Der Landesstreik 1918 als Beginn der Befriedung

Landesstreik in Zürich 1918

In der syndikalistischen Mythologie wird der Landesstreik von 1918 als Aufbäumen des helvetischen Proletariats betrachtet. Doch in Tat und Wahrheit stellt er den Beginn der Aneignung desselben durch den Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) dar. Indem den wilden Streiks der Vorkriegszeit ein Ende gesetzt wurde, bedeutet er den Beginn der Integration der Schweizer Arbeiter, der mit dem 1937 signierten Arbeitsfrieden vollendet wurde. In Genf behielt die Föderation der Holz- und Bauarbeiter (FOBB) einen radikalen Diskurs bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, tendierte allerdings immer mehr zu einer reformistischen Praxis.

 

Vor dem Ersten Weltkrieg war die politische Landschaft der Westschweiz von einer starken anarchistischen Präsenz geprägt. Die Gründung der jurassischen Föderation 1870 und der anti-autoritären Internationalen 1872 sind in dieser Hinsicht Ereignisse, die bekannt sein dürften. Etliche wichtige Persönlichkeiten des internationalen Anarchismus' machten Halt in der Schweiz, z.B. Bakunin, Kropotkin, Malatesta und viele andere. Ein Bericht der Schweizer Staatsanwaltschaft erwähnte 1885 anarchistische Gruppen in Zürich, Zug, Lausanne, Vevey, Genf, Basel, St. Gallen, Winterthur, Luzern und Rorschach. Die Arbeiter der Uhrenindustrie in der Westschweiz waren bekannt für ihre kämpferische Haltung. Im Jahre 1889 wurde die Föderation der Arbeiterunionen der Westschweiz (FUOSR) gegründet, sie vereinte 25 autonome Gewerkschaften. Mehr als 200 wilde Streiks ereigneten sich in der Westschweiz zwischen 1890 und 1915 und Ausschreitungen während 1.-Mai-Kundgebungen kamen weit häufiger vor als heute.

Im Juni 1898 standen 5000 Bauarbeiter, die wild streikten, zwei Bataillonen von Soldaten in Genf gegenüber. Die beiden verhafteten Anarchisten wurden 1901 begnadigt dank der Drohung, wieder einen wilden Streik zu lancieren. Im August 1900 führte ein wilder Streik der Baubranche in Lausanne zur Gründung der ersten „gemischten Gewerkschaft“, die Arbeiter aus verschiedenen Sektoren vereinte. Der erste Generalstreik in der Geschichte der Schweiz ereignete sich 1902 in Genf, 15'000 Streikende standen 3'500 Soldaten gegenüber. Die Gefangenen wurden erneut unter der Drohung, wieder in den Streik zu treten, 1903 frei gelassen. Gewerkschaften, die der FUOSR angehörten, existierten 1905 in Genf, Lausanne, Vevey, Nyon, Peseux, Sitten, Montreux, Freiburg, Neuenburg und Serrières. Drei Jahre später erlebte die FUOSR ihren Höhepunkt mit rund 80 Gewerkschaften, in welchen etwa 7'000 Arbeiter organisiert waren, mehrheitlich vom Bausektor und Typographen.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund, der 1880 gegründet worden war und mit der 1888 gegründeten Sozialdemokratischen Partei Schweiz (SPS) verbunden war, war zu dieser Zeit relativ bedeutungslos, sie hatte etwas mehr als zehn Sektionen. Während eines internationalen Treffens in Genf 1898 suchten Sozialdemokraten aus der Schweiz, Frankreich, Russland und Italien nach Lösungen für das Problem der anti-autoritären Konkurrenz. In der Schweiz dauerte es jedoch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, bis das Proletariat unter Vormundschaft gestellt wurde.

Während des Ersten Weltkrieges sank der Reallohn aufgrund einer starken Inflation beträchtlich. In Genf war die Inflation noch stärker als im Rest der Schweiz und der Reallohn sank um 25 bis 30% zwischen 1914 und 1918 (1). Der Bauernklasse gelang es, von dieser Situation zu profitieren: Das bäuerliche Einkommen stieg während des Krieges dank eines Engpasses auf dem Markt, der durch die Weigerung, die Produktion zu vergrössern, verstärkt wurde (2). Der Milchpreis stieg von 27 Rappen pro Liter auf 40 Rappen pro Liter am 3. April 1918, Arbeiterproteste schafften es, einen Kompromiss von 36 Rappen pro Liter zu erzwingen. Es ist also kaum erstaunlich, dass sich die Bauern als wichtigste „Verteidiger des Vaterlandes“ darstellten und dass sie häufig in den Bürgerwehren, die Streikende angriffen, vertreten waren. Und die Bauern kaschierten ihr Klassenbündnis mit dem Bürgertum überhaupt nicht, ganz im Gegenteil, der Anführer des Schweizer Bauernbundes sagte zum Beispiel 1918: „Die bürgerlichen Milieus in den Städten werden schnell erkennen, dass die Bauernparteien keine Gegner, sondern ein Schutz und ein Festungswall gegen die sozialistische Flut und die exklusiv materialistische Politik sind.“ (3)

Die Spannungen am Ende des Ersten Weltkrieges waren also spürbar. Die Forderung des Acht-Stunden-Tages verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den gewerkschaftlichen Milieus, dies war beispielsweise die Forderung, welche die Zürcher Ausschreitungen von November 1917 begleitete. Die hellsichtigsten Bürgerlichen unterstützten die reformistischen Forderungen, womit sie hofften, den kollaborationistischen Flügel der Arbeiterbewegung zu stärken und die Ordnung zu retten. Die durch das fordistische System möglich gemachten Rationalisierungen erleichterten den philanthropischen Bourgeois die Abtretung eines Teiles des Mehrwerts im Interesse der Stabilität und ab Mitte der 1920er Jahre begannen gar die reformistischen Gewerkschaften, an ihre „Sozialpartner“ anzuknüpfen, indem sie den Fordismus priesen.

Somit nützte der Streik von 1918 vor allem dem SGB, der eine komplett künstliche Kampfbereitschaft zeigen konnte. Am Samstag 9. November begannen 19 Schweizer Städte zu streiken, um gegen die Besatzung von Zürich durch die Schweizer Armee zu protestieren. In der Westschweiz wurde der Streik nur von wenigen Sektoren befolgt, zum Beispiel vom Zug- und Trampersonal in Genf und Lausanne. Am 13. November 1918 sprach der Bundesrat ein Ultimatum aus, das an das Komitee von Olten gerichtet war, das vom SGB kontrollierte Komitee, das den Streik anführte. Es gab sofort nach, indem es die Wiederaufnahme der Arbeit für den 14. November versprach, der Tag, an welchem drei Arbeiter in Grenchen durch die Armee ermordet wurden. Das einzig greifbare Resultat dieses Streiks war also ein vages Versprechen der Schweizer Bourgeoisie, den Acht-Stunden-Tag einzuführen. Ein solches Gesetz wurde 1920 auch tatsächlich angenommen, doch mit der kommenden Rezession der folgenden Jahre und etlichen Sonderklauseln war seine Wirkung sehr begrenzt. Sogar Bernard Degen, ein Historiker, der gegenüber dem SGB nicht übermässig kritisch eingestellt ist, muss eingestehen, dass nur eine Minderheit der Arbeiter die 48-Stunden-Woche kannte (4). Für den SGB hingegen war der Streik ein gutes Geschäft, seine Mitgliederzahl stieg von 88'628 1916 auf 223'572 1920 (5).

Das industrielle Bürgertum konnte sich also darüber freuen, der Agitation der Arbeiter in Vorkriegszeiten ein Ende gesetzt zu haben, indem es ein paar Brosamen abtrat. Zudem stellt diese Zeit auch den Beginn des Klassenbündnisses zwischen ihr und den Bauern dar. Der SGB entledigte sich langsam seines bolschewistischen Flügels, ein Prozess, der 1927 mit der Streichung des Klassenkampfes aus den Statuten abgeschlossen war. In Genf begann sogar der Réveil, die von Luigi Bertoni herausgegebene Zeitung, den Entrismus zu preisen: „Nach einigen Aufschüben aktivierte die Gruppe des Réveils seine „entristische“ Doktrin hinsichtlich den Gewerkschaften in den 1920er Jahren. Das Ziel war es, der Strategie einer Organisation als Ganzes eine neue Richtung zu geben, nachdem man auf die Orientierung von einer ihrer Strömungen Druck machte. Das gewerkschaftliche Dispositiv sollte auf der Ebene seiner Machtstrukturen so locker und autonom wie möglich bleiben, jenseits jeglicher vertikaler Hierarchisierung.“ (6)

Zumindest Bertoni war sich des reformistischen Charakters des Syndikalismus' bewusst: „Es gibt nichts natürlicheres für einen Anarchisten als zu versuchen, der gewerkschaftlichen Aktion seinen Geist einzuhauchen; aber diese ist ihrem Wesen nach natürlicherweise reformistisch, sogar wenn sie auf andere Weise als mit legalen Mitteln betrieben wird.“ (7) Obwohl sie in den SGB eingetreten war, behielt die 1922 gegründete FOBB, in welcher sich der Freund und Mitarbeiter Bertonis Lucien Tronchet engagierte, die Selbstverwaltung als Ziel in ihren Statuten. Ein wilder und gewalttätiger Streik führte am 18. Mai 1928 in Genf zum ersten Gesamtarbeitsvertrag (GAV) in der Westschweiz während den 1920er Jahren. Innerhalb der Genfer FOBB wurde 1928 die Aktionsliga der Bauarbeiter (LAB) gegründet, um die Respektierung desselben zu kontrollieren. Je nach Phase zählte sie zwischen 30 und 50 Aktivisten. Ihre Aktionen bestanden darin, Baustellen von Bossen zu verwüsten, welche den GAV nicht respektierten, und Arbeiter daran zu hindern mehr als die von diesem festgelegten 48 Stunden zu arbeiten.

Obwohl die Aktionen der LAB in ihrer Form sehr radikal waren, waren sie es inhaltlich weniger. Sie begnügte sich weitgehend damit, über die Respektierung des GAV zu wachen und war „eine Art Arbeiterpolizei“ (8). Sogar der Travail, die Zeitung der SP, verteidigte eine ihrer Aktionen im Dezember 1930. Zudem engagierten sich Mitglieder der LAB während der Wirtschaftskrise im Arbeitslosenkomitee, eine Organisation der gegenseitigen Hilfe – oder eine Art selbstverwaltete Arbeitslosenkasse – um das „Recht auf Arbeit“ zusammen mit der gesamten Genfer Politlinken, von den gemässigten Sozialdemokraten über die Nicolisten bis hin zu den Kommunisten, zu verteidigen. Lucien Tronchet, unbestrittener „Führer“ (9) der LAB, wurde 1935 Funktionär der FOBB und somit des SGB.


Diese kontinuierliche Integration des radikalsten Flügels des Genfer Syndikalismus' wurde 1936 mit dem Douboule-Gesetz vollendet. Dieses Gesetz sah eine korporatistische Durchsetzung der GAV vor im Austausch für einen Streikverzicht. Die FOBB gewann ihre letzte Schlacht, indem sie das Gesetz 1938 vor Bundesgericht zu Fall brachte. Nur hatte schon der 1937 geschlossene Arbeitsfrieden diese Schlacht zur Anekdote verkommen lassen. Die Funktionäre der SGB und die Bosse waren von nun an „Sozialpartner“ und die SP erhielt ihren Teil des Kuchens in Form eines Bundesratssitzes als Belohnung für die Fähigkeit, das Proletariat kontrolliert zu haben. Lucien Tronchet schloss sich ihr schliesslich 1945 an.

Trotz dem radikalen Charakter der Aktionen der LAB muss also festgestellt werden, dass diese nur ein bleiche Neuauflage des Vorkriegsradikalismus' darstellte. Während Bertoni immer die CGT-These von der gewerkschaftlichen Selbstgenügsamkeit bekämpfte, wurde Tronchet am Schluss zu einem reinen Syndikalisten. Der Genfer Syndikalismus wurde somit integriert wie sonst überall auch, während die Gruppe um den Réveil gezwungen war, zu Kriegsbeginn in die Klandestinität zu gehen. Dieser offene Korporatismus während des Krieges ist der Keim des Wohlfahrtsstaates, wie man ihn nach dem Krieg kannte. Die Versicherungsvereine der Gewerkschaften zeigten den Bürgerlichen, wie das Proletariat gut zu verwalten war. Und die Gesamtarbeitsverträge würden endlich respektiert werden: „Was sind die Kontrollkommissionen anderes als eine legalisierte und anerkannte Version der Aktionsligen?“ (10)

(1) M. Cerutti, Le mouvement ouvrier genevois durant la première guerre mondiale et la grève générale, S. 111 in : M. Vuilleumier (et. al.), La grève générale de 1918 en Suisse, 1977, S. 103-210.


(2) B. Chevalley, L’attitude des organisations paysannes : l’Union suisse des paysans et la Société d’agriculture du canton de Zurich, S. 224 in : M. Vuilleumiet, op. cit., S. 211-254.


(3) Zitiert in ebd., S. 240.


(4) B. Degen, Abschied vom Klassenkampf, 1991, S. 284.


(5) Ebd., S. 291.


(6) A. Elsig, La ligue d’action du bâtiment (1929 - vers 1935), 2009, S. 36.


(7) Ebd., S. 40.


(8) Ebd., S. 96.


(9) Ebd., S. 85.


(10) Ebd., S. 172.

Mehr dazu:


G. Bottinelli, Luigi Bertoni, la cohérence d’un anarchiste (übersetzt aus dem Italienischen von M. Enckell und A. Perrinjacquet), Genf, Entremonde, noch nicht erschienen.


B. Degen, Abschied vom Klassenkampf. Die partielle Integration der schweizerischen Gewerkschaftsbewegung zwischen Landesstreik und Weltwirtschaftskrise (1918-1929), Basel/Frankfurt a.M., Helbing & Lichtenhahn, 1991.


A. Elsig, La ligue d’action du bâtiment (1929 - vers 1935), Fribourg, unveröffentliche Masterarbeit, 2009.


H.-U. Jost (et al.), Cent ans de police politique en Suisse (1889-1989), Lausanne, Editions d’en-bas, 1992.


M. Vuilleumier (et. al.), La grève générale de 1918 en Suisse, Genf, Editions Grounauer, 1977.

 

Übersetzt aus dem Französischen von Le Réveil.

 

Quelle