss, obwohl er das Hungergefühl im Bauch nie vergessen konnte. "Wir haben dieses Kind getötet", heißt es im letzten Satz. "Wir töteten ihn, weil wir schweigend zugesehen und nichts getan haben."

 

Hunger ist ein schleichender Tod

 

Es ist ihre eigene Hilflosigkeit, die Ekram zu schaffen macht. Aber sie ist auch maßlos enttäuscht, dass der schleichende Tod im abgeriegelten Yarmouk so wenig öffentliche Aufmerksamkeit erhielt. Die internationalen Medien berichteten darüber erst umfangreich, als es zu spät war und mehr als 40 Menschen gestorben waren.

 

"Selbst bei den palästinensischen Medien spielte das monatelange Leiden im Lager keine große Rolle", befindet Ekram. "Und keiner der palästinensischen Politiker hat sich bemüht, eine Lösung zu finden." Durch den Bürgerkrieg ist die Beziehung zwischen syrischer Regierung und den Palästinensern nicht mehr so, wie sie früher war.

 

Die radikal-islamistische Hamas, die Jahrzehnte lang von Damaskus finanziell und militärisch unterstützt worden war, hatte ihr Hauptquartier in Damaskus aufgegeben und Präsident Assad den Rücken gekehrt. Sie wären die einzigen gewesen, die erfolgreich hätten vermitteln können. Im Gazastreifen, der von der Hamas regiert wird, gab es Solidaritätsdemonstrationen für Yarmouk. Aber auch erst im Januar, nach dem Tod der ersten Campbewohner.

 

"Keiner der Rebellen ist an Hunger gestorben"

 

Schwer enttäuscht ist Ekram zudem von den Rebellen. Weniger, weil sie das Camp eroberten und einen Gegenschlag des Regimes provozierten, sondern aus einem anderen Grund. "Keiner der Rebellen ist verhungert", sagt sie aufgebracht. "Sie hatten ihren eigenen Proviant und haben davon niemandem etwas abgegeben. Nicht einmal den Leuten, die im Sterben lagen."

 

Noch ist in Yarmouk nichts entschieden. Wie in anderen Orten auch, die die syrische Armee versucht auszuhungern, laufen Verhandlungen über den Abzug der Rebellen. Das Palästinenserlager in Damaskus soll eine entmilitarisierte, neutrale Zone werden. Die Verhandlungen werden jetzt von den Palästinensern selbst geführt. Aber einfach ist das nicht.

 

"Es gibt so viele verschiedene, bewaffnete Rebellengruppen", sagt Ahmad Majdalani vom Exekutivkomitee der Palästinensischen Befreiungsorganisation, "und keinen bestimmten Ansprechpartner, der die Neutralität des Lagers garantieren könnte." Es habe schon eine Übereinkunft mit neun Gruppen gegeben, aber die sei nun hinfällig, nachdem vier, darunter Jabhat al-Nusra und Isil, nicht abziehen wollten.

 

Das sind keine guten Nachrichten für die Bewohner Yarmouks. Sie werden vorerst weiter vom Assad-Regime wie in einem Gefängnis gehalten. Wann neue Lebensmittellieferungen erlaubt werden, ist völlig ungewiss. Ebenso ungewiss, wie die Dauer des Leids der verzweifelten Palästinenser.