Damaskus wird brennen

Erstveröffentlicht: 
05.02.2013

 

 In ganz Syrien wird gekämpft. Selbst in der eigenen Wohnung ist niemand sicher. Menschen werden gedemütigt, verschleppt, auf offener Straße getötet. Das ist Syriens Alltag.

 

Fawwaz Haddad in der FAZ

 

Das Wertvollste, was die Revolution den syrischen Schriftstellern und Intellektuellen gegeben hat, war das Gefühl, dass sie zum ersten Mal ein Teil jener Menschen wurden, über die sie immer geschrieben hatten. Nichts unterscheidet sie heute mehr von ihnen. Alle Menschen in Syrien teilen dasselbe Schicksal und erleben dieselben Gefahren: verdächtigt, verfolgt, verhaftet, erschossen zu werden. Und alle unterliegen im Alltag denselben Beschwernissen. In Damaskus allein wird man heute an 370 Kontrollpunkten durchsucht, und auf insgesamt neunzig Hochhäusern in der Stadt stehen Scharfschützen, denen man jederzeit zum Opfer fallen kann. Als Passant kann man an jeder Straßenecke in wilde Gefechte zwischen Regierungsmilizen oder Soldaten und Anhängern von Revolutionskomitees geraten und dabei zufällig von einer Kugel getroffen werden.

 

Die Schriftsteller erwachen morgens genau wie alle anderen Bürger vom Lärm donnernder Artillerie und der Raketenwerfer. Was nicht heißt, dass nachts nicht gekämpft würde und man schlafen könnte. Irgendwann fällt man in Schlaf, trotz des Gefechtslärms, aber zu welcher Zeit man schlafen kann und wann man aufwacht, kann man nie wissen. Seit die Freie Syrische Armee das Umland von Damaskus kontrolliert und deren Kämpfer in die Randbereiche der Hauptstadt vordringen, sind Luftangriffe und Explosionen zu gewohnten Geräuschen geworden.

 

An jedem Checkpoint stehen ihre Namen auf den Listen
Anfangs schreckten die Damaszener noch in Panik auf, niemand wusste, ob er selbst gleich getroffen würde oder die Granaten über sein Haus hinwegfliegen würden, denn der Gipfel des Qasiyun-Berges über der Stadt ist zu einer Raketenabschussrampe umfunktioniert worden. Von hier schießt das Militär in Richtung der Vororte Mazze, Daraya, Muadhamiye und Jdeidet Artouz. Die Raketen sind so laut, dass man in der Stadt das Gefühl hat, sie flögen einem gleich durchs Fenster.

 

Diejenigen syrischen Schriftsteller, die sich zur Revolution bekannt haben, leben heute entweder in einem der befreiten Gebiete Syriens oder im Ausland. Die übrigen - auch wenn sie sich nicht öffentlich geäußert haben - sind still geworden und bewegen sich mit äußerster Vorsicht. Sie leben an geheimen Orten oder arbeiten im Untergrund mit Aktivisten der lokalen Koordinationsräte des jeweiligen Stadtteils oder Dorfes zusammen. Sie schreiben über die Revolution, manche unter ihrem wirklichen Namen, manche unter Pseudonym, sie beschreiben die unsäglichen Methoden, mit denen das Regime gegen die Menschen vorgeht. Einfach durch die Straßen laufen können sie nicht, denn an jedem Checkpoint stehen ihre Namen auf den Listen der gesuchten Personen.

 

Das Regime setzt auf Freiwillige
Der syrische Zweig der Arabischen Schriftstellerunion ist abgetaucht und irrelevant. Er hatte sich nie zu einem klaren Standpunkt bekannt, allenfalls zu Beginn noch schüchtern zu Waffenruhe und Dialog aufgerufen. Mittlerweile unterstützt die Schriftstellerunion offiziell die militärische Lösung. Diejenigen Kollegen, die sich öffentlich zum Regime bekannt haben, tun jetzt, was von ihnen verlangt wird: Sie verteidigen verbissen das Regime, indem sie mit einer Verschwörung aus dem Ausland argumentieren, die auf das säkulare, fortschrittliche, die Minderheiten beschützende System ziele.

 

So reden die, die unmittelbar für den Staat arbeiten; viele von ihnen sind bei staatlichen Zeitungen oder Fernsehsendern angestellt. Aber weil sie nicht zahlreich sind, stützt sich das Regime bei seiner Propaganda auf Freiwillige, die der Geheimdienst aufgrund früherer vertrauensvoller Zusammenarbeit empfiehlt: einige Universitätsdozenten, libanesische Politprofis und junge Leute, die in der Baath-Partei oder einer ihrer Unterorganisationen geschult wurden, kurzum: Leute, die gerne im Rampenlicht stehen und deren politische Analysen man jetzt gerne in Anspruch nimmt. Sie verdrehen die Fakten und bekommen dafür bewaffneten Personenschutz, viel Geld und das Versprechen auf lukrative Posten.

 

Menschliche Schutzschilde wider Willen
Die syrischen Schriftsteller leben in einem Belagerungszustand. Ihr Aktionsradius ist äußerst eingeschränkt; Sicherheitsmaßnahmen erlauben ihnen oft nicht einmal, das Nötigste für ihre Familien zu besorgen. Wo das Regime die Kontrolle hat, kann man aufgrund des geringsten Verdachts jederzeit verhaftet werden. Niemand kann mehr seinen alten Gepflogenheiten nachgehen, man kann nur noch im Stundentakt die Nachrichten verfolgen. Man informiert sich über diplomatische Initiativen zur Überwindung der festgefahrenen Situation, man sieht Fernsehbilder, die über Satellitensender ausgestrahlt werden, und man kontaktiert Freunde, Bekannte und Verwandte über Facebook und Skype, wenn gerade Strom da ist. Doch der fällt ständig und so unregelmäßig aus, dass niemand vorhersagen kann, ob er in ein paar Minuten, Stunden oder Tagen wiederkommt.

 

Für mich waren diese Kommunikationskanäle bis zuletzt ein Ersatz für persönliche Begegnungen, die nicht mehr oder kaum noch möglich sind. Früher war ich innerhalb einer halben Stunde im Café Havanna oder im Café Raudha, um mich mit einem Freund zu treffen. Im zweiten Jahr der Revolution dauerte es drei Stunden oder länger, dorthin zu kommen. Die meisten Straßen in Damaskus sind für den Autoverkehr gesperrt worden, vor allem jene, an denen staatliche Gebäude oder Sicherheitseinrichtungen liegen. Die dadurch entstehenden Staus werden noch durch Checkpoints verstärkt, an denen so viele Autos warten, dass die dort kontrollierenden Soldaten durch menschliche Schutzschilde vor Angriffen durch Rebellen geschützt sind. Niemand kann Termine vereinbaren oder einhalten. Die Cafés selbst sind voller Spitzel, die mit ihren Mobiltelefonen Fotos machen, die sie ihren Berichten beilegen. Geheimdienstler und Schabbiha-Milizen haben schon mehrfach Cafés gestürmt und Gäste verhaftet, nur weil jemand behauptet hatte, er habe eine gesuchte Person unter ihnen gesichtet.

 

Solidarität als Verdienst der Revolution
Der blutige Wahnsinn des Tötens verfolgt mich bis in den Schlaf. Es sind Albträume bei Tag und Albträume bei Nacht. Dennoch kann ich nie genug von den Nachrichten bekommen. Die Revolution findet in ganz Syrien statt, hier mal weniger, dort mal mehr: in Damaskus, in Homs, in Hama, in Aleppo, in Daraa, in Idlib und in Deir az-Zor, und dazu im jeweiligen Umland, in Dörfern, von denen wir nie zuvor gehört hatten und die sich plötzlich aus der Vergessenheit erheben. Menschen, die dort friedlich demonstrieren, dominieren plötzlich die Nachrichtensendungen. Die Beharrlichkeit der Menschen ist verblüffend, ebenso ihre Gewitztheit, ihre bis hin zur Lebensgefahr reichende Solidarität mit anderen aufständischen Gebieten und ihre Parole: „Das syrische Volk ist eins!“

 

Dass wir uns zuvor unbekannte Regionen Syriens entdeckt und uns als Syrer gegenseitig kennengelernt haben, ist ein Verdienst der Revolution. Wir haben gelernt, welch ein starkes Bewusstsein in allen Schichten der syrischen Gesellschaft verankert ist und wie verantwortlich, aufrichtig, selbstlos und solidarisch viele Menschen sich verhalten. Zugleich trat zutage, zu welchen Leistungen Menschen fähig sind, die sich nicht mit ihrer persönlichen Tragödie aufhalten, auch wenn sie Vater, Kind oder Ehefrau verloren haben.

 

Flucht nach Damaskus
In ganz Syrien wird gekämpft. In den eigenen vier Wänden ist niemand sicher. Jede Wohnung kann jederzeit von Regierungssoldaten, Sicherheitskräften oder Schabbiha-Milizen gestürmt werden, eine Granate kann durch die Balkontür fliegen oder durchs Dach brechen, wie es vor einigen Monaten im achten Stock meines Wohnhauses der Fall war. Überall kann man ums Leben kommen oder so verletzt werden, dass man eine dauerhafte Behinderung davonträgt: sei es durch einen Bombenanschlag an der nächsten Straßenecke oder durch Wegelagerei; jeder Müllcontainer, jedes am Straßenrand abgestellte Auto könnte im nächsten Augenblick in die Luft fliegen.

Syrien erlebt einen Krieg, der zum größten Teil auf dem Land beziehungsweise in jenen Städten tobt, denen es gelungen ist, sich der Revolte anzuschließen, und die Deserteure der Armee bei sich aufgenommen haben. Unterschiede bestehen allenfalls im Ausmaß der systematisch angerichteten Zerstörungen, der Zahl der Gefallenen und Vertriebenen. Der größte Teil der Wohnviertel von Homs etwa ist zerstört, die Bewohner der Stadt sind geflohen und leben nun zu Tausenden in Damaskus, wo sie, je nach ihren Verhältnissen, Wohnungen gemietet haben oder in Parks, Schulen und Bunkern leben müssen. Auch hier werden sie von Soldaten und Regierungsmilizen gejagt. Insgesamt mussten Hunderttausende von Syrern ihre ruinierten Häuser verlassen und entweder im Landesinneren Zuflucht suchen oder in eines der Nachbarländer fliehen. Viele sind obdachlos und irren von einem Ort zum anderen.

 

Das Dilemma der Soldaten
Alle, auch die brutalsten Mittel der Kollektivbestrafung werden ausgeschöpft. Bäckereien werden aus der Luft bombardiert, wenn Menschen dort um Brot anstehen, Tankstellen werden angegriffen, wenn Menschen darauf warten, Benzin zu bekommen. Der Blutzoll unter Zivilisten ist immens. Die Welt sieht, welches Unglück die Menschen in Syrien erleben.

 

Damaskus war ehemals eine friedliche, sichere und ruhige Stadt. Wer heute durch die Straßen der syrischen Hauptstadt geht, möchte glauben, dass diese Zeiten niemals wiederkehren werden. Man wähnt sich mitten in einer Kaserne, und der Anblick hoher Betonmauern, aufgeschichteter Sandsäcke und zahlloser Kampfmonturen ist unerträglich. Soldaten halten einen rüde an, pöbeln und provozieren auf gröbste Weise und verlangen mit vorgehaltener Waffe den Ausweis. Eine Besatzungsarmee. Viele leisten nur ihren Wehrdienst ab, und man sieht ihnen an, dass sie nicht gerne tun, was sie tun. Sie sind freundlich, sprechen in schüchternem Tonfall und sind von Hitze oder Kälte, manche auch durch Hunger, geschwächt. Man ist froh, wenn man an einen von diesen gerät, und es sind nicht einmal wenige. Sie sind von beiden Seiten in Lebensgefahr: von Seiten ihrer Offiziere, falls diese an ihrer Loyalität zweifeln, und von Seiten der Revolutionäre, für die sie feindliche Soldaten sind.

 

Der Staat züchtet hasserfüllte Milizen heran
Damaskus ist eine besetzte Stadt, sie ist eine Geisel des Regimes und kann jederzeit der Zerstörung anheimfallen. Freude zeigen nur noch die Unterstützer des Regimes, die mit endlosen Gewehrsalven jede Rede ihres Präsidenten feiern. Auf Armeefahrzeugen steht „Assad und sonst keiner“ oder „Assad oder wir brennen das Land ab“. Die Soldaten skandieren: „Gott, Syrien, Baschar und sonst nichts!“ Luftangriffe, Bomben, Explosionen, russische MiG- und Sukhoi-Flugzeuge donnern über den Himmel, und man sieht mit bloßem Auge, wie sie ihre Raketen auf Häuser abfeuern, die kurz darauf in Rauch aufgehen. Kurz darauf flehen Minarette durch die Schwaden hindurch den Himmel um Beistand an. Helikopter schweben in der Luft, nur um plötzlich herabzustürzen und die Gärten und Felder außerhalb der Stadt zu durchkämmen, und was so aussieht, als würden Insektizide versprüht, ist in Wirklichkeit der Beschuss von allem, was sich bewegt. Die Straßen, Gassen, Plätze und Märkte teilen sich Revolutionäre der Koordinationsräte einerseits und Schabbiha-Milizen mit schweren Waffen und Munitionskisten andererseits. Letztere sitzen auf geplünderten Stühlen und Sofas herum, trinken Tee und rauchen Wasserpfeife. Auf den Hauswänden hinter ihnen steht: „Die Schabbiha sind dir auf ewig ergeben, Assad!“

 

Schreiben heißt für den Autor dieser Zeilen leben. Aber die gegenwärtigen Umstände lassen mich weder schreiben noch leben. Keine Nachrichtensendung vergeht, ohne dass man sieht, wie Häuser, Bäckereien, Moscheen und Kirchen zerstört werden. Scharfschützen verschonen weder Kinder noch Frauen, noch alte Menschen, Bomben fallen auf Felder, Bäume und Vieh. Solche Szenen blockieren jede Inspiration, und sie setzen sich so in den Gedanken fest, dass man sie beim Nachdenken nicht mehr ausblenden kann. Was sich vor meinen Augen entfaltet, übertrifft alles, was ich mir jemals hätte vorstellen können. Ein Staat züchtet hasserfüllte Milizen heran, die Armee meines Landes, die allzeit „Beschützer der Häuser“ genannt wurde, verkommt zu einer Bande von Räubern, die die Häuser und Läden ihrer Bürger ausplündern und deren Habe auf eigens dafür geschaffenen Märkten verkaufen. Mörder- und Diebesbanden entführen in dem vom Regime willentlich geschaffenen Chaos Bürger und verlangen Lösegeld für sie, ohne dass die Zahlung eine Rückkehr der Entführten garantierte.

 

Als Nächstes wird die Hauptstadt niedergebrannt
Ob man als Schriftsteller wegen seiner Haltung nun bedroht wird oder nicht, man kann nicht ignorieren, wenn das eigene Land in einer Tragödie versinkt. Syriens Bewohner drohen in einander bekämpfende Gruppen zu zerfallen, ja das Land könnte sich in verfeindete Kleinstaaten auflösen. Man hat Angst vor dem, was noch geschieht, man versucht es vorauszuahnen und erwartet nur Schlimmeres. Als Autor fehlt einem das Wichtigste, was man zum Schreiben braucht: Konzentration. Etwas zu schreiben wäre wie ein wenig reine Luft atmen, um weiterleben zu können, aber das Schreiben ist sehr mühsam geworden. Wenn man zum ohnmächtigen Zeugen der Zerstörung der eigenen Gesellschaft, ihres Geistes und ihres Ethos wird, ist Schreiben keine Kurzweil mehr, sondern eine Qual. Und doch versucht man es.

 

Die Freunde werden immer weniger. Manche sind in Haft, andere tot, wieder andere leben versteckt oder haben sich in ihre Wohnung zurückgezogen, die sie nur noch verlassen, wenn es unbedingt sein muss. Andere sind vor Schmerz darüber, dass ihr Land Selbstmord begeht, gestorben. Und die, denen es gelungen ist, sich ins nähere oder fernere Ausland abzusetzen, bereuen auch dies. Sie vermissen ihre Angehörigen, ihre Freunde und die vertraute Umgebung. Wir alle vermissen Syrien, auch wenn unsere Städte, Dörfer und Häuser niedergebrannt sind, auch wenn unsere Hauptstadt als Nächstes niedergebrannt werden wird. Damaskus wird brennen.

 

Folter und Mord an Schriftstellern
Vor der Revolution lebten die syrischen Schriftsteller in einem Gefängnis von der Größe Syriens. Sie konnten ihre Meinung nicht äußern und ihre Bücher nicht im Inland verlegen. Die meisten ließen ihre Bücher und Artikel in Beirut veröffentlichen. Nun ist das damals noch virtuelle Gefängnis zu einem wirklichen geworden - aber es wird kleiner, denn Syrien befreit sich nach und nach, die befreite Fläche wächst, auch wenn dies mit Strömen von Blut erkauft wird.

 

Dem Regime ging es zwar immer vorrangig darum, Deserteure und bewaffnete Revolutionäre zu erledigen, aber es tolerierte zu keinem Zeitpunkt friedliche Demonstranten, Oppositionelle und rein humanitär arbeitende Schriftsteller. Mehrere Verhaftungen von Wissenschaftlern und Autoren wurden in letzter Zeit bekannt. Unter ihnen war der Romanautor Ibrahim al-Kharit. Nach seiner Festnahme wurde er vor den Augen seiner Familie auf offener Straße hingerichtet und sein Sohn mit ihm. Der Leichnam des Erzählers Rashid al-Ruwaili wurde in verwestem Zustand gefunden, zwei Monate nachdem er im Zuge der Invasion der Armee in seiner Heimatstadt Deir az-Zor entführt worden war. Muhammad Nimr al-Madani, Autor und Wissenschaftler, verstarb unter der Folter in einem Haftlager des Geheimdienstes. Die Genannten waren mit nichts bewaffnet als mit Schreibfedern, und ihr Verbrechen bestand in nichts anderem, als dass sie friedlich demonstriert oder humanitäre Nothilfe geleistet hatten. Zu viel für ein Regime, das Botmäßigkeit erwartet von Mitgliedern einer Schriftstellerunion, die dem Staat und der regierenden Baath-Partei untersteht.

 

Das Wegsehen der Welt bringt Terroristen hervor
Syrien hatte nie ein gnadenloseres Regime als dieses. Und wenn es behauptet, es kämpfe gegen Terroristen und islamische Extremisten, dann bleibt festzuhalten, dass es sein Volk schon seit vier Jahrzehnten terrorisiert. Der Vorwand des Kampfes gegen den Terror soll nur dazu herhalten, Amerika und Europa davon zu überzeugen, es gehe um einen gemeinsamen Feind. Die Freie Syrische Armee ist nicht terroristisch, sondern ein Teil des Volkes. Sie besteht im Wesentlichen aus desertierten Regierungssoldaten, die sich geweigert haben, auf Zivilisten und Unbewaffnete zu schießen. Islamistische Kämpfer aus Nachbarländern oder sonst woher zählen nicht mehr als zweitausend. Sie bekämpfen das Regime, weil sie glauben, ihr Glauben verlange von ihnen einen solchen Dschihad, und weil sie ihren muslimischen Brüdern gegen einen Tyrannen beistehen wollen.

 

In einer kleinen Ortschaft in Nordwestsyrien namens Kafrunbul zeigen junge Leute ein ungeahntes kreatives Talent und haben es damit zu großer Berühmtheit gebracht. Seit Beginn der Revolution fertigen sie großformatige Karikaturen und beschriften Transparente und geben damit dem Volksempfinden Ausdruck. „Wenn die Welt wegsieht, werden die Syrer zu Terroristen“ war auf einem zu lesen. Und sie haben recht. Das Zaudern der Weltöffentlichkeit und ihr Verleugnen der syrischen Revolution kann friedliche Menschen so verzweifelt machen, dass sie zu Selbstmordattentätern werden. Wenn ein Volk so allein gelassen wird, dann ruft es aus tiefster Seele: „Uns bleibt nur noch Gott!“ Was soll die Syrer noch davon abhalten, sich Dschihadisten anzuschließen? Diejenigen aber, die Angst vor der Ausbreitung des Terrors haben, tragen durch ihre Tatenlosigkeit dazu bei, dass er genährt wird. Die Mordmaschine des Regimes hätte es nicht vermocht, das syrische Volk weiter abzuschlachten, wenn der Westen der festen Überzeugung gewesen wäre, dass humanitäre Erwägungen es nicht zulassen, dem Mörder Fristen einzuräumen, damit dieser seine Verbrechen weiterbegehen kann.

 

Im Krieg sind Zufälle meist tödlich
Die Syrer fühlen sich heute an das Massaker von Hama 1982 erinnert, zu dem die internationale Gemeinschaft ebenfalls schwieg. Zehntausende Bewohner der Stadt Hama kamen ums Leben, als der Vater des heutigen Präsidenten Syrien auf eine Weise bestrafte, die dem Land vier Jahrzehnte lang die Luft nahm. Aber die Söhne ordnen sich heute nicht mehr unter, wie es ihre Väter taten, auch dann nicht, wenn die Welt sich zum Komplizen der Verbrecher macht, und sei es nur durch Wegsehen und Schweigen oder indem sie es bei Drohungen belässt. Diese Revolution wird weitergehen.

Seit Beginn der syrischen Revolution habe ich diese in mehreren Artikeln für die arabische Presse unterstützt. Eineinhalb Jahre später habe ich Syrien verlassen, nicht weil ich direkt bedroht wurde, sondern weil eine Einschätzung dessen, was mir passieren würde, nicht mehr möglich war. Wer in Syrien verhaftet wird, egal wie alt man ist, welche Stellung oder welche Arbeit man hat, geht einem völlig ungewissen Schicksal entgegen. Alles hängt dann nur noch von Glück und Zufällen ab, wobei in barbarischen Kriegen Glück nicht existiert und Zufälle meist tödlich sind.

 

Die Medien zeigen nur einen Bruchteil der Grausamkeit
Seit Beginn der Proteste lebte ich in einer Schleife aus nervenaufreibenden Nachrichten und Bildern von jungen, aus dem Leben gerissenen Märtyrern, die ihr Studium für die Revolution geopfert hatten, von ganzen Familien, die unter Trümmern begraben wurden, von standrechtlich erschossenen Aktivisten, von totgetrampelten Häftlingen und solchen, denen man die Köpfe mit Steinen zertrümmert hat, von freiwilligen Sanitätern und Helfern, die erst festgenommen und dann tot aufgefunden wurden, von Kindern, die vorsätzlich von Scharfschützen getötet wurden, von verletzt auf der Straße liegenden Frauen, denen aus Angst vor Beschuss niemand zu Hilfe kommt. In Syrien kann sich glücklich schätzen, wer auf einem Friedhof oder in einer Grube beerdigt und nicht auf der Straße liegend von Hunden aufgefressen wird.

 

Ich bin gegangen, weil ich mich gelähmt, erstickt und eingeengt fühlte. Ich brauchte Abstand zu der Zerstörung, die mein Land erlebt, in der Hoffnung, vielleicht doch noch etwas schreiben zu können. Das Geschehen ist so schrecklich, dass man es nicht unkommentiert lassen kann, und die Szenerie ist so abgründig, dass nichts mehr undenkbar erscheint. Vielleicht kann ich einer derer sein, die es aufschreiben. Wenn ich in der Lage bin, das Recht meines Volkes auf Freiheit und ein Leben in Würde zum Ausdruck zu bringen, dann möchte ich dies mit diesem Essay tun. Ich verteidige ein Volk, das ein Regime den Schlächtern seines Sicherheitsapparates überantwortet hat, das es an Mörder einer dogmatischen Armee und an blutrünstige Milizen ausgeliefert hat. Wenn ich sage, dass das, was in den Medien zu sehen ist, nur ein Bruchteil dessen ist, was in Syrien tatsächlich geschieht, dann nicht, um Zustimmung und Mitgefühl zu erheischen. Es reicht zu berichten, dass Scharfschützen Väter töten, die sich mühen, ein paar Scheiben Brot zu erstehen, dass sie frierende Kinder genauso erschießen wie deren Mütter bei dem Versuch, sie zu retten.

 

Der Westen zwischen Gerechtigkeit und Heuchelei
Es ist bedauerlich, dass die internationale Politik unsere Revolution so opportunistisch und interessengeleitet betrachtet, dass sie nichts dabei findet, ein ganzes Volk Tod und Flucht zu überlassen, und dass sie nicht den Versuch macht, zu sehen, dass in Syrien eine Revolution gegen eine Tyrannei stattfindet. Die Politik achtet nicht auf die täglich verübten Massaker, auf bisher 60000 Tote, auf die Hinrichtung von Männern vor den Augen ihrer Familie, auf die Vergewaltigung von Mädchen im Beisein ihrer Mütter, auf den Beschuss mit Raketen, auf blutgetränkte Brotlaibe, die auf dem Asphalt liegen, auf Videos, in denen sich das Regime damit brüstet, wie einfallsreich seine Schabbiha-Milizen morden und Leichname schänden, und die allein schon die Barbarei und Brutalität seiner Tyrannei belegen.

 

Wir Syrer werden nicht vergessen, dass der Westen sich blind gestellt hat.