[S] SS-Opfer wird nicht empfangen

Erstveröffentlicht: 
30.01.2013

Enrico Pieri, einer der wenigen Überlebenden des SS-Massakers in Sant'Anna di Stazzema, wird am Donnerstag zusammen mit der Anwältin Gabriele Heinecke Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen durch den Stuttgarter Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler einlegen. Obwohl die Entscheidung 2012 vom italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano kritisiert worden war, wird Pieri in Deutschland weder von einem Repräsentanten der Landesregierung empfangen noch von einem der Generalstaatsanwaltschaft.

 

 

Nicht nur Pieri selbst ist darüber enttäuscht, sondern auch seine Unterstützer in Baden-Württemberg. "Wir haben uns an Ministerpräsident Kretschmann mit der Bitte um einen Empfang gewandt", berichtet der Tübinger Studiendirektor Eberhard Frasch. Doch das Staatsministerium habe nicht einmal geantwortet. Der Ministerpräsident hätte auch einen Vertreter damit beauftragen können, sagt der Historiker, der kürzlich mit einer Gruppe aus Stuttgart das Bergdorf in der Toskana besucht hatte. Prädestiniert wäre Justizminister Rainer Stickelberger gewesen, der oberste Dienstherr der Staatsanwaltschaft. Doch der Sozialdemokrat hatte es schon bei der Verkündung der Einstellung des Verfahrens im Oktober 2012 nicht für nötig gehalten, die italienischen und deutschen Medien über eine Pressekonferenz zu informieren.

 

Keine Antwort von Kretschmann

Eberhard Frasch hatte auch Fritz Kuhn, den neuen Oberbürgermeister von Stuttgart, darum gebeten, den betagten Gast aus Italien zu begrüßen. Erst in letzter Minute kam eine Antwort. Kuhn hat damit Krankenhaus-Bürgermeister Werner Wölfle (Grüne) beauftragt. Die beiden Vorgänger des grünen OBs, vor allem Oberbürgermeister Manfred Rommel, hatten immer wieder überlebende Opfer des NS-Terrors mit Bezug zu Stuttgart eingeladen, teilweise auch selbst empfangen.

Die Empörung in Italien über die Einstellung des Verfahrens ist nach wie vor groß. Schließlich wurden zehn SS-Männer 2005 in Abwesenheit schuldig gesprochen. "Das Urteil ist bis in die letzte Instanz bestätigt worden. In Deutschland scheitert ein Verfahren schon an der untersten", resümiert der Kölner Historiker Carlo Gentile, der die Argumentation von Bernhard Häußler für historisch nicht haltbar hält. Die Begründung des Oberstaatsanwalts: Eine von vornherein geplante Vernichtungsaktion gegen die Zivilbevölkerung sei nicht belegbar, ebenso wenig ein "individueller Schuldnachweis".

 

Paolo Pezzino: Massaker war geplant

Inzwischen hat auch der italienische Historiker Paolo Pezzino die 155-seitige Einstellungsverfügung Häußlers geprüft, mit Zeugenaussagen und der italienischen Rechtsprechung verglichen. In seiner Expertise hält er fest, dass das Massaker, bei dem mehrere Hundert Kinder, Frauen und Alte ermordet wurden, sehr wohl geplant war. Soldaten seien keine "Roboter", die blind den Befehlen ihrer Vorgesetzten gehorchen müssten. Sie seien also sehr wohl verantwortlich für ihr Handeln, das Zeugen konkret beschrieben haben. So der Hauptgefreite Ludwig Göring: "Nach dem Befehl, das Feuer zu eröffnen, schoss ich auf die Frauen. Danach verteilten zwei bis drei Männer Benzin auf den Kadavern und zündeten sie an." Wie alle anderen in Italien Verurteilten hat Göring nicht einen Tag im Gefängnis gesessen.

Paolo Pezzino, der Mitglied der deutsch-italienischen Historikerkommission ist, beschreibt detailliert, was damals am 12. August 1944 in dem toskanischen Bergdorf geschehen ist. Kontext veröffentlicht seine Arbeit exklusiv. Die Übersetzung hat Kontext-Autor Sandro Mattioli geleistet, der für Kontext auch über den Besuch der Stuttgarter Delegation in Sant'Anna berichtet hatte.

 

Pezzonis Einschätzung erscheint Anfang Februar in Italien in der Neuauflage seines Buches "Erinnerung und Massaker: Betrachtungen zu Sant'Anna di Stazzema". Das neue Kapitel trägt die Überschrift "Die Toten von Sant' Anna finden keinen Frieden".

 

 

Weiter Informationen gibt es hier:

"Ich mache weiter", ein Interview mit dem italienischen Militärstaatsanwalt Marco De Paolis.

Reine Rache, ein Interview mit Gabriele Heinecke, der Anwältin des Überlebenden Enrico Pieri.

Neuer NS-Prozess?, ein Bericht über die Sant'Anna-Ermittlungen von Oberstaatsanwalt Häußler.