Die Revolution beginnt vor dem eigenen Zelt

Erstveröffentlicht: 
13.08.2012

Von Bettina Hoyer, Saint-Imier

 

Auch Anarchisten haben Probleme mit der Selbstorganisation


Diskutierend und feiernd ergründeten beim »Welttreffen der Anarchisten« in Saint-Imier mehr als 3000 Menschen die Idee einer freiheitlichen Gesellschaft. Die »soziale Revolution« von heute beginnt vor dem eigenen Zelt.

 

Erst bimmelte es sehr weit weg, dann direkt hinter den hohen Tannen. Das unrhythmische Geschepper kam langsam, aber stetig näher. Wenig später zupfte eine braun-weiß gescheckte Kuh mit einer Glocke um den Hals saftig grünes Gras vom Wegesrand, begleitet von vielen Gefährtinnen. Mit weiteren Glocken. An ein Nickerchen auf der Picknickdecke in der klaren Bergluft des Schweizer Jura, unweit von Saint-Imier, war nicht mehr zu denken. In romantischen Bergfilmen müssen sie den Kuhglockenpegel heruntergefahren haben. Ein Maulwurf warf ab und an dicht neben der Decke ein wenig Erde auf. Die Zeit verrann. Der Hügel neben der Decke wuchs. Glockenscheppern.

»Normalerweise ist hier ja nichts los, wissen Sie. Wir freuen uns über so viel Aufmerksamkeit«, erklärt eine alte Dame aus Saint-Imier später auf dem Marktplatz des Städtchens ihr Verhältnis zu den mehr als 3000 Besuchern des anarchistischen Treffens. Nasenringe, Punkfrisuren, schwarz gekleidete junge Leute, bärtige Mittfünfziger mit schlabberigen T-Shirts, Menschen aus anderen Ländern. Nein, das verunsichere sie gar nicht. »Jeder hat das Recht zu denken, was er will«, unterstrich sie noch einmal und strahlte übers ganze Gesicht. »Wir sind tolerant.« Vielleicht nicht nur das. Die Boulangerie in der Rue Francillon macht drei Mal so viel Umsatz wie sonst, erklärte Frau Leuenberg. »Keine Probleme, sehr nette Leute. Und interessante Gespräche.«

Fünf Tage lang standen Debatten und Kultur auf dem Plan. Auf bis zu 5000 zusätzliche Besucher schätzte eine Angestellte der Touristeninformation die Gästezahlen. Das große Interesse erklärten sich die Anarchisten Emma und Gerd vom Forum deutschsprachiger AnarchistInnen (FdA) mit der Krisendiskussion, aktiver Werbung und der Occupy-Bewegung, die für sie auch als Türöffner fungiere. »Über Occupy ist sehr viel berichtet worden. Viele Menschen haben in diesem Zusammenhang erstmals etwas von Konsensprinzip oder Selbstorganisation gehört. Das macht es uns leichter.«

Die kurdische Befreiungsbewegung und die anarchistische Idee, freie Schulen in Brasilien und Chile, Sport und Anarchismus, neue und alte Kinofilme - das vorbereitete Programm mit vielen Parallelveranstaltungen platzte aus allen Nähten. Leider versanken auch ganze Veranstaltungen im babylonischen Sprachengewirr. In der Eishalle fand zudem eine Buchmesse statt. Wer wollte, konnte Konzerte von Punk bis Chanson hören oder die eigenen Stimmbänder zu französischen oder italienischen Kampfliedern bemühen. Auf einer Infotafel wurden Aktionen angekündigt. Und ein bisschen »Hippiening« auf Grünflächen und Bürgersteig durfte auch sein. Mehrere in Saint-Imier verteilte Großküchen sorgten gegen Spenden mit fleischloser Biokost für das leibliche Wohl.

Um 1800 war Saint-Imier noch ein Bauerndorf mit vielen Uhrmacherwerkstätten, das während der Industrialisierung schnell größer wurde. Marken wie Breitling und Léonidas gingen aus den Werkstätten hervor. Am 15. September 1872 fand im Hotel Central in Saint-Imier die Gründung der Antiautoritären Internationalen statt. Die Jura-Sektion der Ersten Internationale, hervorgegangen aus lokalen Uhrmanufakturen, war maßgeblich an dieser Neugründung beteiligt. Vorausgegangen war diesem Ereignis ein Richtungsstreit mit Karl Marx und seinen Anhängern. Am Ende dieses Zerwürfnisses war der russische Mathematiker und Berufsrevolutionär Michail Bakunin, Sohn eines russischen Landadeligen, ausgeschlossen worden.

Damals drehten sich die Debatten um die Frage der Autonomie lokaler Sektionen und das Verhältnis zu Parteien und Parlamenten. Auch 140 Jahre später stehen Autonomie, Antiparlamentarismus, Herrschaftsfreiheit und Vielfalt im Fokus anarchistischer Bestrebungen.

Kein einziger Polizist in Uniform ist in Saint-Imier zu sehen. »Das ist das Ergebnis von 25 Jahren Arbeit des Espace Noir«, sagte John vom Organisationskomitee. Im Kollektiv dieses selbstverwalteten Kulturzentrums mit Konzertraum, Buchhandlung und Bar sei vor zwei Jahren die Idee zu dem erneuten Meeting entstanden, erläuterte der 29-Jährige im Raum des Komitees. Dort ging es zu wie in einem Bienenstock. Über 80 Presseanmeldungen habe es gegeben, die 15 Komiteemitglieder, zuständig etwa für Essensversorgung und Kinderbetreuung, hatten alle Hände voll zu tun. »Wir wussten, dass viele Leute spontan sind und sich nicht vorher anmelden. Für mehr als 2000 Menschen war ein Campingplatz reserviert. Zu wenig. Wir mussten bei Bauern wegen zusätzlichen Plätzen anfragen.« Manche Besucher interessierte das nicht, aber die wilden Campingplätze blieben unbehelligt.

John, der Presseverantwortliche des Treffens, versteht unter Anarchismus keine »blinde Revolte«. Man müsse das, was man will, sofort tun, aber eingebunden in eine längerfristige Vision oder Struktur, erklärte er. Und wenn nun aber jene kommen, die das anders sehen? Oder manche einfach feiern wollen? »Das Dosenbier ist nicht besonders reflektiert«, meinte ein Besucher auf der Buchmesse. Ebenfalls nicht reflektiert fanden einige Tierrechtsaktivisten die Tatsache, dass hinter dem »Espace Noir« Fleisch gegrillt wird. Am Samstag schütteten sie kurzerhand Wasser auf den Grill. Bei einem Runden Tisch traf eine Torte den Mitorganisator Aristide Pedraza, der früher als Polizeiberater gearbeitet haben soll. Und nachdem Freitagnacht ein Betrunkener auf einem Campingplatz ins Lagerfeuer fiel, seine Freundin schlug und so herumpöbelte, dass selbst die Ambulanz sich weigerte, ihn mitzunehmen, stellte sich die Frage, ob dafür dann doch die Polizei nötig sei oder das Problem selbstorganisiert gelöst werden kann. Nach langem Hin und Her wurde der Mann schließlich kollektiv dazu bewegt, das Camp zu verlassen. »Wachen wurden organisiert, damit er niemanden mehr bedroht«, so Augenzeugen.

Am Samstag wurde beim Runden Tisch der Anarchafeministinnen kritisiert, dass es zu viele patriarchale Verhaltensweisen auf dem Treffen gebe. Ein Flyertext wurde diskutiert und ein Handzeichen kreiert. Später sollte das überall bekannt gemacht werden, um Teilnehmende zu sensibilisieren. Zwei Frauen intervenierten, dass sie in der Nacht zuvor mit dem Betrunkenen konfrontiert waren, nicht genug Unterstützung erhielten, und fragten, was das mit Genderaspekten zu habe. Eine wilde Diskussion entspann sich: Soll man Alkohol verbieten? Die Polizei holen? Sich nach anarchistischem Verständnis nicht besser selbstorganisieren? Soll man eingreifen, wenn eine Frau geschlagen wird, auch wenn sie selbst sagt, sie habe die Situation im Griff? Weshalb gibt es auf dem Programmflyer keinen Anlaufpunkt für Menschen, die sich diskriminiert fühlen, Übergriffe thematisieren wollen, keine »Awareness-Gruppe«, die auch selbst aktiv für ein respektvolles Miteinander sorgt?

»Weshalb gibt es keine tägliche Vollversammlung, um gemeinsam zu besprechen, wie wir hier selbstverwaltet zusammenleben wollen?«, fragte eine Frau in die Runde. Das Komitee hat einige Dinge offensichtlich komplett verbaselt. Zu zentralisiert sei das alles. Statt angekündigter Freiwilligentreffen seien Leute einfach in Listen eingetragen worden.

Herrschaftsfreies Leben? Autonomie? Wer das will, muss es ausprobieren. Eine Frau in der Feministinnenrunde sagte: »Wenn wir für alle offen sein wollen, sind wir auch mit allem konfrontiert.« Und nicht vorbereitet. Mit »Vielfalt gleichberechtigt umgehen wollen«, wie es die 30-jährige Emma vom (FdA) formulierte, sei eben keine leichte Übung, wenn ringsum anders gelebt werde. Der Wille allein macht keine »besseren« Menschen. Also sprossen in Saint-Imier erst einmal an Wänden, Schildern und Türen Ankündigungen für einen Workshop mit dem Titel: »Revolution starts at home«, die Revolution beginnt zu Hause. Oder wie hier in Saint-Imier: vor dem eigenen Zelt.

 


 

Hintergrund

 

Keine Macht für niemand

Zurück zu den Anfängen: 1872 wurde im Schweizer Städtchen Saint-Imier die Antiautoritäre Internationale gegründet. 140 Jahre später versammelten sich in dem 4000-Seelen-Städtchen fast annähernd so viele Anarchisten wie Einwohner. Seit dem internationalen Treffen in Venedig 1984 gab es keine anarchistische Zusammenkunft in dieser Größenordnung.

Ausgangspunkt für die Antiautoritäre Internationale waren Dissonanzen innerhalb der 1864 in London gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), insbesondere zwischen Karl Marx und Michail Bakunin. Während Marx für eine Organisation der noch zu bildenden Arbeiterparteien in den Einzelstaaten unter zentralistischer Führung der Internationalen eintrat, war Bakunin gemäß den Vorstellungen des Anarchismus für strikte Herrschaftslosigkeit und gegen jegliche Form von zentraler Führung durch irgendeine Partei oder Klasse.

Die IAA bildete in La Chaux-de-Fonds, Le Locle, Saint-Imier und im Rest des Schweizer Juras sehr schnell Sektionen. Viele ihrer Mitglieder waren noch immer Heimarbeiterinnen und -arbeiter. Sie waren belesen und strebten nach Unabhängigkeit. Als 1869 Bakunin in die Region kam, blieben seine Begegnungen nicht folgenlos. Die übereinstimmenden Ideen, die die Arbeiterinnen und Arbeiter entdeckten, machten aus der Fédération Jurassienne den libertären Pol der IAA, der sich der marxistischen Tendenz widersetzte und schließlich in die Gründung der Antiautoritären Internationale mündete.

Grob lässt sich der Anarchismus in zwei Richtungen unterteilen - den destruktiven und den konstruktiven. Ersterer geht den Gegner direkt und frontal an, letzterer versucht, ihn zu zermürben und überflüssig zu machen. Das Treffen in Saint-Imier bekennt sich strikt zu Gewaltlosigkeit.

Neben den beiden »Grobrichtungen« hat der Anarchosyndikalismus historisch einen hohen Stellenwert. In Spanien gelang es während des Bürgerkriegs im Sommer 1936, mit Hilfe der anarchistischen Gewerkschaften in Teilen des Landes eine freie Gesellschaft mit libertärer Wirtschaft aufzubauen.

In Saint-Imier wurden nun nach 140 Jahren Bilanz gezogen und Perspektiven entwickelt. ML

Lektüre: Horst Stowasser:

Anarchie! Idee - Geschichte - Perspektive; Edition Nautilus