Der Populismus der Mitte

Erstveröffentlicht: 
20.12.2013

Neue Regierung in Deutschland

 

Eric Gujer

 

Alle vier Jahre landen Aliens in Deutschland, veranstalten ein seltsames Ritual namens Bundestagswahl, um dann wieder in den Weiten des Weltalls zu entschwinden. Hört man den Deutschen nach dem Wahltag zu, können sie jedenfalls unmöglich selbst ihr Parlament bestimmt haben. Kaum ist eine neue Regierung gebildet, hagelt es schon von allen Seiten Kritik. Besonders ausgeprägt war dies beim rot-grünen Wahlsieg 1998, nach dem nur wenige Wochen später kaum mehr ein Wähler zugeben mochte, für Gerhard Schröder oder Joschka Fischer votiert zu haben.

 

Auch von der schwarz-roten Koalition heisst es nun allenthalben, sie sei mit ihrem ebenso rückwärtsgewandten wie spendierfreudigen Programm eine einzige Enttäuschung. Die Verantwortung hierfür tragen jedoch keine grünen Männchen vom Mars, sondern die Wähler – und nichts spricht dafür, dass sie nicht genau wussten, was sie am 22. September taten. Sie wollten eine rückwärtsgewandte und spendierfreudige Regierung, die dem Land Zumutungen erspart und den Stillstand verwaltet. Die Deutschen optierten für eine Koalition, die nicht die Zukunft gestaltet, sondern die Früchte eines in Europa fast einzigartigen wirtschaftlichen Wohlergehens hier und jetzt verteilt.

 

An der Spitze des Bündnisses stehen drei Politiker, die am eigenen Leib erfahren mussten, was passiert, wenn man Volkes Willen ignoriert. Angela Merkel mimte kurzzeitig die Radikal-Reformerin, weshalb sie bei den Wahlen im Jahr 2005 um Haaresbreite gegen den eigentlich schon geschlagenen Kanzler Schröder verloren hätte. Sigmar Gabriel räumte 2009 die Scherben zusammen, als die SPD wegen Schröders Hartz-Gesetzen das schlechteste Ergebnis seit Kriegsende einfuhr. Und Horst Seehofer musste zusehen, wie seine Partei in Bayern aus dem Paradies der absoluten Mehrheit vertrieben wurde und am gefühlten Katzentisch eines Koalitionskabinetts Platz nehmen musste. Die drei haben sich geschworen, dass ihnen dies nicht noch einmal widerfährt. Daher betreiben sie eine Politik, die nicht führen will, sondern der Vox populi hinterherläuft. Alle drei unterscheiden sich voneinander, vor allem die still kalkulierende Merkel von den beiden präpotent auftrumpfenden Männern, doch gemeinsam ist ihnen ein ähnliches Politikverständnis.

 

Ein Bündnis für Rentner und Autofahrer

 

Derzeit haben Prognosen Konjunktur, die Rechtspopulisten einen markanten Zuwachs bei den Wahlen zum EU-Parlament und grösseren Einfluss auf die Geschicke Europas vorhersagen. Diese Warnungen sind wohlfeil, denn in Berlin regieren die Populisten bereits. Merkel, Gabriel und Seehofer sind nicht europafeindlich, sie sind weder rechts noch links, sie vertreten vielmehr einen Populismus der Mitte. Dessen hervorstechendes Merkmal ist eine Fähigkeit zu molluskenhafter Anpassung an den gerade herrschenden Zeitgeist. Merkel ist weder Sozialdemokratin noch Grüne, aber sie verleibte sich den gesetzlich verordneten Mindestlohn gleichermassen ein wie den Atomausstieg. Seehofer schliff die letzten konservativen Reste der CSU ab, um sie im Münchner Grossstadtmilieu genauso wählbar zu machen wie in Hundszell oder Miesbach. Gabriel brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig mit dem linken und dem rechten Flügel seiner Partei zu paktieren, um den Aufstieg an die Spitze zu bewerkstelligen. Diese Troika hat die vornehmste wie die billigste Begründung, die ein demokratischer Politiker vorweisen kann: Sie vertritt einen repräsentativen Durchschnitt der Gesellschaft.

 

Der Populismus der Mitte schliesst niemanden aus wie seine rechte Variante, er umarmt vielmehr eine möglichst grosse Zahl von Menschen. Manchmal spielt er allerdings mit dem Instrumentarium der Abgrenzung wie die CSU mit ihrer Forderung nach einer Autobahn-Maut, die sich explizit gegen Ausländer richtet. Seehofer konnte nie ein Konzept vorlegen, wie diese Maut funktionieren soll, er kümmerte sich nicht um die Vereinbarkeit seiner Pläne mit Europarecht, und es ist ihm wohl einerlei, ob er sich damit letztlich durchsetzt. Scheitert Seehofer, hat er sich vor der Europawahl als Streiter wider die Brüsseler Bürokratie inszeniert. Nicht viel besser ist die sozialdemokratische Initiative für eine Vollrente nach 43 Beitragsjahren. Sie unterläuft die von der SPD selbst durchgesetzte Anhebung des Renteneintrittsalters und schert sich nicht darum, dass dies den steuerfinanzierten Zuschuss für die Pensionskassen und die Beitragszahlungen der Erwerbstätigen weiter nach oben treibt. Die Senkung des gerade erst erhöhten Rentenalters ist so unsinnig wie eine Maut, die vielleicht nicht einmal ihre Verwaltungskosten einspielt. Aber man wird kaum jemanden finden, der sich vorhalten lassen will, er sei gegen deutsche Autofahrer oder Rentner.

 

Grosses Palaver, kleinmütiger Komsens

 

Opportunismus ist kein Alleinstellungsmerkmal einer schwarz-roten Allianz. Richtig allerdings ist, dass sich in solch einem Bündnis die Begehrlichkeiten schnell addieren, ohne dass dem Einhalt geboten würde. Jede Partei ist zu schwach, um die Projekte des Partners zu verhindern, aber stark genug, um ihre eigenen Lieblingsideen zu verwirklichen. Dieser Mechanismus macht anfällig für kostspielige Extravaganzen. In einer Runde fast ebenbürtiger Partner kann überdies kein Kanzler unbequeme Entscheidungen in einem einsamem Kraftakt durchsetzen. Der Modus der grossen Koalition ist das grosse Palaver und der kleinmütige Konsens. Ein Korrektiv – sei es durch eine kraftvolle Opposition oder plebiszitäre Elemente – fehlt weitgehend. Wenn der Widerpart fehlt, veröden die politischen Debatten schnell.

 

Eine Regierung mit vier Fünfteln der Mandate im Bundestag ist zwar kein Anschlag auf die Demokratie, wie Linkspartei und Grüne glauben machen wollen. Aber sie balanciert unvermeidlich auf der schmalen Linie, welche die Volksherrschaft von der Diktatur der Mehrheit trennt. Und zwar nicht, weil sie ihre Macht missbrauchen wollte; dies zu unterstellen, wäre absurd, sondern im Gegenteil, weil sie es allen recht machen möchte. Dieser Regierung fehlt die Kraft, das Bedürfnis der saturierten Bundesrepublik nach Stabilität und Sicherheit mit dem raschen Wandel und dem Wettbewerbsdruck der globalisierten Welt ins Gleichgewicht zu bringen. Zeitfragen wie die Überalterung der Gesellschaft finden im Koalitionsvertrag zwar Erwähnung, aber schon die Rentenpolitik zeigt, dass Schwarz-Rot vor langfristigen, wirklich zukunftsfähigen Lösungen zurückschreckt. Um heute niemanden zu verprellen, verschiebt man die Lasten lieber auf morgen. Keine Interessengruppe verärgern, keine Besitzstände antasten, lautet die Devise. In Berlin regiert eine Koalition der Mutlosen.