Staatsschutz: Vom Pausenplatz direkt zum Geheimdienst

Erstveröffentlicht: 
01.09.2011

Vom Pausenplatz direkt zum Geheimdienst  Von Dinu Gautier

 

Der Mann war ein Spitzel für den Genfer Staatsschutz sowie für den Schweizer Inland­geheimdienst. Er infiltrierte keine Zelle mutmasslicher Terroristen – sondern die globalisierungskritische Organisation Attac in Genf. Von dort aus sollte er Kontakte zu «radikaleren» Gruppen aufbauen.

 

Treffpunkt: Hauptbahnhof Genf. Es ist ein heisser Tag. Der ehemalige Spitzel, nennen wir ihn Lorenz, ist ein schlaksiger Mann. Er trägt kurze Hosen, etwas strubbelige Haare, ein Bärtchen.

 

«Es war am Ende meiner Zeit am Gymnasium, im Sommer 2005. Eine Schulkollegin fragte mich, ob ich Lust hätte, als Informant der Polizei in der linksextremen Szene zu arbeiten», sagt Lorenz. Daraufhin traf der damals Neunzehnjährige einen Mitarbeiter der «Cellule renseignements», wie der Genfer Staatsschutz heisst. Die Cellule arbeitete eng mit der Zentrale des damaligen Inlandgeheimdienstes «Dienst für Analyse und Prävention DAP» zusammen (heute: Nachrichtendienst des Bundes NDB).

 

Wie der Nachrichtendienstler heisst, der damals in der Cellule eine leitende Funktion innegehabt habe, will Lorenz nicht verraten. Es gehe ihm nicht darum, einen «Krieg mit der Polizei anzuzetteln». Überhaupt habe er mit dem Mann eine schon fast freundschaftliche Beziehung gehabt. Er nennt ihn Philippe.

 

Das erste Treffen: «Es war ein bisschen wie im Film. Wir drehten Runde um Runde in seinem Auto», erinnert sich Lorenz. Ihm sei gesagt worden, er solle bei Attac Genf mitarbeiten. Dann habe ihm Philippe ein Handy überreicht – damit sollten sie Kontakt halten. Fortan hätten sie sich alle zwei, drei Wochen in Cafés getroffen.

 

Die erste Mission

 

Lorenz merkte schon bald, dass Attac nicht das eigentliche Ziel der Infiltrationsmission war. «Es ging vor allem darum, Informationen zu Demonstrationen zu beschaffen.» Attac als «offene» Organisation sei ein Mittel zum Zweck gewesen, sagt Lorenz. «Ich sollte für Attac an Komiteesitzungen teilnehmen, um mich nach und nach radikaleren Gruppen anzunähern.»

 

Seine erste «Mission» war eine Demonstration im Oktober 2005 gegen die Welthandelsorganisation WTO in Genf. Über hundert Organisationen aus dem In- und Ausland riefen dazu auf. Lorenz nahm an den Vorbereitungssitzungen teil. Auch an der Demo selber sei er per Handy in direktem Kontakt mit der Polizei gestanden. «Sie wollten wissen, was im Innern der Demo geschieht – etwa, ob sich Leute vermummen.»

 

Zwischenfälle gab es übrigens keine. Protokolle der Demovorbereitungssitzungen sind noch heute offen im Internet einsehbar.

 

Lorenz verabschiedete sich daraufhin für längere Zeit in die Rekrutenschule und in die Ferien. Im September 2006 war er zurück. Philippe stellte ihm eine neue Kontaktperson vor: Marc aus der Zentrale des DAP in Bern. Ein Romand, ziemlich alt. Er sollte Philippe mit der Zeit komplett ablösen. Philippe sei innerhalb der Genfer Polizei in eine andere Sektion berufen worden. Auch Marc habe ihm ein Handy gegeben, sagt Lorenz.

 

Der Nachrichtendienst setzte Lorenz nun auf die Mobilisierungen gegen das Weltwirtschaftsforum in Davos und den G8-Gipfel im deutschen Heiligendamm an. Lorenz erinnert sich an zwei Organisationen, die den Nachrichtendienst besonders interessierten: der Revolutionäre Aufbau aus Zürich und das autonome G8-Mobilisierungsnetzwerk «Dissent!». Verbindungen zu «Dissent!» hatte etwa der bekannte Genfer Aktivist Olivier de Marcellus. «Solltest du die Chance haben, dich ihm zu nähern: Er interessiert uns», habe ihm Philippe gesagt, so Lorenz. Er habe zwar ein- oder zweimal mit de Marcellus gesprochen. Eine eigentliche Annäherung habe sich aber nicht ergeben. Dafür nahm Lorenz im Dezember 2006 an einem Infotreffen des «Dissent!»-Netzwerkes im Espace Autogéré von Lausanne teil.

 

Noch mehr Spitzel

 

Ebenfalls gegen Ende 2006 reiste Lorenz nach Bern an eine Sitzung zur Vorbereitung von Aktionen in Davos. An den Inhalt der Sitzung in der Reitschule mag er sich nicht mehr erinnern. «Ich verstand ja auch kaum Schweizerdeutsch.» Geblieben ist ihm allerdings, dass er endlich einem Vertreter des Revolutionären Aufbaus begegnet ist. Anwesend sei auch eine Person gewesen, die ihm vom Nachrichtendienst anhand äusserlicher Merkmale vorgängig beschrieben worden sei: «Sie sagten mir: ‹Der ist bereit, Gewalt anzuwenden – sicher gegen Sachen, vielleicht sogar gegen Menschen.›»

 

Lorenz ist sich sicher, dass es neben ihm andere Spitzel gegeben haben muss. «Sie zeigten mir Protokolle von Sitzungen und Sitzungseinladungen, an die der Nachrichtendienst sonst nicht hätte kommen können.» Beweisen könne er das aber nicht.

 

In der Clownarmee

 

Seine nächste Mission brachte Lorenz zunächst nach Zürich. Die GSoA hatte per E-Mail-Verteiler dazu aufgerufen, als Clowns in Armeeuniform verkleidet in Davos für Irritationen zu sorgen. Am 26. Januar 2007 nahm Lorenz im besetzten Haus «Kalkbreite» in Zürich an einer Vorbereitungssitzung teil. Eine damals anwesende Person erinnert sich an ihn: «Ich dachte: ‹Wow, cool, es kommt sogar jemand aus Genf.›»

 

Lorenz brachte am Treffen in Erfahrung, dass sich die so genannte Clownarmee tags darauf in Davos nicht an die bewilligte Demonstrationsroute halten, sondern direkt vor den Luxushotels für Klamauk sorgen wolle. Er meldete dies pflichtbewusst dem DAP-Agenten Marc. Trotz dessen Angebot, in einem Hotel zu übernachten, verbrachte Lorenz die Nacht mit Akti­vistInnen. Am nächsten Tag machte der Spitzel in Diensten der Clown­armee Davos unsicher.

 

Im Sommer 2007 reiste der Informant mit mehreren Hundert Menschen aus der ganzen Schweiz mit einem Sonderzug nach Rostock. Es sollte seine letzte Mission werden. Lorenz übernachtete im grossen Zeltlager der G8-GegnerInnen. Agent Marc sei auch in Rostock gewesen – allerdings im Hotel. «Ich habe mich zweimal mit ihm getroffen», was aber nicht einfach gewesen sei, habe er doch Ausreden erfinden müssen, damit seine KollegInnen von Attac nicht misstrauisch würden. «Überhaupt: Ich konnte ihm wenig Interessantes erzählen. Und allzu motiviert war ich auch nicht mehr.»

 

In Rostock scheint sich zu dem Zeitpunkt eine Art Internationale der Geheimdienste eingefunden zu haben: «Franzosen waren da, die Schweizer waren da, usw. Jeder hatte seine Informanten», sagt Lorenz. Er selber habe aber nur Marc getroffen.

 

Agent Provocateur

 

Ein solcher Informant ist Anfang dieses Jahres aufgeflogen: Der englische Polizist Mark Kennedy, der in England, Deutschland und anderen Ländern während mindestens sieben Jahren linke Gruppen infiltriert hatte. Am G8-Gipfel in Heiligendamm war er an Blockaden beteiligt. Ein Agent Provocateur. Das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern habe ausdrücklich um den Einsatz eines britischen Undercover-Agenten gebeten, so «Spiegel Online».

 

«Ich war dagegen nur ein kleiner Fisch», sagt Lorenz. Und als «kleiner Fisch» erhielt er für drei Tage Einsatz in Rostock 2500 Franken. «Insgesamt habe ich vielleicht 10 000 Franken verdient.» Das Geld sei ihm jeweils bar ausgehändigt worden.

 

Mit der Zeit habe ihn gestört, dass er Informationen habe liefern müssen, dass seine Kontaktpersonen im Gegenzug aber kaum etwas verraten hätten. Abgesehen davon habe man ihn nie für seine Mission ausgebildet. «Sie sagten mir auch nicht, was für Grenzen ich beachten müsse, gaben mir kaum Tipps.»

 

Und so beendete Lorenz seine Karriere als Spitzel und widmete sich fortan ganz seinem Politologiestudium. Er, der sich als Linken bezeichnet («nahe der SP und der Grünen») mag die Geheimdienstarbeit nicht grundsätzlich hinterfragen. Selber will er aber einen Schlussstrich unter dieses Kapitel ziehen. «Deshalb habe ich mich bei Attac gemeldet. Ich will nicht wie Günter Grass jahrzehntelang ein Geheimnis mit mir herumschleppen.» Sein Gesicht und seinen Namen will er trotzdem nicht in der Zeitung sehen. «Ich möchte auch mal als ganz normaler Besucher ein Fest in der Reitschule besuchen können», sagt er.

 

Und was meinen die Bespitzelten? Alessandro Pelizzari von Attac Genf: «Wir haben den Anspruch, eine offene Organisation zu sein. Also haben wir ihn auch mit offenen Armen aufgenommen.» Dass die Gruppe unterwandert wurde, überrascht Pelizzari nicht. «Aber es überrascht mich, dass er es war. Wir waren ihm gegenüber nie misstrauisch.» Wütend sei er nicht. «Aber es nervt mich, dass wir damals so naiv und blauäugig waren.» Dass demokratische Ausdrucksformen durch den Staat eingeschränkt würden, erlebe er als Gewerkschafter in Genf übrigens dauernd, sagt Pelizzari.

 

Andreas Cassee von der GSoA bezeichnet den Spitzeleinsatz als «Angriff auf die demokratische Kultur». Es sei wichtig, sich offen und basisdemokratisch organisieren zu können. «Will der Staatsschutz Misstrauen säen? Will er, dass sich Gruppen abschotten?»

Derweilen möchte der Nachrichtendienst des Bundes – wenig überraschend – den «Sachverhalt weder bestätigen noch dementieren». Grundsätzlich beantworte der NDB keine Anfragen zu «vermuteten operationellen Tätigkeiten».

 

In Genf wird hingegen dementiert: «Die Genfer Polizei hat keine ‹Infiltration› der Gruppe Attac durchgeführt. Es gibt mit Blick auf die Gesetze zur Inneren Sicherheit für unseren Dienst keinen Grund, diese Organisation zu überwachen.»

 

So bleiben unter anderem folgende Fragen offen: Wieso wurden mit Attac und der GSoA Gruppen anvisiert, die offenkundig keine Bedrohung für die Innere Sicherheit darstellen? Auf welcher Gesetzesgrundlage fand das Ganze überhaupt statt? Wusste Deutschland vom Einsatz in Heiligendamm? Und wieso rekrutiert der Staatsschutz Jugendliche auf dem Pausenhof?