Ohne Herr und Hund

Erstveröffentlicht: 
12.08.2012

Anarchisten-Treffen im Jura

 

In Saint-Imier diskutieren linke Libertäre aus der ganzen Welt die Möglichkeiten einer freiheitlichen Gesellschaft. Hier gründete Bakunin vor 140 Jahren zusammen mit Uhrenarbeitern die internationale anarchistische Bewegung.

 

Urs Hafner, Saint-Imier

Im Festsaal des Gemeindehauses kommt es zum Eklat. Erst interveniert ein Mann, weil ihm die langfädigen Ausführungen seiner Vorredner, durchwegs ältere Anarchosyndikalisten wie er, nicht passen. Die Differenzen, die sich am Thema «Anarchismus und politische Innovation» entzünden, sind für Aussenstehende nicht leicht nachvollziehbar. Weit kommt der Mann, der noch viel sagen wollte, nicht: Eine Frau, die zur Erleichterung des grössten Teils des Publikums auf ihrem Rederecht beharrt, wendet sich gegen die männliche Dominanz. Doch bevor sie geendet hat, verlässt der Unterbrochene mit zwei Getreuen den Saal, laut schimpfend. Die jungen Anwesenden sind baff. Nach einer Schrecksekunde schwellen empörte, aufgeregte Diskussionen an, in denen die Beschwörung des anarchistischen Kampfs untergeht, die der Hauptredner abschliessend ins weite Rund schmettern will. Willkommen am Anarchistenkongress!

 

Friedfertige Gesellschaft

Von Mittwoch bis Sonntag treffen sich im 4800 Einwohner zählenden Saint- Imier im Berner Jura nach Schätzung der Organisatoren rund 3000 linke Libertäre aus der ganzen Welt. Sie schauen sich unter erstaunlich grosser medialer Anteilnahme alte Filme und neue Bücher an, hören Musik, tanzen, trinken, essen und diskutieren über die Finanzkrise, Syrien, Sport und den Balkan, über Urbanisierung, Landbesetzung und Polizeigewalt, über die anarchistischen Klassiker, Immigration und Ökologie – und natürlich immer wieder über die Verwirklichung der anarchistischen, also herrschaftsfreien Gesellschaft. Ihre Vision: ein Leben ohne soziale Klassen, ohne Staat und Armee, ohne Hierarchien, Gott und Autoritäten, ohne Privateigentum – eine friedfertige Gesellschaft, in der sich die Einzelnen frei und autonom zu Genossenschaften und Gewerkschaften zusammenschliessen, die wiederum föderalistisch kooperieren. Endlich wird sich jeder zwanglos entfalten können. Willkommen im Paradies!

Die hauptsächlich von Pierre-Joseph Proudhon, Michail Bakunin und Peter Kropotkin ausgearbeiteten Theorien des Anarchismus sind ein Produkt des an weltanschaulichen Entwürfen reichen 19. Jahrhunderts. Ab 1840 veröffentlicht Proudhon, ein französischer Schriftsetzer, seine Schriften gegen das Privateigentum («Eigentum ist Diebstahl»), mit denen bald darauf Bakunin in Kontakt kommt – in der Schweiz. Die Republik nimmt um die Mitte des 19. Jahrhunderts Freigeister und Verfolgte grosszügig auf, denn kämpfen sie im monarchischen Europa nicht für das, was die Schweiz, die freiheitliche Insel, bereits verwirklicht hat?

Bakunin, Offizier, Mathematiker und Sohn eines russischen Landadligen, lernt sozialistische Flüchtlinge aus Deutschland kennen, taucht ein in den Strudel der in ganz Europa ausbrechenden und niedergeschlagenen Revolutionen, eilt rastlos von Schauplatz zu Schauplatz, wird verhaftet und nach Sibirien verbannt, von wo er in die Vereinigten Staaten flieht und schliesslich wieder in die Schweiz zurückkehrt. Der Berufsrevolutionär ist auf einem Berner Friedhof begraben.

 

Gegen Marx

1872 schlägt in Saint-Imier die Geburtsstunde der internationalen anarchistischen Bewegung: Bakunin gründet zusammen mit einigen Freunden und jurassischen Uhrmachern, darunter James Guillaume und Adhémar Schwytzguébel, die Antiautoritäre Internationale. So minoritär die Anarchosyndikalisten in der Arbeiterbewegung auch sind – sie halten auf die mehr denn je brennende Frage nach der Revolution eine ganz andere Antwort bereit als die Marxisten: Die Revolution ist möglich, und zwar hier und jetzt! Für Bakunin ist Marx ein autoritärer Zentralist, der viel zu umständlich und sowieso zu wissenschaftlich vorgeht. Für Marx dagegen, der Bakunin soeben aus der Ersten Internationalen ausgeschlossen hat, sind die Anarchisten ungeduldige Phantasten und kleinbürgerliche Pseudorevolutionäre, die weder von Politik noch von Ökonomie einen Schimmer haben. Wie nur soll man eine Revolution machen, ohne dabei Autorität anzuwenden?

Durch die Spaltung der Arbeiterbewegung gerät das rasant wachsende Industriestädtchen, in dem Uhrenmarken wie Longines, Breitling, Heuer und Léonidas entstehen, in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Die von der Antiautoritären Internationalen herausgegebene Zeitschrift wird auch in den Vereinigten Staaten gelesen. Im Jura entsteht in den 1870er Jahren eine lebendige anarchosyndikalistische Szene. Vielleicht war, abgesehen von den nicht sozialstaatlich abgefederten Arbeitsbedingungen jener Zeit, die stille Tätigkeit der Uhrmacher dem Sinnieren über den besseren Aufbau der Welt förderlich? Vielleicht dachten sie, wenn sie stundenlang konzentriert über Federn, Schräubchen und Zahnrädchen gebeugt sassen, über die Gerechtigkeit nach, die nicht erst im Jenseits, sondern bereits auf Erden verwirklicht werden müsse, und machten sich ans Werk.

 

Ruch der Gewalt

Um 1880 wird die jurassische Uhrenindustrie von einer schweren Krise getroffen. Mit ihr verschwinden viele der anarchosyndikalistischen Bewegungen, auch die Internationale löst sich auf. Zudem verstärkt sich, auch auf Betreiben der ausländischen Mächte, der Druck der Polizei; revolutionär gesinnte Ausländer werden vermehrt ausgewiesen. Zur Schwächung des Anarchismus tragen schliesslich die Attentate bei – die «Propaganda der Tat» –, die Fanatiker Ende des 19. Jahrhunderts auf Adel und Bürgertum verüben. Deswegen ist der Anarchismus bis heute vom Ruch der Gewalt umgeben. 1894 heisst das eidgenössische Parlament das Anarchistengesetz gut, das die Verfolgung anarchistischer Straftaten erleichtern soll.

Auch wenn sich der Anarchismus vor allem in der Westschweiz, in Südeuropa und in Lateinamerika bis heute marginal gehalten hat – seine produktive Zeit scheint vorbei. Daran wird auch der bunte Kongress in Saint-Imier nichts ändern, an dem nostalgische Achtundsechziger und junge Punks, Hausbesetzer und Studenten mit ernsthaften blassen Gesichtern versuchen, miteinander ins Gespräch zu kommen über eine bessere Welt jenseits des Kapitalismus – und an dem keine Hunde zugelassen sind: «No dog, no master.»

 

Nichts zahlen

Analytisch haben die Anarchisten nicht mehr anzubieten als die Antiglobalisierungsbewegungen. Fragt man den theoretisch versierten Mitorganisator Aristides Pedraza nach dem Unterschied zu Attac, sagt der Lehrer und Gewerkschafter, die Libertären seien grundsätzlicher und stünden den Leuten im alltäglichen Überlebenskampf bei. Zur Schuldenkrise sagt er: «Wir werden keinen Rappen bezahlen!» Und das an die Journalisten verteilte Blatt, das den Anarchismus definiert, klingt wie ein Katechismus.